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Die Gartenlaube (1897)/Heft 18

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[293]

Nr. 18.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Trotzige Herzen.
Roman von W. Heimburg.

(17. Fortsetzung.)


Bei Frau Rat war bös Wetter; heute ist der Donnerstag, der Tag, an dem ein für allemal Doktor Lehmann der Abendgast ist, und den hatte Aenne vergessen können! Die Frau Rat, die aus Aennes Verhalten gegen den Doktor bisher durchaus nicht weder für noch gegen ihn herauszulesen vermocht hatte, mußte diese Nichtachtung durchweg als schlechtes Zeichen auffassen und das Barometer ihrer Laune war rapid gefallen.

„Fange mir nur um Gotteswillen nicht wieder das Umherstrolchen in den Wäldern an! Du bist kein Backfisch mehr!“ So ward sie empfangen.

Aenne erwiderte: „Solange werde ich nicht wieder ausbleiben, aber meine Spaziergänge, die lasse ich mir nicht nehmen. Du weißt, Vater hielt immer so sehr darauf!“ Sie ward sehr rot, als sie das sagte, denn sie schämte sich ihrer Lüge und beeilte sich, durch doppelte Freundlichkeit alles wieder gutzumachen; sie war sogar heute gesprächig dem Doktor gegenüber, und Frau Rat war zu Mute wie einem Fisch, der vom trockenen Ufer wieder ins klare, kühle Wasser gelangt ist.

Man sprach über allerhand Alltagsdinge, wozu der Geruch der frisch abgenommenen Wäsche, der bis ins Eßzimmer gedrungen war, gut paßte. Es gab für die Damen Thee, den Frau Rat drei- bis viermal aufzubrühen pflegte, und für den Doktor goldklares


Hexenreiten in der Priegnitz.
Nach einer Originalzeichnung von H. Binde.

[294] schäumendes Bier, ferner Soleier, Radieschen und Mettwurst, und das stand alles auf blendend weißem Tischtuch, und die beiden alten Damen hatten so blendend weiße Häubchen, und das junge Mädchen heute so rosenrote Wangen und blitzende Augen, daß einem heiratslustigen jungen Doktor, der ja nach der Meinung aller älteren Damen durchaus eine Frau haben muß, da unverheiratete Aerzte zu genierlich sind – daß einem solchen wohl das Herz aufgehen konnte, zumal wenn er so viel Sinn für Gemütlichkeit und häusliches Leben hatte wie Doktor Lehmann. Geld besaß sie freilich nicht, aber sie war herzig, und er durfte ja immerhin ’mal ein nettes kleines Vermögen erwarten, er konnte sich den Luxus erlauben, aus Liebe zu heiraten. Der Alte würde brummen – na, schadete nichts, er mußte sich ja aussöhnen, wenn er das Mädchen sah!

„Sie waren doch heute auf dem Schloß?“ fragte Frau Rat. Er zuckte heute nicht die Schultern, sondern erwiderte. „Ja, ich war auf dem Schloß.“

„Bei Kerkow?“

„Ja, bei Kerkow.“

„Um den Jungen?“

„Um den Jungen.“

„Steht’s schlecht?“

Jetzt hielt er das Achselzucken für angebracht. „Na, prosit, Frau Medizinalrat!“ sagte er, sein Glas ergreifend.

„Prosit!“ nickte Frau Rat, ihn ein bißchen schief ansehend, und dachte: warte – später will ich dir das Achselzucken schon abgewöhnen! „Ich glaubte nur,“ fügte sie hinzu, „weil Sie so eilig geholt wurden.“

Das kleine Dienstmädchen erschien plötzlich und rief Frau Rätin hinaus; nach einem Weilchen wurde auch Tante Emilie hinaus beordert und dann hörte man draußen etwas wie Schelten und Jammern. Aenne saß derweil höflich bei ihrem Gast, der sie mit seinen runden dunklen Augen durch den Kneifer in stiller Bewunderung betrachtete.

„Wollen Sie mir nicht verraten, wie es dem armen Kleinen droben geht?“ fragte das junge Mädchen jetzt.

„Ach, Fräulein Aenne, das ist ein Trauerspiel,“ gab er zur Antwort, „der Junge macht mir schon genug Sorge, aber der Vater noch mehr.“

„Ist Herr von Kerkow krank?“ fragte Aenne scheinbar obenhin, aber das Herz klopfte ihr mächtig.

„Vollständige Abulie.“

„Was ist das?“

„Das ist eine Seelenkrankheit, Fräulein Aenne.“

Sie wechselte plötzlich die Farbe. „Wie äußert sich das Leiden?“ fragte sie.

„Das ist Willenlosigkeit in höchster Form, Gleichgültigkeit, Melancholie.“

„Um Gottes willen, so helfen Sie ihm doch, Herr Doktor!“ stieß sie hervor.

„Ich?“ Er lachte kurz auf. „Wissen Sie, der hört überhaupt nicht zu, wenn ich ihm etwas sage – da müssen andere Einflüsse kommen als der meine. In eine Nervenheilanstalt mit ihm und dort rücksichtslos ihm klar machen, was er für ein Jammermensch geworden ist, das wäre noch das einzige! Uebrigens, ein Wunder ist’s nicht! Sieben Jahre und mehr Schloßhauptmann von Breitenfels – der Teufel! Ich wäre schon früher übergeschnappt. Und dann alle die sauberen Geschichten nebenher, die davongelaufene Frau, das krüppelhafte Kind, und immer in den himmelhohen, einsamen Zimmern, um die der Wind heult und von denen man meilenweit in die Welt hinaussieht, in die Welt, in der es Arbeit, Lust und Kampf und, mit einem Worte, Leben giebt! Und hier festgeschmiedet sitzen als Nichtsthuer, bewußter Nichtsthuer, denn er weiß ja was diese Stellung bedeutet, und dazu Geist im Kopfe und Blut in den Adern! – – Na, jetzt ist’s zu spät, jetzt rappelt er sich nicht mehr allein heraus, und eine Hand, die ihm helfen könnte, hat er nicht. Neulich sagte ich ihm ’mal: „Zum Donnerwetter, Herr, werfen Sie doch dem Durchlauchtigsten seinen Schloßhauptmann’ vor die Füße, scheren Sie sich ins Leben hinaus, meinetwegen als Eisenbahnschaffner, und suchen Sie andere Eindrücke, sonst gehen Sie zu Grunde!’ Was meinen Sie, was er antwortete? Nichts antwortete er, sieht nur an mir vorüber auf das Kinderbett, als ob das unglückliche Kerlchen nicht irgendwo in einer Familie untergebracht werden könnte, zum Beispiel bei der verheirateten Schwester. Aber darin ist er so unvernünftig wie eine herzkranke Mutter. Na, mich hat er ja nicht konsultiert für seine Person, und ich trage keine Verantwortung! Und nun lassen wir das Thema, Fräulein Aenne, es paßt nicht hinein in diese Gemütlichkeit! – Sehen Sie doch nur, wie der Mond durch die Birnbaumzweige guckt und durchs Fenster glustert, so daß der Storm ein Gedicht’ darüber machen könnte, wenn er noch lebte! Und dann hier – wir beide am Eßtisch – so haben gewiß Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter zusammengesessen in dieser Stube, als sie jung verheiratet waren. Es ist einfach rührend, famos, und ich –“

In diesem Augenblick kam Frau Rat mit einer Glasschüssel, in welcher etwas Hellgelbes bibberte und zitterte, und hinter ihr Tante Emilie mit einem Kännchen voll Himbeersaft zurück, und Frau Rat entschuldigte sich mit riesigem Wortschwall wegen ihrer langen Abwesenheit; das erzdumme Mädchen habe vorwitzigerweise den Flammeri stürzen wollen, und natürlich sei er zusammengefallen. Sie sah dabei verstohlen vom Doktor, dessen Augen glänzten, zu Aenne hinüber, die stumm und blaß auf ihrem Stuhle saß. Jedenfalls – die Präliminarien einer Liebeserklärung waren erfolgt. Herrgott, wenn’s doch zum Abschluß käme, aber bald – bald!

Nach dem Essen ging man ein wenig im Garten umher. Frau Rat prüfte die kleinen grünen Früchte der Stachelbeersträucher und dachte, daß sie nächstens ein Kompott davon geben könne, mit Omelette, und der Doktor hielt sich neben Aenne und knüpfte allerlei drollige Betrachtungen an über die verwehten weißen Blütenblättchen der Obstbäume, die wie frisch gefallener Schnee auf den Wegen und dem Rasengrund lagen; Aenne hörte es kaum, sie sah nur immer Heinz vor sich. Frau Rat machte sich weit entfernt von ihnen im Garten etwas zu schaffen und ärgerte sich wütend über Tante Emilie, die den beiden jungen Leuten nachging und weder das Husten noch das Rufen der Rätin zu hören schien.

„Dummheit ist doch ’ne Gottesgabe,“ murmelte sie erbost, „sie stört möglicherweise gerad’ den Augenblick, wo das Kind sagen will: ’Sprechen Sie mit meiner Mutter!’ Sieht’s nicht gerade so aus? Er, der wie ein Buch redet, und sie mit gesenktem Kopf! O, du lieber Himmel, nun ist sie schon ganz in ihrer Nähe. – Emilie! Emilie!“ schrie sie mit voller Kraft, „komm’ doch ’mal eben her, ich sitze hier fest – mein Kleid sitzt fest an den Stachelbeeren!

Aber natürlich, ihr ging heute alles überquer – anstatt der alten Tante Emilie, die ja doch nicht mehr so laufen konnte, kam Aenne eilends daher, das Rot des Erschreckens auf dem Gesicht. „Was ist denn, Mütterchen?“

„Bin schon losgekommen,“ brummte die schwer enttäuschte Frau, „kannst wieder gehen.“

„Mutter,“ sagte das schöne Mädchen und preßte die Hand gegen ihre Schläfe, „unterhalte du deinen Freund ein wenig, ich habe Kopfweh und möchte hinaufgehen.“

Frau Rat wollte schon eine schmetternde Rede loslassen, des Inhalts, daß man sich beherrschen müsse, da sah sie das bleiche, leidende Antlitz der Tochter, das völlig verändert erschien.

„Na ja, das kommt vom Umherrennen draußen, hast dich wahrscheinlich nach deiner Gewohnheit stundenlang auf den feuchten Boden gesetzt. Geh’ nur, wenn’s schlimmer werden sollte – der Doktor ist ja im Hause!“

Tante Emilie und der Doktor, die eben den Gang herauf kamen, sahen die schlanke, dunkle Gestalt Aennes gerade noch im Hausflur verschwinden. Nun hätte Frau Rat den Doktor gern ein wenig allein gesprochen, und Tante Emilie wegzubringen, war ja so leicht.

„Sieh’ doch nach, Emilie,“ bat sie, „ob sie’s etwa im Halse hat?“ Und dann fragte sie den jungen Arzt, ob er schon das neue Riesenvergißmeinnicht gesehen habe. – „Nein? O, das müssen Sie sehen, bei dem Mondschein ist’s hell genug.“

Er war bis oben vollgefüllt von Hoffnungen, Wünschen, Zukunftsplänen – ein Funke, und die Bombe mußte platzen, und da Frau Rat diesen Funken schlug, prasselte das Bekenntnis des kleinen, dicken Doktors mit einer Leidenschaft empor, die selbst Frau Rat überraschte. Seine Beteuerungen, daß er Aenne geradezu „wahnsinnig“ liebe, seine verschiedenen Versicherungen auf [295] Ehrenwort, daß er die Wahrheit sage, flogen wie Funken vor den Ohren der Frau Rat umher. Nie, nie habe er geahnt, daß ein Mädchen ihn so bezaubern könne, gestand er.

Frau Rat konnte, ohne ihn abzukühlen, die Zurückhaltende spielen; sie sagte, Aenne sei ganz arm.

„Zu Tode will ich mich schinden für sie!“ schwur er.

Und sie habe auch so eigene Ideen, der Herr Doktor wisse ja wohl, daß sie nur der Mutter zuliebe ihre Künstlerlaufbahn aufgegeben habe, die ihr Großes verheißen.

Jawohl, das wisse er, und es sei gar nicht seine Absicht, das schöne Geschöpf zu seiner Haushälterin zu machen, und so ganz arm sei er doch schließlich auch nicht, sein Vater habe ein Gut in der besten Lage der Magdeburger Börde, nichts als Weizenboden – prima! Aenne könne allein ihren Neigungen leben, er werde sich nur nach ihr richten.

„Lieber Herr Doktor, Sie wissen, wie ich Sie schätze,“ sagte Frau Rat gerührt, „an mir soll’s nicht fehlen – versuchen Sie Ihr Glück bei Aenne!“

Er stand still und putzte den Kneifer wieder, und die runden, kurzsichtigen Augen sahen wie hilfesuchend umher. „Ja, verehrte Frau Rat, das ist eben eine verfluchte – pardon – eine schwierige Geschichte“, stotterte er – „Fräulein Aenne versteht mich – glaube ich – absichtlich nicht. Ich – Sie können denken, ein Korb ist kein angenehmes Ereignis im Leben eines Mannes, und ich möchte, bevor ich eine Erklärung riskiere, Gewißheit haben, erhört zu werden. Ich hatte zu hoffen gewagt, daß Sie, verehrte Frau Rat, als Mutter doch einigen Einfluß – Sie kennen den Wunsch, das Streben meines Lebens, in Ihre Hände lege ich mein Geschick – sprechen Sie mit Fräulein Aenne, erbarmen Sie sich über einen Menschen, dem, hol’s der Kuckuck – die Angst vor einem Abfall den Mut nimmt, selbst eine Entscheidung herbeizuführen aber bald, thun Sie es bald!“

„Haben Sie vorhin denn nicht von Ihren Wünschen zu Aenne gesprochen, Herr Doktor?“

„Massenhaft!“ antwortete er. „Aber, ich bemerkte schon, sie will nicht verstehen.“

„Ich werde mit ihr sprechen,“ erklärte Frau Rat.

Als sie in das Schlafzimmer trat, das sie mit Aenne teilte – Frau Rat behauptete, vor Angst sterben zu müssen, wenn sie allein schlafe – erhob sich Tante Emilie von dem Stuhl, auf dem sie an Aennes Bette gesessen, und legte den Finger an die Lippen. „Eben ist sie eingeschlafen, wecke sie nicht auf!“ Und Frau Rat beugte sich über ihr Kind und erkannte beim Schein des Mondes, daß Aenne geweint hatte.

Sie hat ihn doch wohl verstanden, dachte sie und ging so leise schlafen, daß Aenne, wenn sie wirklich geschlafen hätte, thatsächlich nicht aufgewacht sein würde. Und dann schlief die alte Dame ein und träumte von Brautschleiern, Myrten und weißem Atlas – ach, wenn’s doch May noch miterleben könnte! Einmal in der Nacht aber erwachte sie und sah Aenne aufrecht am Bette sitzen, die Arme um die Kniee geschlungen, starrte das Mädchen in das Dämmern des kleinen Gemachs, unbeweglich, als sei sie aus Stein gehauen. Eine Weile beobachtete die Mutter ihr Kind, dann meinte sie, die Stunde sei vielleicht gekommen, wo eine Aussprache möglich sei. Aber bei der leisesten Bewegung, die sie machte, legte Aenne sich zurück.

