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Ein getreues Herze wissen!

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Textdaten
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Autor: Anton Ohorn
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Titel: Ein getreues Herze wissen!
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 451–455
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[451]

Ein getreues Herze wissen!

Novelette von Anton Ohorn.

Der Frühling ist gekommen. An dem Bache im Thal wiegen sich weiße Anemonen auf schlankem Stengel, und Himmelsschlüssel mit gelbem Glast läuten dazwischen mit den kleinen, freundlichen Blüthenglocken. Die alten Weiden tragen silbergraue Kätzchen an den tief herabhängenden Zweigen, und kleine Knaben und Mädchen brechen unter Lachen und Singen die für sie erreichbare Ruthen ab für den kommenden Palmsonntag. Die Luft geht lau durch die Thalung; der Himmel ist klar und der goldene Sonnenglanz sickert frühlingswarm nieder. Am Abhang der Hügelkette liegt die kleine Stadt mit weißen Häusern und rothen Dächern und ein grauer Kirchthurm sieht drüben empor, seltsam geformt wie eine unförmige Knopper und mit blinkendem Kreuz.

Das Thal herauf kommt ein Wandersmann, jung, aber mit bleichen Wangen. Die Wandertasche hängt ihm zur Seite; er stützt sich auf den kräftigen Stock, und wie er nun stehen bleibt, hält er die weiße Hand über die Augen, um sie gegen das Sonnenlicht zu schützen, und blickt nach der Stadt. Sein Gewand ist dunkel und eigentlich wenig modisch, auf dem Kopfe trägt er einen breitkrämpigen Hut und um den Hals das Collare, das Abzeichen der katholischen Priesterschaft.

Wie er an den Knaben und Mädchen vorbeischreitet, grüßen ihn Alle mit lautem: „Gelobet sei Jesus Christ!“, und die Mädchen kommen heran, ihm die Hände zu küssen, was er beinahe ängstlich abwehrt.

Auf dem weißen mit Bäumen besetzten Fußwege, der nach der Stadt leitet, geht ein Menschenpaar ihm entgegen: ein alter Herr mit weißen Haaren, aber frischem Gesicht, mit dem strammen festen Gang des ehemaligen Militärs, Arm in Arm mit einem Mädchen in lichten Gewändern. Der junge Wanderer erkannte sie Beide, den alten Rittmeister Günther, der im Städtchen oben die freundliche Villa mit dem großen Garten beim Peters-Thor besitzt, bei dem er häufig aus- und eingegangen, bevor er ein Ordensmann geworden, und dessen Tochter Eva, seine Jugendgespielin.

Sie waren Nachbarskinder und hatten mit einander gelacht und geweint nach Kinderart und hatten Mann und Frau gespielt, im Sommer Blumen gepflückt und Kränze gewunden, im Winter mit Schneeballen nach einander geworfen, bis die Gesichter frostig angehaucht und die Hände glühend wurden. Seitdem waren Jahre in’s Land gegangen; er hatte in einer entfernten Stadt die Schule besucht und nur während der Ferien Eva gesehen und sich jedesmal gewundert, wie sie größer und schöner geworden war und scheuer und fremder zugleich. Dann war er nach eigener freier Wahl in den Orden des heiligen Benedict eingetreten, dessen Jünger seine Lehrer an dem Lyceum gewesen, und kam nun nach dreijähriger Abwesenheit zum ersten Male und als „geistlicher Herr“ nach der Heimath.

Das schlanke schöne Mädchen mit den sammetnen, frischen Wangen, den großen Rehaugen, die nach ihm herschauten, und den dunklen, glänzenden Haaren war Eva, und es gab dem jungen Cleriker einen seltsamen Stich im Herzen, als er sich dies sagte, und gleich darauf ärgerte er sich über seine eigene Erregung und wollte, sich selbst zu strafen, mit stummem Gruße vorübergehen. Wie er aber den breiten Hut zog und seine weiße, leuchtende Stirn leicht gegen das Paar verneigte, rief der Rittmeister:

„Holla, Reinhold, Gott willkommen ! Wir haben Sie erst für morgen erwartet.“

Er streckte ihm schon die Hand entgegen und sah dem jungen Wanderer so freundlich und so tief in die Augen, daß dieser nicht wortlos vorübergehen konnte und erwiderte:

„Ich wollte auch morgen erst kommen, aber die Sehnsucht ließ mich nicht rasten, und ich gedachte, meine Eltern zu überraschen. — Es ist Ihnen doch immer wohl gegangen, Herr Rittmeister?“

„Danke, danke! Eva läßt es mir ja an nichts fehlen.“

Der junge Theologe wollte eigentlich die so Gepriesene, die unmittelbar neben ihm stand, ignoriren. Nun mußte er sich ihr doch zuwenden; denn sie streckte ihm mit dem unbefangensten Lächeln die schlanke behandschuhte Hand entgegen, und ehe er noch überlegen konnte, hatte er seine Rechte mit derselben vereinigt. Das war nur eine Secunde lang gewese; dann flog eine brennende Gluth über sein bleiches Gesicht, und mit schweigendem Gruße wollte er weiter gehen.

„Heute sollen Sie uns entkommen,“ sagte der alte Soldat; „denn Vater und Mutter wollen Sie auch genießen, aber — nicht wahr? — morgen Mittag sind Sie unser Gast.“

Das klang so militärisch kurz, und es wäre wohl auch unhöflich gewesen, wenn er hätte ablehnen wollen. Er nahm dankend an, und als ob der Boden ihm unter den Sohlen brenne, eilte er vorwärts, während seine Lippen halblaut das Wort der Regel murmelten: [452]Feminas videre non prohibemini, sed eas appetere vel ab ipsis appeti velle, criminosum est.“ („Frauen zu sehen, soll euch nicht verboten sein, aber sie begehren oder von ihnen begehrt werden wollen, ist ein Verbrechen.“)

Ihm wurde heiß, sodaß er den Hut von der Stirn nahm, und doch war die Temperatur des Tages nicht so hoch. Er hätte doch lieber nicht zusagen sollen, und bei seinem innern Zwiespalt dachte er daran, sein Wort wieder zurückzunehmen und sich zu entschuldigen.

Er betrat die Gassen des Städtchens und schritt über den kleinen Markt, wo zwischen den Pflastersteinen das Gras herauswuchs und auf welchem die Kirche stand; er entblößte das Haupt, als er an derselben vorüberging. Die Leute aber öffneten die Schiebefenster in beinahe allen Häusern, und eine Nachbarin flüsterte es der andern zu, als ob es ein Geheimniß bleiben sollte:

„Forbach’s Reinhold ist da,“ und die andere sagte darauf: „Er ist hübsch geworden — das wird ein schöner Pater,“ während ein junges, naseweises Backfischchen vielleicht hinzufügt: „Schade um ihn!“

Fast ganz an dem alten Peters-Thore mit seinen seltsamen, gothischen Zacken, einem Reste aus der Zeit, wo das Städtchen sich reichsfrei nannte, steht ein stattliches Haus mit einem Kaufmannsladen zu ebener Erde, und über dem üblichen hölzernen Citronenkranze ob der Eingangsthür steht mit solider Fractur die Firma: Gabriel Forbach. Hier war der junge Benedictiner zu Hause und war noch dazu der einzige Sohn. Er hatte anfangs Kaufmann werden sollen, die Mutter wollte aber einen Studenten aus ihm machen, und so hatte der Vater gesagt: „Meinetwegen!“, und Reinhold war auf das Lyceum zu den Benedictinern gekommen. Zwei seiner Lehrer waren bigotte, übereifrige Männer und suchten unter den Schülern Proselyten zu machen für ihren Orden; durch Talent und Fleiß ausgezeichnete Jünglinge waren ihnen zumeist verfallen, an sie hingen sie sich mit der Gier des Vampyrs und suchten aus ihren Herzen alle Weltlust und alles Streben nach irdischem Glücke herauszusaugen. So war es bei Reinhold gekommen, und seine Eltern waren mehr erstaunt als erfreut gewesen, als er ihnen seinen Entschluß mittheilte. Der Vater war indeß ein kurzer, resoluter Mann und hatte wiederum gesagt: „Meinetwegen; denn des Menschen Wille ist sein Glück,“ und die Mutter hatte sich getröstet an dem mütterlichen Stolze, der in katholischen Familien so viel daheim ist, einen „geistlichen Sohn“ zu besitzen.

Nun saßen die drei Leute um den gedeckten Tisch in der Wohnstube neben dem Laden; die Mutter nöthigte zu essen und der Vater sah dem Sohne in’s Gesicht.