„Aenne!“ sagte halblaut Frau Rat, aber sie erhielt keine Antwort. Sie kann ihre dumme Singerei nicht aus dem Kopfe bringen, dachte die Mutter, man darf nicht zu früh reden.

Frau Rat schlief endlich auch wieder ein, und als sie früh erwachte, schlug es fünf Uhr. Ihr erster Blick ging hinüber zu Aennes Lagerstatt – sie war leer. „Es ist die Möglichkeit,“ seufzte die alte Dame, „sie wird alle Tage wunderlicher, was ist das für ein närrisches Mädchen! Wenn ich’s nicht aus der Aehnlichkeit mit der Mayschen Sippe wüßte, ich könnte meinen, Zigeuner hätten mir das Kind vertauscht.“

Die Nacht würde Aenne nie vergessen, solange sie lebte, das wußte sie genau. Viel Schweres hatte sie durchgemacht in ihrem jungen Leben, sie hatte es ertragen, daß der Mann, den sie liebte und von dem sie sich geliebt glaubte, urplötzlich sich von ihr abwandte, einer andern zu, die er noch tags zuvor verspottet hatte. Sie war mit ihrem tief verletzten Herzen, ihrem gekränkten Stolz, ihrem Trotz in eines andern Arme geflüchtet und hatte mit Entsetzen alle die Konsequenzen über sich ergehen lassen, die dieser verzweifelte Schritt mit sich brachte. Sie hatte es ertragen müssen, einen guten Menschen, der sie liebte, gekränkt und unglücklich zu sehen – ihretwegen, weil sie ihm ihr Wort nicht halten konnte, sie hatte die Kämpfe mit ihren Eltern bestanden um ihrer Selbständigkeit willen, um ihre Kunst, sie hatte den Vater verloren und ihren Beruf, der sie hinweg hob über die Misere des Lebens, der Mutter zuliebe aufgegeben, sie hatte sich gegrämt um den Mann, den sie unglücklich wußte, aber die Kunde von ihm, die ihr gestern geworden, das war das allerschwerste!

Mit vollen Flammen schlug ihre alte heiße Liebe für ihn, den sie nie vergessen konnte, wieder empor, und nichts weiter als das eine beherrschte sie: er darf nicht untergehen, er darf nicht, Heinz Kerkow, der Gespiele ihrer Kinderzeit, ihre erste, einzige Liebe, der frische, lustige Mensch – es kann nicht sein, es darf nicht sein! Sie rief ihren alten Trotz zu Hilfe gegen das, was sie fortreißen wollte, was sie hintrieb zu ihm. – Was geht’s dich an? Er hat dich mit Füßen getreten, dich und die Liebe! Es half nichts. – Er darf nicht so enden, er darf nicht, man muß ihn retten – aber wie? Und immer deutlicher, immer bewußter ward es: du kannst es, du mußt es! Geh’ zu ihm, rede ihn an mit dem alten treuen, kameradschaftlichen Ton der Vergangenheit!

Und wieder bäumte sich ihr trotziges Herz auf. Nein! Nein! Er könnte ja denken, ich wollte aufs neue um seine Liebe betteln, denn er ist jetzt frei.- Nein, lieber tot! – Aber es ließ ihr keine Ruhe. Geh’ zu ihm, er braucht eines Freundes Hand! Wenn ein Wildfremder am Rande eines Abgrundes ginge, ohne die Gefahr zu kennen, du würdest ihn zurückreißen, Aenne, und den Mann, dem doch deine ganze Seele gehört, den willst du verkommen lassen?

Aber, er kann dich ja suchen! sagte das trotzige Herz.

Nein, nein! Du weißt ja, er ist krank, er ist wie eine Pflanze, der ein Wurm an der Wurzel nagt, nicht mehr fähig, einen frischen Trieb zu treiben, einen rettenden Gedanken zu fassen. Er kann nicht mehr handeln – handle du!

Mein Gott, aber wie denn? Schreiben? Der Doktor hatte ihr erzählt, Heinz öffne die Briefe gar nicht mehr, die er bekomme, ausgenommen etwa die dienstlichen Schreiben. – Nein, sie muß ihn sehen, ihm in den Weg treten, muß zu ihm sprechen!

Was denn aber? Das wußte sie noch nicht. Der Zufall würde ihr helfen, irgend ein Wort würde sie finden, das ihm zu Herzen geht, gar nicht ’mal viele brauchten es zu sein!

Tatsächlich schlief sie nicht einen Augenblick in dieser Nacht, und als der Tag anbrach, stahl sie sich aus dem Schlafzimmer und lief in den Garten. Er lag schon im vollsten Sonnenschein und der Tau funkelte auf allen Blättern und Gräsern. Sie vergaß ganz, daß sie im Morgenanzug war, einem alten, schwarz und weiß gemusterten Kattunkleidchen, dessen Rock ein klein wenig zu kurz geworden, und dessen Bluse mit dem Matrosenkragen ihrer prächtigen Gestalt ein wenig kindlich ließ. Sie hatte nur flüchtig die Haare geordnet, sie hingen ihr in zwei schweren Flechten herunter, wie Aenne sie zu jener Zeit noch gern trug, als sie mit Heinz und Tante Emilie ihre Waldspaziergänge machte. Unter dem Kate-Greenaway-Hut, der auch ein altes Inventarstück war, guckten ihre Augen ins Leere hinaus, auf ihrem Gesicht wechselten Röte und Blässe, und ihre Füße wandelten längst außerhalb des Gartens den Waldweg hinter der Domäne entlang, der zum Luisenschlößchen führte. Dort stand die Frau Försterin schon vor der Thür und sah ihr ganz verwundert entgegen.

„Hätt’ Sie beinahe gar nicht erkannt, Fräulein May!“ rief sie, „das kleidet Sie ja wie ein Backfischchen! Schönen guten Morgen! Wollen Sie so zeitig schon singen?“

Aenne stutzte. „Ja!“ sagte sie dann nach kurzem Besinnen, „wenn’s nicht stört, Frau Försterin?“

„I Gott bewahre! Mein Mann ist längst im Walde, und meine alte. Schwiegermutter – sie ist zwar krank, aber sie hört’s nicht, die ist stocktaub.

Und Aenne eilte zu ihrem Klavier, und wenn’s auch nur Uebungen waren, die Töne beruhigten sie wie ein betäubendes, schmerzlinderndes Mittel. Sie hatte schon eine ganze Weile gespielt, da klopfte es und die junge Förstersfrau trat ein.

„Jetzt kommt der Herr Schloßhauptmann mit seinem Jungen [296] über den Platz,“ meldete sie wichtig, „der Kleine trinkt hier Ziegenmilch. Wollt’s Ihnen nur sagen, Fräulein; gelt – es stört Sie doch nicht? Dieses Zimmer betreten sie wohl kaum.“

Aenne stand hastig auf; sie fühlte ihr Herz bis in den Hals empor schlagen. „Doch,“ stieß sie hervor, „es stört mich! – Kann ich noch fortgehen, ohne – –?“

„Da sind sie schon!“ flüsterte die Frau. „Bleiben Sie nur ruhig hier, Fräulein; lange halten sie sich ja nicht auf. Wenn der Kleine seine Milch getrunken hat, fahren sie weiter in den Wald.“

„Lassen Sie niemand hier herein!“ forderte Aenne.

„Nein doch! Nein doch!“ beruhigte die Försterin, ganz verwundert das junge, so blaß gewordene Mädchen betrachtend. Und als jetzt eine schwache Kinderstimme ihren Namen rief, sprang sie zur Thür, schlüpfte hinaus und Aenne hörte, wie der Schlüssel von außen herumgedreht und abgezogen wurde.

Zitternd saß das Mädchen vor dem Klavier und horchte auf jedes Wort, das von draußen zu ihr hereinscholl.

„Treten Sie gefälligst in unser Wohnzimmer, Herr Schloßhauptmann, in der guten Stube ist gescheuert, noch ganz naß die Dielen, und draußen zieht’s ein wenig, der Wind kommt von Osten,“ sagte die Försterin.

Jetzt wurde das Wägelchen fortgeschoben, und nun waren sie nebenan, von Aenne nur durch eine dünne Thür geschieden, vor welche man allerdings einen Vertikow gestellt hatte, der dem Klavier hatte weichen müssen. Aber als sei es in derselben Stube mit ihr, so deutlich klang jedes Wort der redseligen Frau in Aennes Ohr. Unbeweglich verharrte das Mädchen, und dabei befiel sie in der unmittelbaren Nähe des Mannes, um dessen trostloses Geschick sie während der letzten Nacht nicht die Augen geschlossen, zu dessen Rettung sie Plan auf Plan entworfen hatte, ein Gefühl der lähmendsten Niedergeschlagenheit.

Plötzlich zuckte sie empor – das war seine Stimme gewesen! Sie that ihr beinahe körperlich weh, und sie griff unwillkürlich nach dem Herzen.

„Will’s denn gar nicht schmecken heut’, Heini? Bitte, trinke, mein Liebling!“

„Ich kann heute nicht, Papa, ich bin so satt und der Kopf thut mir weh!“

„Und hast noch nichts genossen heute,“ sprach jetzt Heinz wieder.

„Quälen Sie ihn doch nicht, Herr Schloßhauptmann,“ wandte die Förstersfrau mitleidig ein.

Dann hörte Aenne rasche Schritte durch den Flur kommen, ein energisches Klopfen an die Thür nebenan, und die wohlbekannte schneidige Stimme des Doktor Lehmann scholl herüber:

„Servus, junge Frau! Ach, und da sind ja auch die Herrschaften vom Schloß – Morgen, Herr von Kerkow! Morgen, mein Kleiner! Na, wie schaut’s aus? Das lobe ich mir, da kann ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, muß ohnehin über Land! Zur geehrten Schwiegermutter komme ich also nachher, Frau Försterin, und jetzt dürfen Sie uns ruhig etwas verlassen. meine Beste. Setzen Sie der alten Frau unterdes eine frische Haube auf und öffnen Sie die Fenster, ich liebe es, wenn meine Patienten möglichst hübsch aussehen und in guter, reiner Luft atmen.“

Unter hellem Auflachen schien die also Aufgeforderte das Zimmer zu verlassen, denn die Thür ging und ein Weilchen war es totenstill nebenan.

Dann wieder des Doktors Stimme, der in den Flur hinaus rief: „He! Junge Frau, holen Sie ’mal den kleinen Mann hier und fahren Sie ihn ein wenig auf und ab vor dem Hause!“ Und kaum war das Rollen des Wägelchens verklungen auf den Steinfliesen des Flurs, als die laute Stimme des Arztes schon wieder erklang: „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Herr von Kerkow, daß das Kind sich in den letzten Tagen erheblich verändert hat. Es geht so nicht länger, der Knabe muß in andere Lebensbedingungen – – fahren Sie nicht so auf, mein Herr! Ich weiß ja, daß Sie alles mögliche thun für die Pflege des Kleinen, aber in der Atmosphäre von Resignation, in der Sie so langsam absterben, muß das zarte Kind bald vergehen. Mich aber interessiert das Kerlchen – als Arzt, wissen Sie – und ich möchte Ihnen daher den Vorschlag machen – vertrauen Sie ihn mir einmal an auf ein paar Monate – – wie beliebt?“

Heinz hatte irgend etwas gemurmelt.

„Allerdings – ’ne Frau habe ich nicht, nein, das ist richtig! Die haben Sie aber auch nicht, Herr von Kerkow. Mein Vorzug liegt eben darin, daß ich Arzt bin, daß solche Krankheitsfälle mein besonderes Interesse von jeher erweckt haben, und daß ich auch einigermaßen in der Lage war, Erfahrungen zu sammeln über die Behandlung derartiger Leiden. In unserem Stadtkrankenhause, zum Beispiel, bin ich längere Zeit der ordinierende Arzt der Kinderstation gewesen, und übrigens würde ich auch selbstredend für weibliche Hilfe sorgen; Schwester Viktoria ist eine vorzügliche Pflegerin. Und dann vergessen Sie nicht, daß ich im Mayschen Hause wohne, Verehrter, und daß sich die Frau Medizinalrätin brennend für meinen Plan interessiert, der darin besteht, daß ich in nicht zu ferner Zeit eine Heilanstalt für rhachitische Kinder zu errichten gedenke. Endlich giebt es da noch ein gewisses Fräulein May, das sich gestern erst mit wahrhaft himmlischem Mitleid nach dem Kinde erkundigte; ich bin überzeugt, sie würde manche Stunde für den armen kleinen Kerl übrig haben, denn das Mädchen hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist überhaupt – alle Donnerwetter, aber das gehört nicht hierher, ich meine nur – –“

Aenne hatte sich erhoben; sie stand zitternd mit vorgeneigtem Kopfe, in den Augen ein glückliches Leuchten. Der liebe Gott selbst schien ihr Vorhaben fördern zu wollen.

„Ich danke Ihnen,“ scholl da Heinz Kerkows Stimme, „ich falle nicht gern Fremden zur Last, und außerdem wüßte ich thatsächlich nicht, wie Fräulein May dazu kommen sollte, sich um das elende fremde Wurm zu kümmern.“

„Wie sie dazu kommen sollte? Herr, wie kommt denn überhaupt der eine Mensch dazu, dem andern zu helfen? Weil’s drin liegt im Menschenherzen, weil so ein goldenes Gemüt wie dem Mädel seins gar nicht anders handeln kann – verstehen Sie?“ schrie der Doktor ärgerlich. „Aber wie Sie wollen, Verehrtester, wie Sie wollen! Es ist Ihr Junge, lassen Sie ihn in Gottes Namen zu Grunde gehen – ich hab’s gut gemeint! ’n Morgen, Herr von Kerkow!“

Nun eilende Schritte, ein hastiges Thürschlagen, draußen das Rufen nach der Frau Försterin, und dann ward es still.

Aenne war wieder auf den Stuhl zurückgesunken, das Gesicht erblaßt, die Hände im Schoß gefaltet. Diese Worte von Heinz, diese paar Worte, mit der schneidenden, hochmütigen Betonung gesprochen, hatten sie getroffen wie ein kalter Strahl, hatten all den Trotz in ihr wachgerüttelt, den Liebe und Mitleid zur Ruhe geschmeichelt in ihrem Herzen. Wer so sprechen kann, hat nie geliebt, und sie, sie war drauf und dran gewesen, sich einer schroffen Zurückweisung auszusetzen in ihrer grenzenlos opfermütigen Liebe für ihn und sein Kind. Ihr Kopf bog sich plötzlich in den Nacken zurück – Thörin, Närrin, die sie war!