„Junge, Du bist recht blaß. Wenn Du Dich nicht ganz behaglich fühlst bei der Regel des heiligen Benedict, dann ist mir’s lieber, wenn Du nach etwas Anderem greifst und den schwarzen Rock an den Nagel hängst.“

„Nein, Vater, ich bin ganz zufrieden und wünsche mir nichts Besseres.“

Es war Reinhold, als ob er in dem Augenblicke eine Lüge gesprochen hätte, und doch fühlte er, daß er seiner Ueberzeugung nach nicht anders sagen konnte. Der Alte schüttelte mit dem Kopfe und ging nach seinem Comptoir; die Mutter hatte gleichfalls zu thun, und der junge Benedictiner blieb allein in dem Gemache. Er trat an das Fenster und sah hinaus. Da drüben stand die Villa des Rittmeisters mit ihrer umgrünten Veranda. Wilder Wein wuchs an den weißen Wänden hinauf und rankte sich um die Fenster. An dem einen derselben bewegte sich die schneeige Tüllgardine, und ein Mädchenkopf trat wie ein plastisch-schönes Bild zwischen den Rahmen. Der Kopf, um welchen sich das wellige Haar wie eine duftige Wolke legte, war gesenkt und die Augen hefteten sich wohl auf eine tiefer liegende Arbeit. Reinhold konnte den Blick nicht von dem Bilde abwenden; er stand in der Mitte der Stube und stützte sich mit beiden Händen fest auf die Tischplatte: Ob es wohl doch ein anderes Glück geben mochte, als jenes in der regula S. P. Benedicti? Ob auf jenen sanft gerötheten Wangen, in jenen jetzt niedergesenkten Mädchenaugen nicht auch ein ewigaltes Evangelium geschrieben stand, das da gepredigt ward, so lange Menschen gehen auf der Erde, und das darum auch ein Ausfluß der Gottheit sein muß?

Eva blickte in diesem Momente auf, sie schien herüberzuschauen, und Reinhold ließ jählings die Tischplatte los und murmelte: „Apage, Satanas! Herr, führe mich nicht in Versuchung!“ Er wendete sich ab von dem Fenster und schritt in dem Gemache auf und nieder; ihn faßte Scham und Reue über seine Gedanken, und er beschloß, am nächsten Morgen durch eine Beichte sich frei, durch die Communion sich stark zu machen. Er wollte darum heute schon den Pfarrer besuchen und griff nach seinem Hute.

Als er vor die Thür trat, merkte er, wie der Mädchenkopf über der Straße drüben sich zwischen den grünen Rebenranken zum offenen Fenster herausbeugte, aber er grüßte nicht und sah nicht hin, und als ob er einen großen Sieg über sich selbst errungen hätte, fühlte er mit einem Male wieder die Brust weit und frei und leicht.

Das Pfarrhaus stand in der Nähe der Kirche auf dem grasbewachsenen stillen Marktplatze; das Wasser plätscherte vor demselben in dem hölzernen Röhrbrunnen; ein verwittertes Heiligenbild stand auf dem altmodischen Giebel, und neben dem großen braunen Eingangsthore war eine Steinbank.

Es hatte etwas Idyllisches, das alte Pfarrhaus, von außen sowohl wie von innen: die Flur war breit, mit rothen Ziegeln belegt, und geschwärzte Heiligenbilder hingen an der weißen Wand; zu der geöffneten Hofthür aber nickten die Sträucher des Gartens herein mit ihrem jungen Grün.

Eine ältliche, freundliche Frau mit weißer Haube und Küchenschürze begrüßte den Jüngling zuerst:

„Ach, Herr Reinhold, das ist schön, daß Sie zuerst zu uns kommen; ich habe Sie heute schon vorbeigehen sehen mit Ränzchen und Stecken; der Herr Pfarrer wird sich freuen, wenn Sie ihn aufsuchen; er ist in seiner Studirstube.“

Sie hatte die Hand an der saubern Schürze abgewischt und streckte sie ihm mit jener vertraulichen Freundlichkeit entgegen, die sie dem jungen Theologen zeigen kannte: er war ja als Knabe und als Schüler oft und oft nach der Pfarre gekommen, und die Jungfer Gertrud hatte ihm manchen Leckerbissen aus der Küche aufgehoben. Er drückte ihr denn auch herzlich die Hand und ging nach einigen freundlichen Worten die weißgetünchten Steintreppen hinauf. Ueber einer braunen massiven Thür stand: „Der Herr segne deinen Eingang!“ und hier trat Reinhold ein. Das Gemach war freundlich trotz seiner geschwärzten alterthümlichen Möbel; das machten vielleicht die schneeweißen Fenstergardinen, oder die Bilder an den Wänden, oder die Gypsbüsten auf dem alten geschnitzten Bücherschranke, die gleich guten Genien herabsahen: Schiller, Goethe, Lessing. Der Theologe, welcher den Lessing in seinem Studirzimmer hat, ist ein Priester, welcher nicht schlecht sein kann und gewiß seines Amtes im Geiste und in der Wahrheit waltet; es gehört nur mitunter Muth dazu, als geistlicher Herr sich zu Lessing zu bekennen.

Auf dem Sopha mit schwarzer Lehne und braunen Polstern saß ein alter Herr mit grauen Locken über der hohen, schönen Stirn und mit einem Paar wunderbar klarer, geistestiefer Augen. Er hatte seine Lectüre weggelegt und den jungen Standesgenossen mit herzlichem Wort auf den Sitz neben sich niedergezogen. Und so wie es der Vater Reinhold’s gethan, so sah auch er dem Jüngling forschend in’s Gesicht, und wie jener sprach er:

„Du bist recht blaß, Reinhold.“

Der junge Benedictiner fühlte, wie er jetzt roth ward.

„Vielleicht von dem Studium der letzten Wochen, Herr Pfarrer, vielleicht von der Reise — mir ist ganz wohl.“

„Du bist also zufrieden?“

„Ich bin es.“

„Wohl Dir, mein Sohn, daß Dir der Druck des Priesterlebens bisher erspart geblieben ist, aber kommen wird er noch, wenn Du ein guter Hirte und kein Miethling werden willst, und dann sorge, daß er Dich nicht niederbeugt. Was sagen denn Deine Lehrer von dem da?“ Er deutete nach dem Bilde Lessing’s.

Reinhold erhob das Auge; dann sagte er etwas verlegen in Ton und Miene:

„Ein Atheist! Ein Frevler am Heiligthume der positiven Kirche!“

Ein wehmüthiges Lächeln spielte um den Mund des Greises:

„Sie sind also heute noch, wie ehedem. Sieh, Reinhold, ich bin gemaßregelt worden, weil ein Protestant mein bester Freund war, mit dem ich täglich verkehrte und von welchem ich trotz der Ermahnung des Consistoriums nicht lassen mochte, weil ich keinen [453] Menschen kannte, der mehr als er die Liebe zu Gott und seinen Nächsten im Herzen trug und in Thaten übte; ich bin abermals gemaßregelt worden, weil ich einem Juden ein ehrliches Begräbniß schaffte innerhalb der katholischen Friedhofsmauer und nicht wollte, daß der arme, ehrenwerthe Mann, den ich fünfzehn Jahre kannte, irgendwo im freien Felde verscharrt werde wie ein Missethäter. Meine Schulfreunde sind Pröpste und Domherren — ich habe die arme Pfarrstelle hier, aber meinen Lessing habe ich mir nicht nehmen lassen, und ich denke, daß ich da oben“ — er deutete zum Himmel — „vielleicht eher mit meinem Juden und Protestanten zusammentreffen werde, als mit manchem Propst und Canonicus. Mehr als in den Scholasten steckt in dem Buche ‚Nathan der Weise‘, das Dir Deine Lehrer verketzern und verbrennen möchten. Ich aber sage Dir das Wort, das Augustin vor seiner Bekehrung vernahm: ‚Tolle, lege!‘ — Nimm und lies!“

Er nahm ein Büchlein von dem Tische, unscheinbar gebunden und abgerissen an den Blättern, und sagte:

„Ich schenke Dir das Buch, auch wenn es Dir schon längst bekannt sein sollte. Lies es noch einmal, ohne Vorurtheil und mit Aufmerksamkeit, und dann wirf es wieder in den Winkel — wenn Du kannst!“

Reinhold stand wieder vor dem braunen Thor und hielt die Hand auf der Tasche, in welche er das kleine Buch gesteckt hatte; die Worte des Pfarrers hatten einen seltsamen Sturm in ihm erregt; sie klangen so ganz anders, als die Vorträge seiner Lehrer, und wenn er sich prüfte, zu wem ihn sein Herz und seine Ueberzeugung von Meinungsredlichkeit mehr hinziehe, so neigte sich die Schale zu Gunsten des weißhaarigen Priesters in dem alterthümlichen Pfarrhause.

Das Buch brannte ihm wahrhaftig auf dem Herzen, und er eilte seiner Wohnung zu. Der Abend dämmerte herein; der Lampenschimmer grüßte aus den Fenstern der Villa Günther, und in weichen Moll-Accorden klang die Variation eines alten Liedes herab:

„Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb.“

Reinhold war den Abend über schweigsam, sodaß der Vater halb Verstimmung, halb Mitleid empfand und ihm immer klarer ward, daß sein Sohn nicht ganz so glücklich sei, wie er sich und Anderen es vorredete. Dieser zog sich unter dem Vorwande der Müdigkeit bald auf sein Zimmer zurück, das nach dem Hofe hinaus lag, wo ihn weder Licht noch Ton von der Nachbarvilla stören konnte, und begann zu lesen in dem Buche Lessing’s.