Sie klappte den Deckel des Instrumentes zu, nahm ihren Hut und drückte auf die Klinke. Ach, man hatte sie ja eingeschlossen! Sie runzelte die Stirn und blickte ungeduldig im Zimmer umher. Klopfen wollte sie nicht, sie wußte nicht genau, ob der Herr Schloßhauptmann von Kerkow vielleicht noch im Zimmer nebenan saß. Aber sie wäre für ihr Leben gern aus diesem Hause geflohen. Da fiel ihr Blick auf das offene Fenster. Mit einem anmutigen Schwung saß sie plötzlich auf der Fensterbank und ließ ihre schlanke Gestalt ins Freie gleiten, es war ja ein so niedriges Parterre. Hochatmend stand sie unter den Tannen; mit einem kleinen Umweg durch den Wald konnte sie ungesehen entwischen. Aber Aenne hatte vergessen, daß dieser Pfad wieder in den breiten Gang einmündete, der direkt zum Luisenschlößchen führte, und so prallte sie beim Hinaustreten aus seinem tiefen Blätterschatten plötzlich mit dem Herrn Doktor Lehmann zusammen, der, seinen Stock im Kreise schwingend, den Hut im Nacken, eilig daherkam, dessen ärgerlicher Gesichtsausdruck aber bei dem Anblick des geliebten Mädchens dem verklärtesten Lächeln wich.

„Alle Hagel – Fräulein Aenne!“ stammelte er, den Strohhut schwenkend, „das muß ein schöner Tag werden, wenn einem schon in aller Herrgottsfrühe so etwas in den Weg läuft – Gestatten doch, daß ich mit Ihnen gehe? Muß nämlich jetzt nach Hause, Sprechstunde fängt an, und leben will der Mensch auch, das heißt – Kaffeetrinken. Haben Sie schon gefrühstückt?“

„Nein!“ antwortetet das junge Mädchen kurz.

„Thun wir’s zusammen in Ihrem Garten?“ bettelte er. „Herrgott, das wär eine Idee! Wie ist’s denn, thut der Kopf

[297]

Am Himmelfahrtstage in der Erlöserkirche zu Moskau.
Nach einer Originalzeichnung von E. Limmer.

[298] noch weh? Haben Sie gut geschlafen? Hat Ihre Frau Mutter schon mit Ihnen – ich wollte sagen, haben Sie Ihre Frau Mutter schon gesprochen?“ verbesserte er sich, rot werdend.

„Ich schlief gestern abend schon, als sie kam, und sie heute früh noch, als ich ging, Herr Doktor.“

„So, so! Sie wollte Ihnen etwas erzählen, glaube ich, stotterte er. Na, das braucht aber nicht gleich heute früh zu sein, erst frühstücken wir zusammen und, Fräulein Aenne, wenn meine Sprechstunde vorbei ist, sagen Sie mir vielleicht – –“

Sie blickte ihn halb verwundert, halb zerstreut an. „Was denn?“

„Ich meine, wie Ihnen das gefallen hat – die Geschichte, das Märchen – das – was Ihre Mutter Ihnen erzählen will –“

Sie hörte ohne Interesse auf seine Worte, sie antwortete auch nicht, sie dachte schon wieder an die bitteren Worte von Heinz Kerkow. Und genau so zerstreut schritt sie ihm voran in die Hausthür und bot der am Fenster entzückt aufschauenden Rätin einen Guten Morgen. Ja, ganz entzückt war die Frau Rat, weil sie die beiden so zusammen hatte kommen sehen. Die Aenne mit der hohen Röte innerer Scham auf dem Antlitz schien ihr so bräutlich, so selig, und nun wollte gar der Doktor im Garten frühstücken mit der Aenne – es konnte nicht anders sein, sie waren einig, die beiden, gottlob, sie waren einig!

Aber die erregte Frau hatte den Mut nicht, sich Gewißheit zu verschaffen. Sie lugte nur hinter den Gardinen hervor auf das junge Paar und beobachtete die Augen des Doktors, die nicht von dem jungen Mädchen ließen. Das saß abgewandt, in halber Verlegenheit und warf den Hühnern Brocken zu über den Drahtzaun hinüber. Als der Doktor sich erhob, um sein Sprechzimmer aufzusuchen – es wartete bereits ein Häuflein Patienten – da litt es die Mutter nicht länger, sie nahm die Schüssel Spinat und ein Messer und setzte sich zu Aenne, und mit zitternden Fingern die Blätter verlesend, begann sie. „Du, Aenne –“

Das Mädchen fuhr herum wie eine, die aus dem Schlaf erwacht. „Was willst du, Mutter?“

„Ich – der Rätin stockte plötzlich der Atem. „Ach, du wirst’s wohl schon wissen, du Schlaukopf – gelt?“

„Was denn, Mutter?“ „Hat dir der Doktor nichts gesagt?“ Aenne mußte sich erst besinnen „Ach so – ja – du wollest mir etwas erzählen. Was ist’s denn?“

„Weiter hat er dir keine Andeutung gemacht?“ Aenne schüttelte den Kopf.

Die Rätin seufzte. „So sind nun die Männer,“ dachte sie. „Wenn ich man bloß wüßte, wie ich es anfangen sollte, die Sache so zur Sprache zu bringen, daß es Aennes Herz rührt.“

„Er ist doch eigentlich eine Seele von einem Menschen,“ begann sie laut, „der Doktor! Was, Aenne?“

„Ich kenne ihn zu wenig, aber ich glaube, er ist wirklich ein guter Mensch,“ gab Aenne zu. Und plötzlich erinnerte sie sich, wie sie eben erst ein begeistertes Lob aus seinem Munde erlauscht hatte, und die Röte der Bestürzung stieg ihr purpurn in die Wangen.

„Warum wirst du denn so rot?“ lachte die Rätin. „Du ahnst wohl schon, was ich dir sagen soll? Na, ich merk’s ja, du weißt, daß der arme Kerl bis über die Ohren in dich verschossen ist, und –“

„Aber, Mutter!“ rief Aenne, doch ein Weiteres kam nicht über ihre Lippen, nur in die Augen drängte sich ein heißes Erschrecken über diese neue Werbung. „Du mußt nicht scherzen mit solchen Dingen, Mutter,“ setzte sie stotternd hinzu.

„Da sei Gott vor!“ rief die alte Dame eifrig und stolz. „Es ist Wahrheit, Kind, so wahr wie ich hier vor dir sitze. Ich hab’s auch lange schon gemerkt, und gestern abend bat er mich, ich sollte für ihn sprechen bei dir, ihn macht so die Liebe rein zum blöden Jungen! Nein, mein Aenneken, es ist wahr!“ beteuerte sie nochmals, „er will dich heiraten und – das hast du ja auch lange gemerkt schon, du Schlaukopf, du!“

„Und du hast ihm Hoffnung gemacht?“ fragte das Mädchen und stand hochaufgerichtet vor der Mutter.

„Warum denn nicht? Worauf sollen wir denn noch warten, Kind? Denke doch nur – Vermögen, ein tüchtiger Arzt, die ganze Praxis des seligen Vaters hat er, und gut ist er dir, rein närrisch – ich dächte doch – –“

„Mutter,“ stieß Aenne hervor, „du durftest ihn nicht ermutigen, du hattest kein Recht dazu!“

Frau Rat stellte die Schüssel hin und warf das Messer hinein. „Ich kann mir doch nicht denken, daß du so, gelind gesagt, so unvernünftig bist, Aenne,“ stotterte sie. „Komm ’mal her und laß uns beide ein ruhiges Wort darüber reden“ und sie zog die Tochter an der Hand tiefer in den Garten, „komm in die Laube da unten, dort hört uns niemand!“

Aenne ließ sich ziehen, aber sie zitterte am ganzen Körper. Nun war sie wieder mitten hinein geschleudert in den Kampf sollte er denn niemals enden? Und nun drückte die Mutter sie auf die graugestrichene Lattenbank und blieb vor ihr stehen, mit mühsam zusammengehaltener Ruhe und Sanftmut.

„Bedenke doch, ich bin Witwe und du bist ein armes Mädchen,“ begann sie so leise und gütig, wie sie nie gesprochen. „Es mag dich vielleicht keine übergroße Liebe zu ihm drängen, jedenfalls aber darfst du ihm deine Achtung nicht versagen; du mußt seine Rechtschaffenheit und seinen Fleiß anerkennen, das ist gar nicht anders möglich. Du bist nun auch in dem Alter, wo man diese Eigenschaften zu schätzen weiß, denn was aus den vielgepriesenen Liebesheiraten wird, das kannst du recht deutlich an den Kerkows sehen. Der sogenannte Beruf eines Mädchens als Sängerin, als Lehrerin oder dergleichen ist ja doch eben nur ein Notbehelf für solche, die keinen Mann bekommen, und kurz und gut, liebes Kind, es wäre eine wahrhafte Sünde, eine wahre Vermessenheit, wolltest du dies Glück nicht annehmen, denn wenn du da draußen auch wirklich ’mal den Wind dir um die Nase hast wehen lassen – um zu ermessen, wie schwer das Leben ist für ein einsames Frauenzimmer, dazu hat dir, gottlob! bis jetzt jede Gelegenheit gefehlt. Und nun begann sie zu schluchzen, und weil sie ihr Taschentuch vergessen hatte einzustecken, nahm sie den Schürzenzipfel vor die Augen.

Ueber Aennes gesenktem Haupt ergoß sich dieser Redestrom mit niederschmetternder Gewalt, um so wirkungsvoller, als er in ungewöhnlich sanfter Weise zum Ausdruck gebracht wurde. Ach, und diesmal, fühlte sie, würde ihr die alte weinende Frau die Weigerung nicht wieder vergeben. Und sie mußte sich doch wieder hineinstürzen in Sturm und Wetter, sie mußte Nein! Sagen.

Sie stand auf. „Komm nur, Mutter, ich werde dem Doktor die Gründe meiner Weigerung selbst auseinandersetzen, will dir das Schwere nicht zumuten oder – ich schreibe ihm.“

„Du willst nicht?“ schrie die Rätin, alle Sanftmut über Bord werfend.

„Ich kann nicht, Mutter! Sei gut, ich bitte dich! Ich habe dich so sehr lieb, aber verlange nicht, daß ich unglücklich werde!“ Mit diesen Worten schritt sie an der Mutter vorüber, und entschlossen, diese Angelegenheit so rasch als möglich zu Ende zu bringen, lenkte sie ihre Schritte direkt in des Doktors Vorzimmer.

Als sie eintrat, saß dort nur noch ein altes Mütterchen aus den Bergen droben und wartete auf ihren „Ollen“, der zum Doktor gefahren war, weil er’s so arg auf der Brust hatte, wie sie Aenne mitteilungsbedürftig erzählte, und der „Neue“ solle der „ollen“ Müller-Lorenzen so gut auf die Beine geholfen haben, solle ein ganz Kluger sein, der würde jawohl auch ihren Gottlieb kurieren können.

Dann endlich kam der „Olle“ herausgehüstelt und des Doktors Auge traf auf Aenne, die mit ernstem blassen Gesicht neben dem Instrumentenschrank stand. Sein Herz hörte beinahe auf zu schlagen – das sah keiner bräutlichen Ergebung gleich, nicht dem Benehmen eines Mädchens, das liebt.

„Sie wollen mich sprechen?“ stotterte er.

„Ja, Herr Doktor, aber lange soll’s nicht dauern; ich weiß ja, Sie sind beschäftigt!“

Sie trat in das ihr so liebe Gemach, in welches sie so oft geschlüpft war, um dem Vater ein herzliches Wort zu sagen, ihm einen Kuß zu geben oder die kleinen Kümmernisse ihres jungen Lebens anzuvertrauen. Wo war er geblieben, der allezeit freundliche Mann, der treue, liebe Beschützer ihrer Jugend? Es war ihr, als fühlte sie in diesem Augenblick erst, wie furchtbar verlassen sie in der Welt stehe, wie sie auch nicht ein Herz ihr eigen nenne, das sie und ihr Handeln verstände.

Der junge Arzt wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch, aber er brachte die übliche Fragen „Nun, wo fehlt’s denn?“ angesichts dieses Besuches nicht über die Lippen, er wartete mit [299] den Fingern auf der Tischplatte trommelnd, recht blassen Gesichts auf ihre Mitteilung.

„Mutter hat mir das Märchen erzählt, Herr Doktor,“ begann sie, „vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen sagen muß, daß es nie zur Wahrheit werden kann. Ich bin sehr unglücklich darüber, daß ich Ihnen vielleicht weh thue, ich will Ihnen aber auch den Grund meiner Weigerung sagen – sehen Sie, ich habe einen andern lieb und werde ihn nie vergessen können – das Drum und Dran erlassen Sie mir wohl! Sie aber haben Anspruch auf eine Braut, die nicht nur Ihre Frau wird, sondern deren ganzes Herz Sie auch ausfüllen. Und nun bitte ich Sie um eines, Herr Doktor, um Ihre Freundschaft, wenn Sie mir dieselbe später einmal schenken können. Ich weiß es, Sie sind ein guter, kluger Mensch, und Sie verstehen meine Weigerung.

Sie hielt ihm die Hand hin, zögernd erfaßte er sie und drückte einen unbeholfenen Kuß auf dieselbe, dann trat er rasch von ihr fort ans Fenster und sprach kein Wort.

Aenne blieb noch ein paar Minuten, ihn traurig ansehend. „Machen Sie es der Mutter nicht zu schwer,“ bat sie, dann verließ sie die Stube. Und dort innen blieb einer, der setzte sich plötzlich wie todmüde an den Arbeitstisch, legte die Stirn in die Hand, und ein echter, großer Schmerz um die verlorene liebste Hoffnung seines Lebens schüttelte ihn.

Sie liebte einen andern, den sie nie vergessen konnte! Da war freilich nichts zu wollen! Da war kein Hoffen möglich!

Wer mochte es nur sein, der Glückliche? Und warum kam er nicht und riß sie an sein Herz? Was mußte er für ein Kamel sein, der so ein Mädchen harren und warten läßt, Jahr auf Jahr! dachte neidisch der arme Doktor. Vielleicht weiß es dieser Kerl nicht einmal, räsonnierte er weiter, vielleicht hat er gar ’ne Frau, die er in einer dummen Stunde genommen – möglich. Armes Kind! Ach, Aenne, du gute, reizende, ehrliche Aenne – und das ist nun das Ende der Geschichte meiner schier närrischen Liebe zu dir, und wir sollen auch womöglich noch ganz freundschaftlich weiter miteinander verkehren! Der Teufel mag dein Freund sein – ich kann’s nicht!

Nach einem Weilchen saß er in dem offenen Wagen und fuhr über die Berge nach dem einsamen Hüttenwerk, wo die typhuskranke Frau eines Beamten seiner wartete, und der Kutscher, der den allezeit gesprächige, leutseligen Herrn zu unterhalten gedachte und heute keinerlei Antwort erhielt auf seine Bemerkungen, wandte sich verwundert nach seinem schweigenden Fahrgast um. „Jesses, Herr Doktor, Se hebbe woll ’nen Schnuppen? Ihnen thränen ja de Oogen ordentlich!“

„Ja freilich, einen eklichen Schnupfen“, gab er zu, „Gott weiß, wo ich ihn mir geholt habe!“

„Na, darnach werd’s klar im Koppe“, tröstete der Alte gutmütig.

„Das thut auch not!“ pflichtete seufzend der junge Arzt bei.

(Fortsetzung folgt.)


Heinrich v. Stephan †.