Seine Lehrer hatten ihm niemals den „Nathan“ in die Hand gegeben; er fühlte zum ersten Mal den Flügelschlag des großen Genius, und Stunde um Stunde verrann; die Lampe vor ihm brannte trüb und qualmend, aber seine Wangen glühten; seine Augen leuchteten; sein Herz pochte lebhaft bewegt — nein, so sprach kein Atheist, kein Gottesleugner oder Heiligthumsschänder; warum hatten ihm seine Lehrer das angethan und das freie Manneswort eines edlen Geistes ihm verleumdet?! — Erst gegen Morgen schlief er ein, und im Traume sah er die Büste Lessing’s vor sich, wie sie im Studirzimmer des alten Pfarrers sich befand, und mit den klaren, verständnißtiefen Augen des Priesters schien ihn der Dichter des „Nathan“ zu betrachten.

[454] Palmsonntag! Die Glocken läuteten; festlich gekleidete Leute gingen nach der Kirche auf dem Markte, und Knaben und Mädchen liefen mit Palmzweigen durch die Gassen und schwangen sie hoch in den Händen, und die Frühlingssonne schimmerte über dem Städtchen. Am Hochaltar der Kirche flammten die Kerzen, und der Weihrauch umhüllte das Bild der mater dolorosa sowie den greisen Pfarrherrn in seinem glitzernden Ornate und seinen Akolythen, den jungen Benedictiner Reinhold. Er trug das weite Almutium über dem dunklen Ordensgewand, und die Leute waren sehr erfreut und erbaut, ihn statt des gewöhnlichen Ministrantenjungen am Altare dienen zu sehen.

Der Pfarrer hatte die Leidensgeschichte Christi vorgelesen; das Wunder der Verwandlung beugte Aller Kniee zur Erde nieder, und leise und zagend begann die Orgel wieder mit ihren gemüthstiefen Tönen. Fromme Geigen nahmen die seltsam weiche Melodie auf, und nun setzte eine Menschenstimme ein, metalltönig und glockenrein, und sang, was einst Jerusalems Bewohner gesungen bei dem Einzuge des Herrn: „Benedictus qui venit in nomine domini — Gebenedeit, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna dem Sohne David’s!“

Es war eine Frauenstimme, und Reinhold durchschauerte es im tiefsten Herzen. Der weiche Hauch des Orients schien ihn zu umwehen, die Palmen zu rauschen über seinem Haupte; er sah im Geiste den Mittler in den Straßen der heiligen Stadt, reitend auf dem Füllen einer Eselin, und in diese frommen Gefühle hinein traf wie ein greller Blitzstrahl der Gedanke: das ist Eva’s Stimme. Die Röthe stieg ihm in’s Gesicht; sein Denken schweifte ab von dem heiligen Dienst; er versäumte es, die Kniebeugung des Priesters mitzumachen, und ärgerte sich wieder über seine Zerstreutheit, sodaß er verstimmt aus dem Gotteshause fortging.

Die Leute vor der Kirche grüßten ihn so ehrfurchtsvoll wie den Pfarrer selbst, und sie hatten ihn doch als kleinen, wilden Jungen unter ihren Augen aufwachsen gesehen; es kam ihm vor, als verdiene er diese Ehre nicht, und rasch, mit gesenkten Augen, ging er dem Elternhause zu.

Noch immer war er im Zwiespalt, ob er nicht Mittags sich bei dem Rittmeister entschuldigen sollte, aber des Vaters ernstes Wort und der Mutter Zureden entschied, und so ging er hinüber nach der grünumrankten Villa. Der alte Soldat war heiter, Eva unbefangen, freundlich, und so gab sich auch Reinhold dem Augenblick hin, und die harmlose Gemüthlichkeit des Studenten brach bei ihm durch. Da hob der Rittmeister sein Glas:

„Sie hätten doch nicht in die Kutte kriechen sollen, Reinhold. Sie wären ganz der Kerl gewesen, einmal ein Mädel glücklich zu machen — indeß, ’s ist vielleicht gut so, wenn auch einmal solch wackeres Blut in’s Pfaffenthum schlägt.“

Er stieß mit dem jungen Theologen an, der aber erschrak und fand mit einem Mal, daß sein Benehmen nicht seinem Stande gemäß gewesen sei; er wurde ernst und schweigsam. — Der Rittmeister hob die Tafel auf und zog sich zurück zu seinem Mittagsschläfchen.

Die jungen Leute blieben allein. Reinhold hatte sich entfernen wollen, aber das wäre unhöflich gewesen, und so blieb er, und das unbefangene Wesen des Mädchens, ihr nichtssagendes und doch anmuthiges Plaudern gab ihm Fassung und Stimmung wieder. Das Pianino stand in der Nähe des Fensters; einladend winkten die weißen Elfenbeintasten, und er bat Eva, zu spielen oder zu singen. Sie ließ sich nicht bitten; ohne Ziererei setzte sie sich an das schöne Instrument, und Reinhold ließ sich in dem Fauteuil nieder und sah, wie die weißen, schlanken Finger die volltönigen Accorde griffen. Sie sang, und wunderbar ergriff es den jungen Theologen; er hatte sich nicht getäuscht — das war dieselbe glockenklare Stimme, welche in der Kirche das „Benedictus“ gesungen. Es war eine ungemein einfache, volksthümliche Melodie, von welcher Paul Flemming’s altes, schönes Lied getragen wurde:

„Ein getreues Herze wissen,
Hat des höchsten Schatzes Preis;
Der ist selig zu begrüßen,
Der ein treues Herze weiß;
Mir ist wohl bei höchstem Schmerze,
Denn ich weiß ein treues Herze.“

Jeder Ton und jedes Wort schlich sich ihm hinab in die tiefste Seele, langsam, aber mit zwingender Gewalt, und es drängte ihn hinaus in die laue Frühlingsluft. Er mußte fortgehen, und wenn man ihn auch für ganz unhöflich gehalten hätte.

Ein getreues Herze! Wo hatte er ein solches, außer bei Vater und Mutter und bei dem weißhaarigen Pfarrer, aber wenn der Tod ihm diese nahm, dann stand er allein, allein. Es war ihm seltsam weh an dem Abend des Palmsonntags und doch wohl zugleich; er war zärtlich und gesprächig mit seinen Eltern, als wollte er sich dankbar bezeigen, daß ihre Herzen noch für ihn und mit dem seinen schlugen. Er saß bis spät in die Nacht mit ihnen zusammen, und von der Villa herüber klangen die Töne des Instruments, bald jauchzend, bald klagend, als ob auch dort eine Seele ihr innerstes Fühlen aussprechen wollte.

Die Passionswoche war angebrochen. Reinhold wich dem Anblicke Eva’s aus; sein Gemüth versenkte sich tief in die schmerzlichen Geheimnisse der Passion des Herrn; nur manchmal hörte er wie ist tiefster Seele die schlichte Melodie des Liedes von Paul Flemming; wie aus weiter Ferne klang es zu ihm heran mit schmeichelndem Locken; dann schüttelte er das Haupt, ergriff sein Brevier und versuchte, zu beten. Einmal hatte er indeß auch Lessing’s „Nathan“ wieder zur Hand genommen und hatte im dritten Aufzug den siebenten Auftritt gelesen, das ewigschöne Evangelium der Toleranz.

Der Gründonnerstag und Charfreitag, an welchen die katholische Kirche Alles aufbietet, um durch Feierlichkeit und Seltsamkeit der Ceremonien auf das Gemüth der Gläubigen zu wirken, da in schwarzbehangener Kirche keine Glocke klingt und keine Kerze brennt, außer den matten Lichtern am Grabe des Erlösers — sie ließen Reinhold ganz aufgehen in seinem Berufe, und er amtirte, soweit ihm gestattet, an der Seite des greisen Pfarrers.

Es war am stillen Freitag, Nachmittag in der vierten Stunde. Der Himmel war trübe, und feiner Regen sprühte nieder — das Städtchen war still, todtenstill. Da kam das Dienstmädchen aus der Pfarrei mit verweinten Augen und schluchzte es mehr heraus, als sie es sprach:

„Der Herr Pfarrer ist todt.“

Reinhold sprang entsetzt von seinem Sitze auf; er glaubte nicht recht gehört zu haben; er war bis vor Tische mit dem väterlichen Freunde zusammen gewesen — aber es war bittere, ernste Wahrheit: ein Schlagfluß hatte dem theuren Leben ein plötzliches Ende gemacht; um die dritte Stunde Nachmittags war er entschlafen.