Seit lange hat eine Trauernachricht nicht einen so weiten und tief schmerzlichen Wiederhall geweckt wie diejenige, die der Draht der deutschen Reichspost in den ersten Nachtstunden des 8. April von Land zu Land und von Stadt zu Stadt übermittelte. Heinrich von Stephan tot! Wer kennt nicht diesen Namen? Den Mann, der ihn trug, zählte Deutschland zu seinen besten und größten Söhnen, stand er doch mitten in jener stolzen Reihe der großen Männer, die mit Rat und That den großen Aufschwung Deutschlands herbeiführten und in langer Reihe von Jahren in Krieg und Frieden das Band der Einheit um die deutschen Volksstämme fester und fester schlangen. Und in der weiten Welt, in fremden Ländern diesseit und jenseit der Oceane, hatte dieser Name einen nicht minder hellen Klang. Heinrich von Stephan, der größte Postmann unserer Zeit – er hat weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus gewirkt, er, der Begründer des Weltpostvereins, hat auch die Völker der Erde einander genähert!

Heinrich von Stephan.
Nach einer Aufnahme von Loescher und Pritsch, Hofphotographen in Berlin.

Es war noch schlimm um das deutsche Postwesen bestellt, als Heinrich Stephan, der als Sohn eines schlichten Handwerkers am 7. Januar 1831 zu Stolp in Pommern das Licht der Welt erblickt hatte, nach Vollendung der Gymnasialstudien in den preußischen Postdienst trat. Durch seine Begabung und Arbeitskraft zeichnete er sich bald vor seinen Amtsgenossen aus und wurde bereits im Jahre 1856 ins Generalpostamt nach Berlin berufen. Er stieg hier von Stufe zu Stufe zum Postrat und Oberpostrat empor. Engeren Kreisen der Fachgelehrten wurde sein Name durch eine Reihe von nationalökonomischen und geschichtlichen Aufsätzen sowie durch sein Werk „Geschichte der preußischen Post“ bekannt; die Aufmerksamkeit der öffentlichen Welt lenkte er aber erst im Jahre 1866 auf sich, wo er nach Frankfurt a. M. kam, um die Thurn- und Taxis’sche Post abzulösen und sie mit der preußischen zu verschmelzen. Damit hatte er den Rest mittelalterlichen Feudalwesens im deutschen Verkehrsleben beseitigt und eine neue Aera desselben eröffnet. Seine Pläne zu weiteren Reformen des deutschen Postwesens und zu einer internationalen Regelung des Postverkehres fanden in Berlin Anklang, so daß Stephan am 26. April 1870 zum Generalpostmeister des Norddeutschen Bundes ernannt wurde. Der Krieg unterbrach seine reformatorische Thätigkeit; er stellte Stephan vor eine neue Aufgabe; die Post mußte in den Dienst des Heeres in Frankreich treten. In kurzer Zeit verstand der neue Generalpostmeister diese Aufgabe mit erstaunlichem Geschick zu lösen, er schuf die „Feldpost“, die allein im Verkehr der Truppen mit dem Heimatlande täglich nahezu eine halbe Million Sendungen beförderte. Mit einem Schlage wurde damals der geniale Generalpostmeister berühmt, ja, mehr als dieses im besten Sinne des Wortes.

Als der Frieden kam, konnte nun Stephan mit Nachdruck an die Verwirklichung seiner weitreichenden Pläne schreiten. Im Innern baute er die deutsche Reichspost auf, schuf eine einheitliche Postgesetzgebung, neue, segensreiche Verkehrsmittel, wie die Postkarten, die Postanweisungen und Postaufträge, er ermäßigte die Portosätze, führte einen einheitlichen Tarif für Pakete ein; er übernahm auch die Telegraphenverwaltung des Reiches und setzte den Worttarif bei Telegrammen fest; durch unterirdische Kabelleitungen verband er die Haupt- und Großstädte des Reiches, er ebnete dem Telephonverkehr die Wege, die Rohrpost in Berlin ist sein Werk, und er leitete auch die Reichsdruckerei. Geradezu märchenhaft ist der Aufschwung, den die deutsche Reichspost unter seiner schöpferischen Leitung genommen hat. Generalpostmeister Stephan hat gegen 2000 neue Postgebäude in allen Teilen des Reiches ausgeführt, verzehnfacht hat er die Zahl der Telegraphenanstalten, versechsfacht die der Postanstalten und um Tausende und aber Tausende das Heer der Postbeamten vermehrt.

Nicht minder segensreich war sein Wirken nach außen hin. Fördernd stand er dem deutschen Handel zur Seite, er schuf die transoceanischen Reichspostdampferlinien und sorgte für Herstellung von Postanstalten in unsern jungen Kolonien. Sein größtes Werk auf diesem Gebiete, eine Kulturthat ersten Ranges, war aber die Gründung des Weltpostvereins. Die grundlegende Anregung hierzu gab er bereits in einer Denkschrift aus dem Jahre 1868; verwirklicht hat er seine Idee erst auf den Postkongressen zu Bern im Jahre 1874 und zu Paris im Jahre 1878.

Der erste Generalpostmeister des Deutschen Reiches wurde vom Kaiser Wilhelm I. wiederholt ausgezeichnet. Im Jahre 1880 wurde er zum Staatssekretär des Reichspostamtes ernannt, 1885 wurde ihm der erbliche Adelstand verliehen und 1895 ehrte ihn der regierende Kaiser dadurch, daß er ihn in den Ministerrang erhob.

Das ist in knappen Umrissen der Lebenslauf des Mannes, dem die „Gartenlaube“ bereits im Jahre 1887 (vgl. S. 857 des betreffenden Jahrg.) einen ausführlichen Artikel gewidmet hat. Damals stand der Generalpostmeister noch in voller Rüstigkeit da. Von Jugend aus ein tüchtiger Turner und ein geübter Schwimmer, war er auch ein guter Bergsteiger und ein Freund des Weidwerks. Man mochte glauben, daß er ein sehr hohes Alter erreichen werde, die heimtückische Zuckerkrankheit hat seine Kraft untergraben. Zu früh für uns ist er heimgegangen, aber doch nach rühmlich vollbrachtem Lebenswerk, das so segensreich war für sein Volk und die Menschheit und noch lange goldene Früchte tragen wird. M. H.     


[300]

„Onkel Zigeuner.“

Novelle von Marie Bernhard.

Er sah wirklich so aus wie ein Zigeuner: geschmeidiger Wuchs, gelenke Glieder, straffes Haar, rabenschwarz, mit bläulichen Lichtern durchsetzt – ein Kolorit wie Bronze und ruhelose dunkle Augen. Er war aber Germane von reinstem Geblüt, und kein Mitglied seiner Familie hätte zu sagen gewußt, wie er zu diesem Aeußern kam. Gewiß, es hatte brünette Leute unter den Gräfenbergs gegeben und Leos Mutter hatte dunkles Haar, dunkle Augen gehabt, allein von sarmatischem Typus keine Spur! Selbst in größeren Städten blieben die Leute oftmals auf der Straße stehen und sahen ihm nach, weil er ein so auffallendes Aeußere hatte.

Freilich gab er den Leuten in großen Städten selten Gelegenheit, ihm nachzuschauen. Leo Gräfenberg war Landmann, er haßte den Lärm, die Hitze und das rastlose Treiben der Stadt. Es war ihm auch unangenehm, so dreist und fragend gemustert zu werden, wie viele dies thaten, er hätte diese neugierigen Augen immer von sich abwehren mögen wie zudringliche Mücken. Da er dies nicht konnte, vermied er die Städte soviel wie irgend thunlich und blieb lieber in seiner grünen Einsamkeit, auf seinem von Wäldern umgebenen, von einem großen See bespülten Landsitz. Grünholm hatte er von seinem Vater geerbt und die umwohnenden Gutsbesitzer behaupteten, es möchte nicht leicht jemand geben, der mit gleicher Liebe an seiner Scholle hinge, wie Leo Gräfenberg dies that. Ja, sie pflegten hinzuzusetzen, diese guten Nachbarn, die Scholle sei überhaupt das einzige auf der Welt, was Leo wirklich liebte.

Verhielt sich das in Wahrheit so? …

Ein kleines Knäbchen war er gewesen, kaum vier Jahre alt, als ihm die Mutter starb. Er bewahrte keine Erinnerung mehr an sie, nur noch an die Zeit, die auf ihren Tod folgte, da der Vater viel abwesend war und da er selbst, ein scheues, eigenwilliges und verschlossenes Kind, sich zwischen Dienstboten, Hunden und Pferden herumtrieb, mehr daheim in den Ställen als in seinem hübsch eingerichteten Kinderzimmer, wo seine Spielsachen ihn ansahen wie tote Dinge, seit keine Mutterhand mehr da war, sie aufzustellen und zu beleben.

Dachte er später an jene Zeit zurück, so erschien es ihm, sie habe sehr lange gedauert – jedenfalls hatte sie hingereicht, ihn völlig verwildern zu lassen, zum Verkehr mit gesitteten Menschen beinahe untauglich zu machen.

Da geschah es eines Tages, daß sein Vater nach längerer Abwesenheit wiederkehrte, das ganze Haus und den Garten neu in stand setzen ließ, sich um seinen Sohn kümmerte, mit Entsetzen die Verfassung, in welche derselbe geraten war, entdeckte und von einer schleunigst engagierten Erzieherin nichts mehr und nichts weniger als das Kunststück verlangte, sie solle auch den verwahrlosten Leo schleunigst „neu in stand“ setzen, damit er repräsentabel werde, und zwar binnen fünf bis sechs Wochen! – Die Dame, der diese Aufgabe zugemutet wurde, ging mit unerschrockenem Mut heran, allein sie hatte ihre Kraft überschätzt und diejenige ihres hoffnungsvollen Zöglings zu gering geachtet, denn sie mußte alsbald erkennen, es sei durchaus unmöglich, sich mit dem Knaben zu stellen oder auch nur zu verständigen, wenn es nicht gelänge, sich seine Zuneigung zu erwerben – und diese blieb ihr konsequent versagt.

Als daher, nach Ablauf der anberaumten sechs Wochen, Gräfenberg der Vater wieder anlangte, mußte er zwar der pädagogischen Dame das ausgemachte Gehalt zahlen, zugleich aber einsehen, das Resultat ihrer Bemühungen sei gleich Null gewesen, wofern sie nicht die Sache noch verschlimmert, das Kind noch ungebärdiger und menschenfeindlicher gemacht habe.

Er war es nicht allein, dem sich diese Wahrnehmung aufdrängte. Mit ihm kam eine sanft aussehende blonde Dame, die den Insassen des Hauses als dessen neue Herrin, dem kleinen Leo als seine neue Mutter vorgestellt wurde. Sie brachte ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit, blond wie sie, ihre Tochter Käthe, denn Frau Merwin war seit acht Jahren Witwe gewesen und nahm ihr einziges Töchterchen mit hinüber in die zweite Ehe.

Leo bereitete der neuen Mama keinen verbindlichen Empfang. Er stand, die Hände zu Fäusten geschlossen sein dunkles Zigeunergesicht auf die Brust gesenkt, die Lippen trotzig aufeinandergepreßt, mitten im Zimmer und hatte auf alles Zureden, Bitten, Versprechen, endlich Drohen nichts weiter als ein verstocktes Schweigen und Kopfschütteln, bis sein Vater ihn ergrimmt beim Kragen faßte und in ein leeres, abgelegenes Zimmer setzte, wo er „zur Vernunft“ kommen sollte! – Ach, weder kam er zur Vernunft, noch kam sie zu ihm, statt dessen bearbeitete er die verschlossene Thür mit Fußstößen und Faustschlägen und schrie so lange, bis er ohne Stimme war. Endlich schlief er, auf dem Boden liegend, vor lauter Erschöpfung ein, und als er erwachte, dunkelte draußen der Abend, und am Fenster auf der breiten Brüstung kauerte eine helle, zierliche Gestalt, die klopfte mit leichtem Finger an die Scheiben und bat um Einlaß.

Verwirrt und schwindlig, mit brennenden, schmerzhaften Augen und pochenden Schläfen erhob sich der Knabe von den Dielen und öffnete das Fenster … und durch dies offene Fenster zog Liebe und Frieden und der ganze unsagbare Segen einer glücklichen Kindheit in das vereinsamte, mißverstandene kleine Herz. Die neue Schwester Käthe war’s, die Leo vor kaum vier Stunden mit ebenso mißtrauischen finstren und feindlichen Augen angestarrt hatte wie ihre Mama, die ihm die Mutter ersetzen sollte. Käthe hatte den eigenwilligen Jungen mit dem dunklen Gesicht zwar sehr unartig gefunden, aber nebenbei hatte er ihr leidgethan, und sie nahm sich’s sofort vor, sobald sie nur unbemerkt abkommen könnte, ihn trösten zu gehen. Dies hatte sich schwer ausführen lassen, da Besuch erschienen war und Mama die Anwesenheit des Töchterchens wünschte. Jetzt, während der Dämmerung, achtete niemand auf Käthe, und so kam sie zu Leo durchs Fenster. Sie brauchte keinerlei Ueberredungskünste und keine pädagogischen Kunstgriffe dem Knaben gegenüber, ihr gesunder Sinn lehrte sie instinktiv das Richtige. Sie kauerte neben Leo auf den Fußboden nieder und schob ihm ein Stück Kuchen in den Mund mit der Bemerkung: „Das hab’ ich mir in aller Stille für dich in die Tasche gesteckt – du mußt ja fürchterlichen Hunger haben!“

Der Junge nickte, halb zornig, halb kummervoll, und kaute dann tapfer drauf los.

„Du weißt doch, daß ich die Käthe bin?“ hieß es nach einer kleinen Weile.

Wieder stummes Kopfnicken.

„Und wir werden sehr fein zusammen spielen. Ich kann allerhand schöne Sachen!“

„Na – was denn für welche?“ kam es zögernd, halb widerwillig heraus.

„Figuren ausschneiden und antuschen und kleben und schnitzen –“

„Auch Pferde? Auch Hunde? Auch Soldaten?“

„Natürlich! Hat mir alles meine Mama gezeigt!“

„Die will ich nicht! Die soll wieder weggehen!“

„Soll ich denn auch mit fort?“

„Nein! Du nicht! Du kannst bei mir bleiben!“

„Ja, aber nicht ohne meine Mama! Wo die ist, da muß ich auch sein!“

„Aber die kann ich nicht leiden! Die ist nicht meine Mama!“

„Dein Papa ist auch nicht meiner, und ich muß ihn doch leiden können!“

Leo versank in Nachdenken, während er den Rest des Kuchens verzehrte. Er sah Käthe von der Seite an, wie sie da neben ihm kniete und zu ihm sprach. Die neue Mutter war ihm sehr unbequem, aber Käthe wollte er keineswegs wieder hergeben, das stand bei ihm fest.

Und er gab sie nicht wieder her – gab sie nie wieder aus seinem Herzen heraus für sein ganzes Leben. Wie sie es verstanden hatte, rasch, unvermittelt sich des Knaben Liebe zu gewinnen, so wußte sie ihn allmählich an die Mutter zu gewöhnen, wußte ihm das Herz des Vaters zurückzuerobern, bekam es fertig, ihn aus Ställen und Scheunen herauszubringen und dem ausschließlichen Verkehr mit Knechten und Kutschern zu entfremden. Käthe war es, die dem Wildling das Stillsitzen im Zimmer, das

[301]
Elefanten beim Rettungswerk.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Neumann.
[Gemeinfrei 2032. Paul Neumann-Karlsberg (1868–1961)]

[302] ruhige Zuhören und Abwarten beibrachte, Käthe, die ihm, halb spielend, den ersten Unterricht erteilte und das erste Zeugnis ausschrieb. Oft genug war er unlenksam und widerspenstig, aber die neue Schwester besaß ein Zaubermittel, das niemals fehlschlug: sie kümmerte sich dann nicht um ihn, sondern ging ruhig ihres Weges, als existierte er nicht für sie. Und das konnte Leo nicht ertragen, sie sollte da sein, durchaus und immer da sein! Die neue Mutter, eine sanfte, passive Natur, gewann wenig Einfluß auf den Knaben, ihr genügte es, wenn er nicht trotzig und unartig war, sobald sie ihn beschäftigt wußte, und die Ueberzeugung, er habe weiter keine Abneigung mehr gegen sie, sondern begegne ihr ohne jeden Zwang freundlich, befriedigte sie vollkommen. Käthe forderte viel mehr von ihm, und sie erreichte auch viel mehr. Beide hatten jetzt Unterricht, selbstverständlich gesonderten, da sie mehr als sechs Jahre älter war als er. Wie sie sich auszeichnete und beinahe immer vorzügliche Censuren davontrug, so erwartete sie es von ihm … und erwartete es nicht vergebens. In Arbeit und Spiel, in Wald und Feld, in Haus und Schulzimmer unzertrennliche Gefährten so wuchsen die zwei zusammengebrachten Geschwister heran, für zahlreiche Eltern unverträglicher Kinder in der Nachbarschaft ein willkommenes Beispiel. „Seht doch Leo und Käthe an, wie sie sich lieben, und das sind nicht einmal rechte Geschwister!“

Der neuen Ehe blieben Kinder versagt, und vielleicht trug dieser Umstand dazu bei, das Band, welches Bruder und Schwester umschloß, noch fester zu knüpfen, da sie mit niemand zu teilen brauchten und ganz aufeinander angewiesen waren. Groß war der beiderseitige Kummer, als es nach einigen Jahren glücklichsten Beisammenseins zur ersten Trennung kam, das fünfzehnjährige junge Mädchen sollte den landesüblichen „letzten Schliff“ in der Residenz bekommen, der neunjährige Junge mußte auf’s Gymnasium, zunächst auf dasjenige einer nahen Kleinstadt, wo die Eltern ihn besser überwachen und des öfteren sehen konnten.

Leidenschaftlich schmerzliche Abschiedsscenen wechselten fortan mit stürmischem Wiedersehensjubel. Käthe gefiel sich wohl in der Residenz und ging mit Eifer ihren mannigfachen „Studien“ nach, aber was war das alles gegen ihr Leben mit dem „Zigeuner“ – sie nannte ihn unweigerlich so! – gegen ihre gemeinsamen Streifzüge durch Wälder und Wiesen, ihre endlosen Plaudereien, ihre Kindheitserinnerungen und Zukunftspläne. Und was waren Leos Schülererlebnisse, sein Pensionsleben, seine Lehrer und Kameraden gegen diese „seine Käthe“, der man alles sagen konnte, die alles verstand – Freundin, Schwester, Lehrerin, „famoser Kerl“, alles in einer Person. Sie wollten nie heiraten, die beiden, das stand für sie ganz fest! Nach ihrem Lebensplan wurde Leo Landwirt, übernahm später Papas Gut und Käthe zog zu ihm und führte sein Hauswesen … Punktum! –

Doch der Mensch denkt, und Gott Amor lenkt! Leo war knapp vierzehnjährig und eben zur Obertertia aufgerückt, da nahmen die Briefe der zwanzigjährigen Käthe eine sonderbare Färbung an, die Schreiberin verwickelte sich in schwierige und langatmige Perioden – – wie man nie wissen könne, was da komme – und wie man sich hüten müsse, in wichtigen Dingen etwas vorauszubestimmen – und wie sie jetzt leider kein Kind mehr sei … das heißt, sie meinte eigentlich nicht „leider“, denn sie wolle um keinen Preis wachsen – und von dem Zug des Herzens, den man durchaus als des Schicksals Stimme ansehen müsse, selbst wenn man sich genötigt sehe, darüber wortbrüchig zu werden – ihrer schwesterlichen Liebe sei ihr goldener, lieber, alter „Zigeuner“ ja für allezeit sicher … Der arme Leo griff sich an den Kopf und citierte. „Herr, dunkel ist der Rede Sinn“. Aber er blieb ihm nicht lange mehr dunkel!

Eine schöngestochene Anzeige klärte ihn alsbald auf, und diese Anzeige besagte in wohlgesetzten Worten, daß Fräulein Katharina Merwin sich mit Herrn Rechtsanwalt Trautwein in der Residenz verlobt habe. Der arme kleine „Zigeuner“ war wie vom Donner gerührt, er weinte in der Einsamkeit seines Zimmers die bittersten Thränen, er schwor sich zu, diesen Rechtsanwalt Trautwein zu hassen wie seinen ärgsten Feind, er sagte sich, diese verlobte Katharina Merwin sei gar nicht „seine“ Käthe mehr, sei eine fremde Dame, mit der er nichts zu teilen habe und sein Gratulationsbrief, der achte, der endlich fertig wurde, denn sieben hatte er als unbrauchbar zerrissen, war ein nichtssagendes, steifes, wohlstilisiertes Schriftstück, an dem keine Schwester der Welt ihre Freude haben konnte. Es half alles nichts! Käthe schrieb umgehend, Leos Brief sei einfach „ein Scheusal“ gewesen, im übrigen aber sei sie so grenzenlos glücklich durch ihren Gustav und ihr Gustav durch sie, daß niemand und nichts in der Welt diese Seligkeit stören könne, und ihr goldiger „Zigeuner“ solle nur zu den Ferien kommen und sehen, was Gustav für ein seltener Mensch wäre – ein Mensch, wie er überhaupt nur einmal im Leben vorkäme! Und Gustav ließe seinem Schwager Zigeuner sagen, er liebe ihn jetzt schon brüderlich und freue sich von Herzen, im Bunde der Dritte zu sein … Ach, eine goldechte Brautepistel, für die nur der arme Leo nicht das mindeste Verständnis besaß und kein Atom von gutem Willen, um zu einigem Verständnis zu gelangen!

Es war nicht zu umgehen, den geliebten Gustav kennenzulernen, und trotzdem Rechtsanwalt Trautwein in der That ein liebenswürdiger Mann war und alles that, die Sympathie seines jugendlichen Schwagers zu gewinnen – es wollte nicht recht werden. Der Zigeuner ballte zwar nicht mehr die Fäuste, noch setzte er die Zähne aufeinander und ließ sich einsperren, aber er blieb kühl und förmlich dem neuen Anverwandten gegenüber, und zu einem Bündnis zu Dreien kam es nicht. Leo ließ in seinem Herzen dem Rechtsanwalt jede Gerechtigkeit zu teil werden … er gab zu, der Mann war gut aussehend, intelligent, angenehm – alles recht! Nur hätte er ihm die Käthe nicht wegnehmen sollen, das konnte, nein, das konnte ihm der Zigeuner nimmermehr vergeben! Die Schwester hatte seine anfängliche Reserve bald überwunden, ihr gegenüber hielten Förmlichkeit und Kälte nicht stand, aber je mehr Leo sie, die in ihrem Glück doppelt reizend war, liebte und bewunderte, um so mehr zürnte er dem „fremden“ Menschen, der sie „ihm fortgenommen“ hatte.

Auf der fröhlichen Hochzeit, die mit allem Glanz, den das Gräfenbergsche Haus irgend aufzubieten wußte, gefeiert wurde, war der „kleine Zigeuner“ wie die ganze Nachbarschaft ihn nannte, ein stiller Gast – ja, wirklich, man konnte beinahe „Gast“ sagen, obwohl er in seinem Vaterhaus war. Da der Wohnsitz des jungvermählten Paares die Residenz und diese eine Tagereise von Leos Provinzstadt entfernt war, so gab es für den Knaben so bald kein Wiedersehen mit Schwester Käthe, nicht eher, als bis nach Jahresfrist dort ein Töchterchen geboren und der Bruder zur Taufe geladen wurde.

Wieder erschien ihm „seine Käthe“ in einem ganz neuen Licht, wie sie ihm nun zum erstenmal entgegentrat in ihrem jetzigen Heim, mit dem schlafenden Kindchen im Arm, das Leos Nichte sein sollte.

„Zum Paten kann ich dich natürlich nicht nehmen, mein Zigeuner,“ sagte Frau Käthe und fuhr ihm mit liebevoll streichelnder Hand über das dunkle Gesicht, „weil du nämlich noch nicht konfirmiert bist. Aber ich hab’ etwas anderes für dich gethan, was dir hoffentlich beweisen wird, wie du immer in meinen Gedanken bist und welchen Platz du, nach wie vor, in meinem Herzen einnimmst, trotzdem du dich die ganze letzte Zeit hindurch, gelinde gesagt komisch benommen hast.“

Und als der feierliche Taufakt vollzogen wurde, da erwies es sich, daß die „Kronprinzessin“ den Rufnamen Leonie erhielt dem „Onkel Zigeuner“ zu Ehren, trotzdem Rechtsanwalt Trautwein sowohl als seine Gemahlin eine entschiedene Antipathie gegen alle ungewöhnlichen Namen hegten. – Leo stand mit einem scheuen, gerührten Lächeln, in unbeholfener Haltung da und sah auf das winzige Ding von einem Menschenkinde, das man ihm in die Arme gelegt hatte, nieder.

„Denk’ nicht, daß du nichts weiter mit der Sache zu thun hast, als ‚Schön Dank’ zu sagen“, bemerkte Frau Käthe schelmisch. „Da du in einem halben Jahr ganz hierher übersiedelst, um der Wohlthat eines Residenzgymnasiums teilhaftig zu werden, und dann ein Mitglied unserer Häuslichkeit sein sollst, so hast du dich um diese deine angestammte Nichte Leonie Trautwein zu bekümmern hast, sie zu lieben, an ihrem leiblichen und geistigen Gedeihen den lebhaftesten Anteil zu nehmen und deinerseits alles dazu beizutragen, daß sie ein Glück und Stolz ihrer Eltern wird, befähigt, Götter und Menschen zu erfreuen!“

[303] Der Zigeuner erwiderte zunächst kein Wort auf diese wohl gesetzte Rede, aber als er nach Verlauf von sechs Monaten wirklich nach der Residenz und zu Trautweins ins Haus kam, traf er alle Anstalten, die Ermahnungen seiner Schwester in Thaten umzusetzen. Er hatte nie irgend welches Interesse für kleine Kinder gehabt – und welchem fünfzehnjährigen jungen Menschen könnte man das ohne weiteres zumuten? – aber die kleine Leonie … ja, das war eben eine Ausnahme! Konnte es auf Gottes weiter Welt noch andere Kinder geben, die so entzückend, so reizend waren, so lieblich zu bitten, so lustig zu lachen, so klug auszusehen wußten? Leo war felsenfest davon überzeugt, daß die Kleine einzig in ihrer Art sei. Er trug seine Bücher und Hefte ins Kinderzimmer hinüber, um dort zu arbeiten, während sie schlief, und ihr auch dann nahe zu sein, er fuhr sie in ihrem Wägelchen im Garten spazieren und nahm sie auf den Arm, sobald sie unruhig wurde. Er war nicht dazu zu bewegen, sich schlafen zu legen, sobald das Kind einmal krank war, er leitete ihre ersten Gehversuche und brachte ihr die erste Puppe. Wenn Leonies Eltern in Gesellschaft gingen, so wußten sie ihre Kleine bestens aufgehoben.- Leo war ja da und hütete sie wie sein Augenlicht.

Jedermann kann es sich denken, daß „Onkel Zigeuner“ sich für ein kleines Kind, das eben reden lernt, ganz besonders schwer ausspricht, dennoch war dies das erste, was die „Kronprinzessin“ sagte … so verstümmelt und undeutlich zwar, daß nur die geschärften Sinne des zärtlichen Onkels herausfanden, was das Kind eigentlich meinte. Aber das Glück und der Stolz von „Onkel Zigeuner“! Er mußte sich die Neckereien damit noch jahrelang gefallen lassen. Ach, mochten die Leute … Er wußte, was er gehört hatte!

Vier Jahre war Leonie alt, da hatte der Onkel das Gymnasium absolviert und sollte auf die landwirtschaftliche Akademie gehen, um sich auf seinen künftigen Beruf vorzubereiten. Was ihn die Trennung von dem Kinde kostete, erfuhr niemand, und das Kind selbst verstand es noch nicht. Er hatte geglaubt, sich von Schwester Käthe schwer losreißen zu können, er fühlte jetzt, welch’ leichter Abschied das gewesen war, nun es galt, von seiner Nichte Leonie zu scheiden.

Reizend genug war sie, seine „Angebetete“, wie die Freunde des Hauses sie nannten. Fein und zierlich gebaut wie ein Wachspüppchen, mit behenden Gliedern ganz hellem weichem Seidenhaar und lichtblauen Augen. Wenn sie auf „Onkel Zigeuners“ Knieen saß und er sein dunkles Haupt auf sie herabneigte, welch’ wunderlichen Kontrast dann diese beiden bildeten! Es hörte niemand, wenn er, ihr Händchen an seine Lippen gedrückt, dicht an ihrem Ohr ganz leise fragte. „Wirst du mich auch nie, nie vergessen?“ Die Kleine sagte jedesmal sehr ernst. „Nein, nie!“ und auf die zweite Frage. „Wen hast du am liebsten?“ lautete regelmäßig die Antwort. „Onkel Zigeuner!“

Ach, aber Trennung ist eine gefährliche Sache bei Kindern! „Aus den Augen, aus dem Sinn!“ – wenn überhaupt, so paßt das schlimme Sprichwort bei ihnen. Das wußte Leo nur zu genau, und er traf seine Maßregeln, so umsichtig er nur konnte. Er schickte die schönsten Geschenke an das Nichtchen, er schrieb zahlreiche kleine Briefe, die Mama ihr vorlesen mußte, so lange, bis Leonie selbst in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens eingeweiht war. So oft er irgend konnte – auch später, als er die Oekonomie praktisch auf Gütern lernte – machte er die weite Reise zu den Seinigen, und jedesmal fand er das Kind schöner, klüger, liebreizender denn je. Es waren im Verlauf der Jahre zwei Brüder dazugekommen, aufgeweckte hübsche Jungen … aber, wie Leonie die einzige Tochter des Hauses blieb, so blieb sie auch die „Einzige“ in Onkel Zigeuners Herzen. Seine ernste, verschlossene Art – bei ihr legte er sie ab, wußte zu lachen und zu erzählen, von fremden Ländern und Menschen, wußte sich zu interessieren für Puppen und Bänder und kleine Schulgeschichten, wußte Bilder zu zeichnen und Märchen zu erfinden und hatte Geduld, so viel und so oft, daß Frau Käthe kopfschüttelnd sagte. „Mein Zigeuner, du bist mir lieb und wert, wenn du kommst, aber, verzeih’, ich seh’ es nicht ungern, wenn du wieder abfährst! Du verwöhnst uns ja das Mädchen in Grund und Boden!“ Dann pflegte er zu erwidern. „Das geschieht mit Absicht! Sie soll an mich denken, wenn ich fort bin!“

That sie das? – –

Sie war nicht so wie die meisten Kinder, darin hatte Leo recht. Sie konnte sehr heiter sein mit den Brüdern und Freundinnen lustig lachen, aber für das, was ihr das innerste Herz bewegte, fand sie keine Worte. Einmal war die Mutter zum Tode krank gewesen – die Knaben waren in Thränen aufgelöst, sogar den Vater hatte man weinen gesehen, Leonies süßes Gesichtchen war blaß bis in die Lippen, aber sie fand keine erleichternde Thräne und keine Klage, ebensowenig vermochte sie es, später in den lauten Jubel der Ihrigen einzustimmen. Sie sprach selten von Onkel Zigeuner, sie liebte es nicht, seine Briefe herumzuzeigen und ausführlich zu erzählen, was sie ihm geschrieben – „er läßt grüßen, er ist gesund“ oder „er wird im nächsten Monat herkommen“, mehr erfuhr man nicht von ihr.