Reinhold eilte nach dem Pfarrhause. Weinend kam ihm die bejahrte Wirthschafterin entgegen und führte ihn in das trauliche Studirzimmer. Trübe sah der graue Tag durch die Fenster herein; auf dem Tische flackerte unsicheren Scheins noch immer die Sterbekerze, und auf dem alten braunen Sopha lag der todte Pfarrer mit seinem gewohnten milden, freundlichen Gesichtsausdruck. Hier hatte der Tod wenig verändert, und das geschlossene Auge konnte ebenso gut das Zeichen ruhigen Schlafes sein. Reinhold faßte nach einer der auf der Brust liegenden Hände des Todten; sie war kalt und steif, und ihn überlief ein nie gekanntes Gefühl des Schauers; er tauchte seine Fingerspitzen in das kleine Weihwasserbecken und sprengte mit dem heiligen Naß dem Verstorbenen über das Gesicht, daß einige Tropfen wie große, helle Thränen darauf haften blieben; leise schluchzte die alte Gertrud in ihre vor die Augen gepreßte Schürze.

„Schlaf wohl, Du guter, wackerer Mann! Deine Thaten werden vor dem Throne Gottes für Dich zeugen. Gesegnet sei Dein Andenken!“ sagte der junge Benedictiner halblaut, Gertrud aber drückte ihm die Hand und sprach mit verhaltenem Weinen:

„Ja, er war gut, mehr als die Leute es wissen und zu wissen brauchen; die Armuth wird bitterlich weinen an seinem Sarge, aber am meisten habe ich verloren. Sie kennen es noch nicht aus Erfahrung, was es heißt, ein getreues Herze wissen.“

Reinhold zuckte zusammen; er dachte an das Lied von Paul Flemming, und die alte Haushälterin fuhr fort:

Sehen Sie, ich habe den Todten da gekannt, wie er noch ganz jung war, als einen frischen Studenten, und ich habe ihn lieb gehabt — heute kann ich’s ja wohl sagen, und wie er so daliegt, mag er’s immerhin hören. Wir waren Nachbarskinder und sind mitsammen aufgewachsen. Seine Mutter war eine fromme Frau, die durchaus einen geistlichen Sohn haben wollte, und Gustav hat das Opfer gebracht; die alte Frau hat’s nie erfahren, wie’s ihm manchmal schwer geworden ist, aber mir hat er’s erzählt, wenn er in die Ferien kam, wie geistlos sein Studium, wie beschränkt und engherzig seine Lehrer und Mitschüler seien. Er war eben einer von denen, welchen das überlieferte Wort [455] nicht genug that. Sie haben ihn gerade darum auf den schlechtesten Stationen als Cooperator herumgeschickt, und die Haare sind ihm grau geworden, ehe sie ihm die kleine Pfarre hier gaben. Derweil war ihm Mutter und Vater gestorben und ich hatte meine Eltern auch verloren. Ich war eine alte Jungfer geworden, nicht weil ich keinen Mann hätte bekommen können, sondern weil ich keinen haben mochte — ich wußte wohl, warum — und da hab’ ich selber bei ihm angefragt, ob er mich als Wirthschafterin gebrauchen könne. Er hat ‚Ja‘ gesagt, und so lebe ich denn an die zwanzig Jahre unter seinem Dache, und hab’ ihm gethan, was ich ihm an den Augen absehen konnte, und er hat’s auch gewußt, wie lieb ich ihn gehabt.“

Gertrud beugte sich zu dem Todten nieder, küßte ihn auf die Stirn, und eine Thräne fiel auf seine erstarrte Wange hart neben den Weihwassertropfen, und verlief sich mit diesem in eins. Welcher von beiden war geweihter?

Reinhold stand vor der Pfarre, aber das Herz war ihm zum Zerspringen voll; die schlichte Erzählung Gertrud’s hatte seine Seele in ihren tiefsten Tiefen aufgewühlt. Was hatte er in den wenigen Tagen seines Aufenthalts in der Heimath nicht Alles empfunden! Und Alles rüttelte mächtig an dem Bau, den die Lehrer in seiner Brust errichtet. Die Philosophie des Lebens trat in schneidenden Gegensatz zu jener der Scholasten; der Gedanke, daß man Gott auch dienen könne ohne Brevier und Ordenskleid, brach sich Bahn in Reinhold’s Seele.

Er wanderte im Abenddunkel um das Städtchen und ließ das Gewitter in seinem Innern ausstürmen; durchnäßt vom Sprühregen kam er zum Petersthor herein, aber er sah auch diesmal nicht nach den Fenstern der Villa Günther empor. — Er las auch heute wieder bei nächtlicher Lampe den „Nathan“, und das Buch wurde ihm immer lieber — es war so das Vermächtniß eines theuren Todten.