„Es ist förmlich, als ob der Zigeuner ihr mit seinem Herzen zugleich etwas von seinem Temperament und seinem wunderlichen Wesen gegeben hätte!“ bemerkte Rechtsanwalt Trautwein oft halb lachend, halb ärgerlich. „Ich weiß wahrhaftig nicht, so tüchtig und ehrenwert er auch als Mensch ist, ob ich mich für das Mädel darüber freuen soll! ’s ist ein Kunststück, aus den beiden klug zu werden!“

Bevor Leo Gräfenberg nach England und Amerika ging – er sollte demnächst das väterliche Gut übernehmen, zuvor aber noch sich „drüben“ umsehen und die dortigen Systeme, Einrichtungen und Maschinen kennenlernen – kam er noch einmal zu den Seinigen, voraussichtlich sollte es für lange Zeit das letzte Mal sein. Leonie war innerhalb des letzten Jahres ungemein gewachsen, man hatte ihr lange Kleider anschaffen müssen, trotzdem sie erst etwas über vierzehn Jahre alt war. Ihr schönes freihängendes Haar war zusammengeflochten, ihr Kindergesicht mit den feinen, weichen Zügen war dasselbe geblieben, dennoch war der Eindruck, den ihre ganze Erscheinung machte, auffallend verändert, wenn man zurückdachte an das kleine Mädchen, das sie vor kaum einem Jahr noch gewesen war.

Onkel Zigeuner dachte ganz entschieden daran zurück. Und, sei es, daß ihm das Kind von damals besser zugesagt hatte als das heranreifende Mädchen von heute, sei es, daß die lange Trennung, die ihm so nahe bevorstand, ihm bereits in den Gliedern lag, sie fanden es alle im Trautweinschen Hause, daß sich in seinem ganzen Benehmen, namentlich Leonie gegenüber, ein gewisser Zwang fühlbar machte, den man früher niemals an ihm beobachtet hatte. Viel Gelegenheit zu Beobachtungen bot er seinen Verwandten freilich auch jetzt nicht. Er mußte mächtig viel Vorbereitungen zu seiner überseeischen Reise zu treffen haben, denn er blieb ganze Stunden vom Hause fort, und fragte man ihn, wo er gewesen wäre, so lautete die Antwort jedesmal: „Ich habe Einkäufe gemacht!“ Was man von diesen Einkäufen zu sehen bekam, stand übrigens in keinem Verhältnis zu dem großen Zeitaufwand, den sie erforderten.

Früher hatte der „Zigeuner“ mit anerkennenswertem Geschick jede mögliche Gelegenheit auszuspähen gewußt, um mit seinem Liebling Leonie unter vier Augen zu sein. Es schien jetzt beinahe, als wenn er eben dieselbe Geschicklichkeit aufbiete, um dem Mädchen auszuweichen. Nie mehr hieß es in der Familie. „Leonie ist natürlich wieder mit Onkel Zigeuner im Garten!“ oder „Wo der Onkel steckt?“ Frag’ nur Leonie, die muß es wissen!“ Jetzt fragte sie niemand, und sie hätte auch nichts antworten können.

Wie das Mädchen selbst diesen veränderten Stand der Dinge auffaßte, bekam natürlich kein Mensch zu erfahren. Leonie, die als „höhere Tochter“ viel für ihre erste Klasse zu arbeiten hatte, ging scheinbar unbekümmert ihres Weges und fragte nach „Onkel Zigeuner“ genau so viel wie er nach ihr … mithin so gut wie gar nicht. Auch der Trennungsakt vollzog sich leichter und rascher, als sie alle gedacht hatten, und Frau Käthe meinte hinterher. „Glaubt es mir, der Leo war schon die ganze letzte Zeit mit seinen Gedanken mehr drüben als hier bei uns. Er hat es für seine Pflicht gehalten, uns noch einen Abschiedsbesuch zu machen, aber sein Herz war nicht mehr dabei und darum hat sich der verdrehte Junge so albern benommen!“

Aber auch kluge Frauen und Schwestern können sich gründlich irren, und manche Mütter werden erst dann scharfsichtig, wenn ihre Töchter aus den Kinderschuhen heraus sind!

Thatsache war, der arme Zigeuner nahm ein sehr, sehr [304] schweres Herz mit über den Ocean. Vergeblich blieb es, daß er sich energisch vorhielt, es sei geradezu unsinnig, sich einzubilden, ein vierzehnjähriges Kind zu lieben, noch dazu die eigene Nichte, die er als Wickelpuppe im Arm gehalten hatte. Es war eben keine „Einbildung“, wie er sich’s so gern vorgeredet hätte, es war Wirklichkeit! Er nahm das Bildnis des „Kindes“, der „Nichte“ mit hinüber in seinem leidenschaftlichen, verschlossenen Herzen, und er konnte diesem Herzen nicht wehren, einen heimlichen Kultus damit zu treiben. Seine praktischen Zwecke verfolgte Leo Gräfenberg gründlich in England und Amerika, studierte Land und Leute, las einschlägige Schriften, besuchte Musterwirtschaften und besah Maschinen, ebenso gründlich aber nahm ganz gegen seinen Willen sein eigenwilliges Herz stets den nämlichen Kurs und flog der Heimat zu und einem blonden, zartgliederigen Mädchen mit schönen, tiefen Augen, die ihn, er mochte beginnen, was er wollte, beständig anblickten, als wollten sie sagen. Warum fliehst du vor uns und spielst Verstecken mit deinem eigenen Herzen? Wir sehen in dich hinein, wir wissen genau, wie es um dich steht, und lägen noch so weite Länder und Meere zwischen dir und uns!

Keinen Augenblick kam ihm im Ernst der Gedanke, nach einiger Zeit zurückzukehren und um das Mädchen zu werben. Sie sah in ihm nur den Onkel, mußte ihn sehen, und der Gedanke, ihn sich als ihren künftigen Gatten vorzustellen, konnte nie und nimmer Eingang bei ihr finden. Sie war ja, hatte sie auch die klügsten, schönsten Augen von der Welt, ein Kind, ein reines Kind, das hatte ihm ihr Benehmen bewiesen; zutraulich und liebreizend, solange er sich eingehend mit ihr beschäftigte, verschlossen und scheu, sobald er nur im mindesten nachließ, sie zu suchen. Es war noch kein eigenes Wollen und Fühlen in ihr, die Seele war noch nicht wach!

So wollte er fern bleiben und warten, bis sie verlobt oder gar verheiratet war, das konnte vielleicht solange nicht mehr dauern und dann wollte er heimkommen und „vernünftig sein“ und für Leonie ein Erbonkel werden, es mußte ja auch solche Leute geben auf der Welt.

Mithin ließ er die verwunderten Bemerkungen und Anspielungen in den Briefen von „zu Hause“ unbeachtet, ließ es geduldig über sich ergehen, wenn man ihn fragte, ob ihn eine Tochter Albions oder eine „freie Amerikanerin“ dort fessele und wie man gespannt sei auf das überseeische Ehegespons, das er sich mitbringen würde. Er litt ruhig alle Schelte, daß er nicht einmal zu Leonies Konfirmation herüberkommen wolle, zu Leonies, die doch früher sein erklärter Liebling gewesen sei. Früher – guter Gott! Er schickte eine sehr schöne, schwere Goldkette samt Perlenmedaillon („zu den Bildern der Eltern“, wie er schrieb) hinüber und blieb, wo er war.

Es traf ein Dankesbrief von Leonie ein, sehr gut stilisiert, sehr wohlgesetzt, aber herzlich nichtssagend. Sie fand die Schmuckgegenstände, die er ihr geschickt hatte, wunderschön, sie erzählte ihm von ihren sonstigen zahlreichen Geschenken, schilderte ihm den Konfirmationstag und zählte all die Wissenschaften und Künste her, in denen sie jetzt noch, nach Absolvierung der Schule, „privatim“ unterrichtet werden sollte. Der ganze Brief war wie ein wohlgelungener Aufsatz für die Selekta, es war von diesem Standpunkt aus schlechterdings nichts gegen ihn zu sagen.

Selbstverständlich lautete die Ueberschrift „Lieber Onkel!“ und die Unterschrift „Deine Nichte“. Wie sollte das Mädchen anders schreiben? Es waren die einzigen beiden Bezeichnungen, die ihm und ihr zukamen. Leo Gräfenberg sagte sich das so oft und so eindringlich vor, daß er es am Ende hätte begreifen müssen, aber immer von neuem, wenn er den Brief vornahm – und er nahm ihn leider recht oft vor – blieben seine Augen mit brennendem Vorwurf auf den Worten „Lieber Onkel!“ und „Deine Nichte“ haften, und er wiederholte voller Bitterkeit in seinem Herzen. „Natürlich! – Onkel und immer Onkel! Natürlich! Nichte – und nichts als Nichte!“

Er hatte sich’s in den Kopf gesetzt, Leonie müßte sich jetzt, da sie „endlich“ eingesegnet sei (sie zählte sechzehneinhalb Jahre!), durchaus schleunigst verloben. Er wartete förmlich darauf. Warum geschah es denn jetzt nicht, da es doch ohne allen Zweifel sehr bald geschehen mußte? Was dachte sich das Schicksal dabei, ihn so raffiniert zu martern, anstatt die Folter abzukürzen. Er war nun reichlich lange genug „drüben“ gewesen und sehnte sich nach Deutschland, nach der heimischen Scholle, auch nach den Seinigen. Zuerst aber mußte Leonie verlobt oder verheiratet sein, dann wollte er „den Strich ziehen“ und hinübergehen.

Aber mehr als ein Jahr verging, und das mit solcher Bestimmtheit erwartete Ereignis blieb aus. Statt dessen stellten sich bei Leo beunruhigende Nachrichten von dessen Vater ein. Er war mittlerweile ein alter Herr geworden und litt an einem Herzübel, das bedenklich rasche Fortschritte machte und seinem Leben keine allzulange Dauer mehr versprach. Der Hausarzt schrieb, die Stiefmutter schrieb, beide schilderten den Zustand des Kranken und wie er den einzigen Sohn herbeisehne, um ihm noch allerlei Verhaltungsmaßregeln, die ihm auf der Seele brannten, zu geben, um ihm sein Erbe, das väterliche Gut, recht warm ans Herz zu legen.

Da half kein Zögern, kein Ueberlegen. Hier war eine ernste Pflicht, die da rief, und Leo war nie der Mensch gewesen, sich einer solchen zu entziehen. Er tröstete sich mit dem Gedanken. „Ich brauche ja gar nicht nach der Residenz zu fahren, ich darf sie gar nicht wiedersehen, wenn ich nicht will!“ und so schnürte er mit einiger Umständlichkeit sein Bündel und dampfte nach Europa hinüber.

Seinen Vater fand er weit kränker, als er sich’s vorgestellt hatte. Es half nichts, sich die Wahrheit zu verhehlen – die Tage des Patienten waren gezählt, und rührend war die Freude des alten Herrn, den weitgereisten Sohn noch um sich zu haben, dessen Ansichten gegen seine eigenen einzutauschen, die überseeischen Eindrücke und Erfahrungen zu prüfen, hier zu billigen, dort zu widerraten und alles immer auf das Stammgut zu beziehen, das zu heben und zu verbessern Zweck seines Lebens gewesen war. Der Sohn war voll Pietät und Verständnis, er weilte fast immer am Bett oder Lehnsessel des kranken Mannes, reizte ihn nie durch Widerspruch, besprach eingehend Dinge mit ihm, die ihm selbst, dem jüngeren Gräfenberg, oft entweder selbstverständlich waren oder nebensächlich erschienen. Mit einem Wort, er liebte und pflegte den Vater voller Hingebung und stand in aufrichtigster Trauer an seinem Sarge, als sich die müden Augen nach hartem Kampf endlich geschlossen hatten. Es war eine stattliche Beerdigung, an der die ganze Umgegend Anteil nahm, und auch die Verwandtschaft kam von weither zugereist, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Frau Rechtsanwalt Trautwein, die sich mit Recht dessen rühmte, stets vortrefflich mit ihrem Stiefvater gestanden zu haben, ließ es sich nicht nehmen, gleichfalls zur feierlichen Beisetzung zu erscheinen, und sie brachte ihre Tochter Leonie mit.

Es war weder Ort noch Zeit für Liebesgedanken günstig, aber mitten in seinem ehrlichen Leid um den Vater schlug Leo Gräfenbergs Herz zum Zerspringen, als er das blonde Mädchen in der tiefen Trauerkleidung vor sich sah – sie war so unendlich viel reizender, als er sie in der Erinnerung bewahrt, als selbst seine geschäftige Phantasie sie ihm vorgezaubert hatte.

Er erfuhr beiläufig durch diesen und jenen, daß sie für eine Schönheit gelte und trotz ihrer achtzehn Jahre schon einige namhafte Freier heimgeschickt hätte, daß sie aber im Ruf stände, sehr wählerisch und „apart“ zu sein und nicht sonderlich viel Gemüt zu besitzen. Er mußte es mit ansehen und erleben, daß einer der umwohnenden jungen Gutsbesitzer, ein außerordentlich gut sanierter und recht hübscher Mann, die Sehnsucht vieler Mütter und Töchter, sich Hals über Kopf in die schöne Leonie verliebte und alles dransetzte, sie sich zu gewinnen; er mußte es mit ansehen und anhören, daß seine Stiefschwester Käthe, des Mädchens Mutter, demselben in seiner, Leos, Gegenwart zuredete, „nur nicht wieder die Prinzessin zu spielen“, sondern zu bedenken, was ihr hier geboten wurde, und er mußte ein Lächeln und Erröten auf diesem Gesicht sehen, das ihn um den Verstand zu bringen drohte. Es gab in der That nach des Vaters Tod viel zu thun und zu ordnen. Aber solange Schwester Käthe mit ihrer Tochter unter seinem Dach weilte, übertrieb der Hausherr diese Seine Obliegenheiten noch um ein Bedeutendes, fuhr und ritt stundenlang umher, ließ sich abends, unter dem Vorwand, zu müde zu sein, bei den Damen entschuldigen, war in aller Morgenfrühe wieder auf und davon, kam niemals heim, ohne davor zu zittern, Leonie als Braut begrüßen zu müssen, und legte sich nie nachts nieder, ohne ein

[305]

Italienische Straßensänger.
Nach einem Gemälde von Th. v. d. Beek.

[306] erleichtertes Aufatmen: „Gott sei Lob und Dank! Ich hätte auch nicht gewußt, wie ich es ertragen sollte!“

Sein eigenes Verhältnis zu dem Mädchen war kühl und förmlich. Je mehr Leonies Mutter in voller Harmlosigkeit die alten, innigen Beziehungen früherer Jahre betonte und Onkel und Nichte ermahnte, dieselben zu erneuern, je mehr sie das „Einst“ mit dem „Jetzt“ verglich und, nach Frauenmanier, zahlreiche Details beibrachte, um das damalige gute Verhältnis der beiden zu einander zu beleuchten, um so aussagender zog sich das Mädchen zurück, um so steifer und fremder benahm sich der Mann. Ihn quälte es mehr, als er es je hätte in Worten sagen können, dies Mädchen in seinem Hause zu wissen, es täglich in seiner Nähe zu haben. Dabei sagte er es sich unausgesetzt vor, wie er sie vermissen würde, wie ihm Haus und Garten, Wald und Feld leer und ausgestorben erscheinen müßte ohne sie. Er kostete jetzt schon den Trennungsschmerz durch, malte sich’s aus, wie es sein würde, von Zimmer zu Zimmer zu gehen und nie mehr die schlanke, leichte Gestalt mit dem holden zarten Gesicht zu sehen. Wenn auch! Ihr Schritt trieb ihm das Blut zum Herzen, ihre Stimme ließ ihn zusammenschrecken, wie wenn er eine böse That begangen hätte, und als er vollends zufällig einmal hörte, wie sie ihre Mutter bat, bald mit ihr heimzureisen, war seine Seele randvoll mit Bitterkeit angefüllt. „Natürlich! Sie will mit Gewalt fort! Sie kann es schon nicht mehr abwarten, aus der Nähe von mir häßlichem Kerl zu kommen.“

Der Zigeuner war nie eitel gewesen und hatte aus der Betrachtung seines äußeren Menschen nie ein Studium gemacht. Jetzt that er das und das Resultat fiel nicht zu seinem Trost aus. Er fand sich häßlich, unsagbar häßlich mit seinem braunen Kolorit, den dichten schwarzen Brauen, den finsteren dunklen Augen. „Solch’ ein Gesicht, wie ich es habe“, entschied er bei sich, „kann nie und nimmer einem jungen Mädchen gefallen“. Kein Wunder, wenn die Leute oft auf der Straße stehen bleiben und mir nachstarren! Wie ein Verbrecher seh’ ich aus, wie ein Mensch, der einen Mord auf seinem Gewissen hat! Wenn mich ein Mädchen zum Mann nehmen würde, so wär’ es höchstens eine Arme oder Häßliche, die Angst hat, sonst keinen Mann zu bekommen, oder die mich für eine gute Partie hält. Bei ihr fällt das natürlich ganz fort, es wäre also lächerlich, auch nur den leisesten Versuch zu machen, ob ich ihr am Ende gefallen könnte. Und lächerlich machen will ich mich nicht!“

(Schluß folgt.)

Unseres Aeltesten erster Schulgang.

Erlebnisse und Gedanken einer Mutter. 0 Von Regine Busch.

Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus. Seitdem der Tannenbaum geplündert ist und die neuen Weihnachtsspielsachen ihrer Natur nach entweder gleich entzwei gemacht worden sind oder sich zu treuen Spielkameraden entwickelt haben, leben wir im Schatten des großen Ereignisses. Unser Aeltester kommt Ostern zur Schule.

Es ist ein Vorrecht des ältesten Kindes, daß seine Eltern mit ihm und an ihm alle Elternsorgen und Elternfreuden zum erstenmal erleben, zum erstenmal, das will sagen, so frisch, so lebhaft wie kein zweitesmal wieder, denn auch hier stumpft die Gewohnheit ab. Noch sind wir es nicht gewohnt, ein Schulkind zu besitzen, wir sehen der Sache mit glühender Spannung entgegen.

Am gleichmütigsten benimmt sich entschieden die Hauptperson dabei. Auf die zahlreichen Anfragen seiner zahlreichen Tanten. „Freust du dich denn recht auf die Schule?“ pflegt unser Junge, die Hände in den Hosentaschen haltend, herablassend zu antworten. „Das kann ich doch jetzt nicht wissen, wie es da ist. Das muß ich mir doch erst ’mal ansehen.“

Diese zärtlichen Anfragen hört er zu Hause weniger, aber an Anklängen auf das kommende, unabwendbare Schicksal fehlt es ihm auch hier nicht. Der Vater pflegt einigemal am Tage loszudonnern. „Junge, wenn du erst zur Schule gehst, wird dir das schon ausgetrieben werden. Das Kindermädchen bemerkt öfters höhnisch. „An dir wird der Lehrer auch noch seine Freude erleben“. Und die Köchin ruft ihm energisch nach, wenn er vor ihr quer über den feuchten, frischgeseiften Fußboden rennt. „Gott sei Dank, wenn wir dich bald los sind.“ Der kleine Bruder stellt sich dunkel eine kommende, goldene Zeit der Freiheit vor und meint: „Und dann krieg’ ich alle Hans’ seine Spielsachen.“

Die Mutter ist die einzige, die ihn vermissen wird. Ja, ich werde ihn entbehren, trotzdem er mich mit seinem ewigen „Warum?“ und unausstehlichen „Was soll ich jetzt ’mal thun?“ – gründlich plagte, trotzdem ich einsehe, daß Pflicht und Arbeit in sein kleines Leben herein muß, ich werde ihn entbehren, trotzdem und alledem.

Der erste Schritt ist’s, den ich nicht mit dir thun kann, mein Junge! Eine unbekannte dritte Größe kommt in unser Leben herein, und wir werden wohl beide noch oft genug unzufrieden mit ihr sein, wenn auch jeder auf seine eigene Faust und Art. Wir können auch beide nicht viel dagegen ausrichten, und ich darf dir nicht einmal recht geben, mein Sohn, gegen diese fremde Schulmacht.

Auch in unser Haus und die süßen Gewohnheiten des Daseins, in die wir uns miteinander eingelebt haben, greift die Schule unbarmherzig ein. Ich sehe unseren schönen Morgenschlaf dahinschwinden, denn unerbittlich pünktlich fordert sie unser Schulkind reingewaschen und sattgegessen an jedem Morgen.

Und sind ’mal Ferien, so fallen die ja nach Ansicht aller Eltern immer in eine Zeit, wo man die Kinder wirklich schlecht zu Hause gebrauchen kann, und nie hübsch mit dem guten Wetter und der besten Zeit zur Sommerreise zusammen.

Und dann das schlimmste von allem, die Schularbeiten!

„Ach,“ sagte mir eine Mutter neulich seufzend, „nun sind Ihre guten Tage auch bald vorbei. Sie glauben nicht, wie dies Arbeiten mit den Kindern aufreibt! Ich sitze den ganzen Nachmittag bei unserm Max und die teueren Nachhilfestunden hat er außerdem, und doch ist’s sehr fraglich, ob er Ostern versetzt wird.

Auf meinen freundlichen Vorschlag, ihn doch ruhig sitzen bleiben zu lassen, hatte die Dame nur einen sittlich entrüsteten Blick. „Würden Sie denn diese Schande an Ihrem Kinde erleben wollen?“

Ja, diese sogenannte Schande wäre mir entschieden lieber als solch ein künstliches, ungesundes Nachhelfen und Durchziehen, das die Kinder auf Kosten ihrer natürlichen Entwicklung treibt und hetzt und sie denkfaul und unselbständig macht.

Diese Treibhausresultate halten doch nicht im Leben, kaum in den höheren Schulklassen vor. Einem schwachbegabten Kinde werden wir natürlich zu Hause mit Vernunft und Geduld beistehen müssen, damit es den Ansprüchen der Schule möglichst folgen kann. Ich meine aber, für ein normal begabtes Kind müßte es genügen, wenn ihm im Elternhause die nötige Ruhe und eine bestimmte Zeit zum Arbeiten gegeben wird und nicht noch wer weiß welche Hilfsmannschaften aufgeboten werden. Wie sollen Pflichtgefühl und Ausdauer in unserm Kinde groß werden, wenn wir es nicht die Verantwortung für seine Arbeit selbst tragen lassen? Warum sollen wir es künstlich, nur um unsern eigenen Ehrgeiz zu befriedigen, vor allen Schulstrafen bewahren? Laß es doch hier schon lernen, daß Schuld und Strafe sich unerbittlich folgen.

Ja, mein Aeltester, wir wollen erst unsere Erfahrungen miteinander machen, aber ein Sklave deiner Schularbeiten will ich nicht werden. Aber ich will ein Anderes, ein Besseres: Ich will für dich und mich einen Segen von deiner Schulzeit, deinem Lernen haben. Wir jungen Frauen tragen so viel halbes Wissen mit uns herum und so viel Sehnsucht nach mehr Klarheit und echter Bildung!

Unsere Mütter vor uns haben das nicht oder doch nur dumpf gefühlt, die Generation nach uns findet vielleicht von vornherein einen besseren, gesünderen Bildungsweg als den, welchen wir als „höhere Töchter“ wanderten. Wir jungen Mütter fühlen demütig die Mängel der eigenen Erziehung. So groß ist die Verantwortung für die Seelen unserer Kinder; so ungenügend unsere Vorbildung, unsere Kraft.

[307] Da heißt es, die Hände demütig falten und um Weisheit beten wie Salomo. Es heißt aber auch, treu an sich arbeiten und nicht müde werden in dem Streben nach Selbsterziehung.

Und doch sind wir Mütter vor den anderen Frauen unserer Zeit zu beneiden um das köstliche Vorrecht, eine zweite Jugend und Lehrzeit mit unseren Kindern erleben, ein zweites Mal mit ihnen, für sie lernen zu dürfen.

Ein köstliches Vorrecht ist’s und eine ernste Pflicht zugleich für die Mütter, denn die Väter sind heutzutage leider meist so vielgeplagt und vielbeschäftigt in Amt und Beruf, daß ihnen wenig oder keine Zeit für die Beobachtung der Studien, der Entwicklung des einzelnen Kindes bleibt. Wir Mütter aber sollen Zeit für unsere Kinder haben, auch wenn wir Zeit für nichts anderes haben.

Das ist meine Sehnsucht und Hoffnung für mich, mein Sohn, so möchte ich deinen Weg durch die Schule mit dir wandern, nicht im buchstäblichen Mitlernen, „Mitochsen“, aber in inniger Gemeinschaft und Teilnahme an deinen Gedanken und Studien, an deiner ganzen Entwicklung. Nur so kann ich auch bleiben, was ich bisher gewesen bin, dein bester Kamerad.

Volles Vertrauen und allseitige Hochachtung wird gewiß nur die Mutter bei ihrem Sohne finden, die in treuer geistiger Gemeinschaft mit ihm durch seine Schuljahre wandert und der ihr Kind nicht fremd geworden ist, wenn die Jahre der Versuchung an es herankommen. Dann lassen wir Mütter uns viel zu leicht aus dem Felde schlagen und sollten doch gerade dann unsern klaren Mutterblick und Einfluß nicht aufgeben, sollten gerüstet sein, auch dann unseres Sohnes Vertraute und bester Freund zu bleiben. Mir hat immer der Rat eines Vaters an seinen Sohn beim Abschied aus dem Elternhause so gut gefallen: „Thue nichts, was deine Mutter nicht sehen darf.“ Glückliche Mutter, deren Sohn so durch das Leben geht! Er besitzt das eine Köstliche, das viel besser ist als alle Gelehrsamkeit und jede Carriere: ein reines Herz. Ein alter Pädagoge hat mir einmal gesagt: „Die Schulzeit giebt uns nicht immer Aufschluß über die Begabung eines Kindes, die Entwicklung ist oft zu langsam, zu unberechenbar, aber ganz klar zeigt sich schon in der Schule der Charakter jedes Kindes.“

Ich habe gefunden, daß der Mann recht hat. Wir Eltern legen alle viel zu viel Wert auf die sogenannte Begabung unserer Kinder und achten nicht genug auf ihre Charakter- und Herzensbildung. Und zu welch einem Elend werden doch reiche Gaben und Kenntnisse ohne den festen Untergrund und sicheren Halt eines sittlichen Willens!

Und so will ich zufrieden sein, wenn du dich wahr und gut zeigst, mein Junge. Dann sei immerhin keiner von den vielgepriesenen „Besten und Ersten“, dann will ich dich sogar nicht als Familienschandfleck betrachten, wie das jetzt so Sitte ist, wenn du einmal sitzen bleibst.

Nicht, als ob ich das für möglich oder wahrscheinlich hielte! –

Welche von den Tausenden von Müttern, die heute einen Sohn zur Schule geben, hielte so etwas nicht für einfach unmöglich bei ihrem „aufgeweckten, begabten Kinde“? – O, wir thörichten Mütter! – Der Dichter hat uns doch erkannt, wenn er uns an der Wiege des Sohnes träumen läßt:

„Wachset, ihr Lorbeern im Wald,
Sprießet und grünet, wie bald
Werden die Fürsten euch winden zu Kränzen,
Auf meines Lieblinges Scheitel zu glänzen.

Sänger und Schreiber, merkt auf
Mein Held vollbringt seinen Lauf,
Spannt Pergament und schneidet euch Kiele,
Stimmet die Psalter, die Harfen zum Spiele,
Deinem Ruhm wird die Erde zu klein,
Schlafe, mein Söhnchen, schlaf ein.

Ja, so sind wir, und das eine wünschen und träumen wir, wenn wir mit dem ersten Jugendtraum fertig sind und unser Liebes- und Lebensschicksal gefunden haben: einen guten, einen großen Sohn. Ein Köstliches ist es doch um diese stolze Mutterliebe, das Köstlichste vielleicht, daß sie eben so rein und heiß bleibt, auch wenn sie all ihren Stolz, ihre Selbstsucht mit tausend Thränen begraben muß, wenn ihr Held nur ein armes schwaches Menschenkind oder gar ein verlorener Sohn wird. Und vielleicht ist dann erst diese Liebe am gewaltigsten, am göttlichsten.

Ja, auch ich träume manchmal von einer goldenen Zukunft für dich, mein Sohn aber meine wachen Augen sehen das weite, wilde Leben um uns her und seine Opfer und ich will Gott danken, wenn du nicht ein großer, aber ein guter Mensch wirst.