Am anderen Tage versah er wieder sein Akolythenamt; ein Cooperator aus der Nachbarschaft fungirte an des Pfarrers Stelle, aber er übte die heiligen Gebräuche so flüchtig und handwerksmäßig-mechanisch, daß Reinhold darüber empört war und es vorzog, am Abende, bei der Feier der Auferstehung, neben seinen Eltern in dem Kirchenstuhle zu sitzen. Die Kirche glänzte im Schein der vielen Kerzen; Weihrauchwirbel dampften um die Altäre, und Pauken und Trompeten kündeten vom Chore den Sieg des Erlösers über Tod und Grab. Und aus dem Jubelsturm der Instrumente klang die schöne Frauenstimme wieder heraus:

„Lobsinge, Herz, dem Jubeltag!
Auch Du wirst auferstehen.“

Da war es Reinhold mit einem Male, als ob eine Fessel gesprungen wäre, die ihm um Haupt und Herz lag; er hätte mitjauchzen mögen mit der silbernen Stimme, und doch hielt er den Athem an wie in süßer Beklemmung.

Auferstehung! Er fühlte, wie sein Herz sie feierte, und er drückte die Hand des Vaters, der ihn verwundert ansah.

Nach der Kirche sprach er mit dem alten Rittmeister, der ihn bat, für den Ostersonntag wieder sein Gast zu sein, und Reinhold nahm die Einladung an.

Der Osterfesttag, an welchem nach dem Volksglauben die Sonne drei Sprünge macht, brach an mit Glanz und Licht. Der Cooperator celebrirte das Hochamt, Reinhold aber stand in einer dunklen Ecke der Kirche und dachte an den todten Pfarrer und betete still für sich hin. Ihm war seltsam selig zu Sinne, und freundlicher als je grüßte er alle Leute, als er die Kirche verließ.

Am Mittag saß er mit dem Rittmeister und Eva zu Tische, und fröhlich ging das Gespräch hin und her; auch des Todten im alten Pfarrhause wurde gedacht, und es that Reinhold wohl, als er dessen unbeschränktes Lob hörte. Auch diesmal zog sich der alte Officier zurück zu seinem Mittagsschläfchen und ließ die beiden jungen Leute allein.

Da kam eine merkwürdige Befangenheit über Reinhold; es wollte ihm nicht einfallen, was er sprechen sollte, und auch das Mädchen war wundersam still. Und er bat, wieder zu singen, dasselbe Lied, welches sie am Sonntag Palmarum gesungen hatte.

Sie willfahrte, aber ihre klare Stimme vibrirte heute. Er saß nicht fern von ihr und sah ihr in’s Gesicht; der Sonnenschein flimmerte auf ihren glänzenden Haaren; ihre weißen Hände lagen auf den Tasten, und leise hob und senkte sich ihre Brust; sie sang mit der einfachen Volksmelodie wieder das Lied vom treuen Herzen.

Reinhold saß regungslos, nur in den Augen stand ihm ein feuchtes Glänzen, als die letzte Strophe durch das Zimmer klang:

„Sein Vergnügen steht alleine
In des Andern Redlichkeit,
Hält des Andern Noth für seine,
Weicht nicht, auch bei trüber Zeit;
Mir ist wohl bei höchstem Schmerze;
Denn ich weiß ein treues Herze.“

Der letzte Accord verklang; Eva ließ die schlanken Hände gefaltet in den Schooß niederfallen; einen Augenblick war es tiefstill in dem Gemache, sodaß man das Athemholen der beiden jungen Leute hören konnte; dann blickte Eva auf und sah mit den großen, freundlichen Kindesaugen herüber nach Reinhold. Der aber wußte nicht, wie ihm geschah; er wußte auch kaum, was er that, aber er lag in demselben Momente vor der Gespielin seiner Jugend auf den Knieen und barg sein glühendes Gesicht in den Falten ihres Gewandes; dann hob er das Antlitz und lachte und weinte in einem zu ihr empor und flüsterte: „Meine liebe Eva!“

Und die weißen, zitternden Mädchenhände legten sich auf seine Stirn und beugten ihm sachte das Haupt zurück, zwei braune, flimmernde Augen blickten in die seinen, und zwei rothe, süße Lippen sprachen: „Ein getreues Herze wissen!“ — —

Am Ostermontag trug man den alten Pfarrer zur letzten Ruh; die Sonne leuchtete ihm in’s Grab voran, und die ersten Frühlingsvögel zwitscherten hinein in den Choral der Glocken und der Sänger. An dem Erdhügel aber standen Reinhold und Eva bei einander; er trug jedoch nicht mehr das Collare, das Abzeichen der katholischen Theologen.