Wie weit meine Gedanken hinauswandern in die dunkle, kommende Zeit, weit weg von unserm blonden Jungen – der heute zum erstenmal zur Schule ging! Der Vater hat ihn natürlich hingebracht. Das Vaterrecht scheint überhaupt mit diesem Tage kräftig einzusetzen. Ich wäre gern mitgegangen und fühlte mich vollberechtigt, ihn dem Lehrer selbst zu übergeben – aber das wurde nicht geduldet, diese Männer machen das alles unter sich allein ab.

Ich habe auch den großen Wunsch, Herrn Müller kennenzulernen, das ist nämlich der Mann, der unserm Sohne der Weisheit Pforten aufschließen soll. Es beruhigt mich sehr, daß er das Ideal aller Mütter ist und diese vielen kleinen Männer in Kniehosen und Schnürstiefeln merkwürdig richtig verstehen und behandeln soll. Ich habe den festen Vorsatz, irgendwie demnächst Herrn Müllers Bekanntschaft zu machen. Von ihm hören werden wir ja von jetzt an genug, da unser Aeltester ihn nach Kinderart gewiß zum wichtigsten Gesprächsthema bei Tisch machen wird.

Einige von unseres Jungen Schul- und Schicksalsgefährten kenne ich schon, da ich mir eine Auswahl derselben aus bekannten Familien – es ist nämlich ein recht gesegneter Jahrgang – in seinem Interesse zu uns einlud, zum gegenseitigen „Kennenlernen“.

Dies bestand in der Hauptsache aus einer großen Toberei und allgemeinen Prügelei, gesprochen wurde nicht viel, am wenigsten von der Schule.

Die Vorbereitungen für den heutigen Tag waren überhaupt in umfassender Weise getroffen. Der Vater hatte selbst den „Tornister“ ausgesucht und mit viel Vergnügen bezahlt. Ich vermute, daß dies der Reiz der Neuheit von derartigen Anschaffungen war und dieser Enthusiasmus bei dem unausbleiblichen häufigen Fordern von Tafeln, Griffeln und Schulbüchern sich sehr bald legen wird. Er hatte sodann seinen Sohn zur unwürdigen Vorbereitung ganz kahl scheren lassen und ihn entschieden damit nicht verschönert. Das ganze Haus war natürlich heute zu ungewöhnlich früher Stunde schon in Bewegung.

Der Junge hatte den Ranzen eine volle Stunde vorher schon umgeschnallt und konnte den Abmarsch gar nicht erwarten. Von Rührung bei ihm keine Spur, es ist ja „was Neues“!

Wir waren zum Abschiednehmen alle am Flur um ihn versammelt. Er ist zur Feier des Tages so gründlich gewaschen, daß er ganz unheimlich glänzt. Lustig leuchtet ihm die weiße Kopfhaut durch das kurzgeschorene, helle Haar. Ich streiche ihm den Matrosenkragen glatt und binde noch einen Schlips über den „geschonten“ Schulanzug.

„Mach’ keinen Affen aus dem Jungen,“ sagt unser Hausherr und Vater. „Er muß von jetzt an männlicher angezogen werden, ich werde mich in Zukunft um die Sache bekümmern.“

Vor mir steigt eine traurige Vision auf. Im grauen, vertragenen Anzuge, mit viel zu kurzen Aermeln und Hosen aller Anmut bar, sehe ich meinen Jungen mit seinesgleichen hordenweise zur Schule wandern, in den Jahren, wo kein Junge lieblich anzusehen ist – oder ist jeder es auch dann noch für seine Mutter?

Köchin und Kindermädchen kommen voll Teilnahme zum Abschiednehmen. Die kleinen Geschwister stehen in stummer Bewunderung umher. „Nun voran!“ sagt der Vater.

Ich küsse unseren Jungen auf die Stirn und lege meine Hand auf seinen runden blonden Kopf. Wir Eltern tauschen Blick und Händedruck.

Dann geht unser Aeltester fort an seines Vaters Hannd, so voller Erwartung, Leben und Freude. Mir kommt‘s vor, als ginge er weit, weit weg von mir – und leise ziehen mir die Eichendorffschen Worte in der wundervollen Schumannschen Melodie durch den Sinn.

„Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir,
Und seh’ ich so kecke Gesellen,
Die Thränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ’ uns liebreich zu Dir!“

[308] 0


Blätter und Blüten.

Anna Schepeler-Lette. In dem Artikel „Das Haus der Berliner Frauen“ hat Max Ring im Jahrgang 1874 der „Gartenlaube“, S. 400, die Gründungsgeschichte des „Vereins zur Erwerbsthätigkeit des weiblichen Geschlechts“ erzählt. In dem Garten des Vaters der deutschen Genossenschaften, Schulze-Delitzsch, zu Potsdam wurde an einem Herbsttage 1864 das Los der unverheirateten Mädchen besprochen und der an diesem Gespräch teilnehmende, durch seine humanen Bestrebungen rühmlichst bekannte Präsident Adolf Lette faßte den Entschluß, jenes beklagenswerte Los durch die Gründung eines entsprechenden Vereines zu mildern. Am 26. Februar 1866 konnte der obengenannte Verein gebildet werden und begann unter dem Vorsitz und der Leitung Adolf Lettes seine gemeinnützige Thätigkeit zu entfalten. Nach dem im Jahre 1868 erfolgten Tode des Gründers übernahm der berühmte Professor von Holtzendorff die Leitung des Vereins, bis er im Jahre 1872 infolge von Ueberbürdung mit Berufsgeschäften sich genötigt sah, das Ehrenamt niederzulegen. An die Stelle der beiden hochverdienten Männer trat nun Frau Anna Schepeler-Lette, die Tochter des Gründers und die Erbin seiner Pflichttreue und seines unermüdlichen aufopferungsvollen Wirkens für das Gemeinwohl.

Anna Schepeler-Lette.
Nach einer Aufnahme der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins in Berlin.

Frau Anna Schepeler-Lette wurde im Jahre 1829 zu Soldin geboren. Im Jahre 1848 begleitete sie ihren Vater nach Frankfurt a. M. und hier lernte sie den Großhändler Schepeler kennen, dessen Gattin sie wurde. Ihr Eheglück wurde leider durch Krankheit und Tod ihrer Kinder sowie ihres Mannes getrübt. Als Witwe zog Frau Schepeler-Lette im Jahre 1866 zu ihrem Vater nach Berlin und suchte im gemeinnützigen Wirken Trost und Erhebung. Ihrem klaren und praktischen Blick für die Bedürfnisse und die Erschließung von Hilfsquellen nebst ihrer ruhigen konsequenten Ausdauer im Verfolgen der einmal gesteckten Ziele verdankt der Verein sein ungeheures Wachstum und die glänzenden Erfolge seiner sämtlichen Anstalten. Es sind deren eine stattliche Zahl: Handels-, Gewerbe-, Frauenarbeits-, Zeichen- und Modellierschulen mit allen Haupt- und Nebenfächern, photographische Lehranstalt, Setzerinnenschule, Koch- und Haushaltsschule, Lehrkurse der feinen weiblichen Kunstarbeiten etc. Ueberall weiß die Leitung das praktische Bedürfnis zu Grunde zu legen und die entsprechende Schulung in mustergültiger Weise zu erreichen. Tausende verdanken heute dem Lette-Verein ihre Erwerbsfähigkeit und bürgerliche Existenz, sie alle haben sich am 23. April dankbar der edlen Frau erinnert, welche an diesem Tage vor 25 Jahren die Vereinsleitung übernahm und unter zahllosen persönlichen Opfern bis auf den heutigen Tag in so ausgezeichneter Weise führte.

Hexenreiten in der Priegnitz. (Zu dem Bilde S. 293) Die Walpurgisnacht, die dem 1. Mai, d. h. dem Tage der heiligen Walpurgis, vorangeht, stand bei unseren Vorfahren in üblem Rufe. In ihr sollten ja die Hexen auf Besen oder Böcken nach den Blocksbergen durch die Lüfte reiten, um am Hexensabbath mit dem Teufel teilzunehmen. In jener Nacht sollten auch alle dämonischen Kräfte besonders entfesselt sein und da sollte es besonders leicht fallen, verschiedene böse Künste auszuüben. Kein Wunder, wenn abergläubisches Volk in dieser Nacht besondere Furcht empfand. In den kleinen Städten der Provinz Brandenburg, namentlich in der Priegnitz, hat sich bis heute der Brauch erhalten, der an die alten Schrecken der Walpurgisnacht gemahnt. Am 30. April findet dort noch das Hexenreiten statt. Ein kräftiger Junge verkleidet sich mit Unterrock und Maske als Hexe, benutzt den Besen als Steckenpferd und rennt die Straßen entlang. Aber die Kinder des Orts sind auf seinen Empfang gerüstet, sie machen mit Kreide drei Kreuze an ihre Hausthüren und nachdem sie so ihr Heim gegen böse Geister gesichert haben, begeben sie sich auf Verfolgung der Hexe, die unter großem Gejohle aus der Stadt vertrieben wird.

Am Himmelfahrtstage in der Erlöserkirche zu Moskau. (Zu dem Bilde S. 297) In der Nähe des Kreml, der alten Krönungsburg der Zaren, erhebt sich am linken Ufer des Moskwaflusses die Erlöserkathedrale, die zu den schönsten und reichsten Kirchen der Welt zählt und zugleich eine russische Ruhmeshalle bildet. Sie wurde errichtet, um Gott Dank zu zollen für die Befreiung Rußlands von der Invasion durch die Heere Napoleon I.

Fünf gewaltige Kuppeln überragen das Gebäude, dessen Grundform ein gleichseitiges Kreuz bildet. Zur Vergoldung der Kuppeln allein wurden 422 Kilogramm Gold verarbeitet. Die Kirche erreicht eine Höhe von 102,6 m bedeckt eine Fläche von 6828 qm und der für das Publikum bestimmte Innenraum allein kann 7200 Menschen fassen. Außer religiösen Darstellungen schmücken die Kirche zahlreiche Tafeln, Gemälde und Skulpturen, die an Ereignisse aus der Geschichte Rußlands, namentlich aus den Jahren 1812 bis 1814 erinnern. Besonders prachtvoll ist im Innern der Erlöserkathedrale der Ikonostas gestaltet. Darunter versteht man die mit Heiligenbildern geschmückte Wand, die in griechischen Kirchen das Allerheiligste von dem Hauptraum trennt. Der Ikonostas der Erlöserkirche ist auf unserm Bilde sichtbar; er hat die Form einer achtseitigen Kapelle, die aus weißem, reich verziertem Marmor aufgeführt ist. In seinem Innern steht der Altar. – Die Kosten für den Gesamtbau der Kirche, die ein Prachtwerk der griechisch-byzantinischen Architektur darstellt, betrugen über 33 Millionen Mark.

Da die Erlöserkirche am Himmelfahrtstage im Jahre 1883 eingeweiht wurde, so findet alljährlich an diesem Festtage ein besonders feierlicher Gottesdienst statt, an dem sich einige der höchsten Würdenträger der russischen Kirche beteiligen. Eine solche religiöse Feier ist auf unserm Bilde dargestellt. Im Hintergrunde vor dem Ikonostas, stehen drei hohe Geistliche, zu beiden Seiten die Sänger. Instrumentalmusik findet in der russischen Kirche bekanntlich nicht statt, aber die Männerchöre sind namentlich in den Hauptkirchen prachtvoll und weltberühmt. W. Henckel.     

Italienische Straßensänger. (Zu dem Bilde S. 305) Einst waren die Straßensänger Italiens berühmt, denn es gab unter ihnen wahre Meister im Vortragen der Volkslieder. Ein solcher lebte noch vor wenigen Jahren in Neapel, es war der greise Don Antonio, vom Volke „Totonno o cecato“, der Blinde genannt. Don Antonio der Blinde kannte alle seit etwa 1830 erschienenen Volkslieder und war eine lebendige Anthologie dieser Litteratur. Er wirkte in Gemeinschaft mit seinem Führer, der die Baßposaune blies, während er selbst die Geige spielte, durch seine „imponierende“ Gestalt und – seine Kunst. Nichts Weibliches, keine bestechende Mignon, hatte der „Junggesell aus Notwendigkeit“, wie er sich lächelnd vorstellte, ergänzend an seiner Seite. In seinem ausdrucksvollen Dialekt beklagte er den modernen Verfall der von ihm vertretenen Kunst. Aber noch immer sind die Straßensänger eine typische Erscheinung italienischer Städte, das Bild des bunten Lebens auf Gassen und Plätzen belebend, und wenn die Lieder, die sie singen, sowie ihr Vortrag auch des künstlerischen Wertes ermangeln, so entsprechen sie doch dem Geschmack ihrer Zuhörer, die sich durch die Musik so gern in eine festfröhliche Stimmung versetzen lassen.

Elefanten beim Rettungswerk. (Zu dem Bilde S. 301) Verschiedene Afrikaforscher haben wiederholt in ihren Werken berichtet, wie Elefanten, falls ihre Artgenossen in Not geraten sind, denselben mit großer Besonnenheit Hilfe zu leisten pflegen. Am schlimmsten setzt den gewaltigen Tieren der Mensch zu. Die Jagdweisen der wilden Völker sind ja nur zu oft mit Grausamkeit gepaart. Am oberen Nil pflegen die Neger Elefantenherden im Dickicht zu umzingeln und dieses in Brand zu stecken. Da ist es vorgekommen, daß die gepeinigten Tiere sich um ihre Jungen scharten, sie mit ihren Leibern deckten und Wasser auf dieselben spritzten, um die schwachen vor den sengenden Flammen zu schützen. Ein anderes, von dem Forschungsreisenden H. Johnston beobachtetes Beispiel der Elternliebe beim afrikanischen Elefanten führt unser Bild den Lesern vor. Die Alten retten ein Junges, das in eine Fallgrube geraten ist, indem der eine den Rüssel um den des Kleinen legt und daran zieht, während der andere unter den Hals desselben drückt. Es wurde auch beobachtet, daß Elefanten einen erwachsenen Artgenossen aus der Fallgrube zu befreien suchten, indem sie mit ihren Stoßzähnen Erde am Rande der Grube aufwühlten und diese auszufüllen sich abmühten. *      

Poesie. (Zu unserer Kunstbeilage.) Unzählige Menschenherzen suchen und finden immer aufs neue im verschwiegenen Dunkel des Waldes den tröstlichen Zuspruch der Poesie, die mit milder Stimme alles Herzeleid sänftigt, allen Zwiespalt der Seele auflöst und in Einklang bringt mit dem Frieden der hier waltenden freien Natur. Auch als Muse des Waldes, Epheugerank im Haar, zeigt unser Bild die Poesie verkörpert, aber nicht in ihrer Eigenschaft als zutrauliche Trösterin der Menschen, sondern mit dem ernsten Ausdruck der Seherin und Prophetin. Ergriffen lauscht sie den Stimmen der Natur, deren Geheimnisse sie so tröstlich den Menschen entschleiert. Und in der Hand hält sie das Zeichen der Musen, den Lorbeer, eingedenk ihres klassischen Ursprungs und des hellenischen Gottes, der sie einst auf den Höhen des Helikon die hohe Kunst lehrte, die Stimmungen der Seele zu verklären im sanfttönenden Lied.


manicula       Hierzu Kunstbeilage X: „Poesie.“ Von Luise Mercier.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 18/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.