Zum Inhalt springen

Eisenbahnreformen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: A. Negronius
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eisenbahnreformen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 847–848
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
unkorrigiert
Dieser Text wurde noch nicht Korrektur gelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du bei den Erklärungen über Bearbeitungsstände.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[847]

Eisenbahnreformen.

Vor dreißig Jahren, im November 1868, erschien in der „Gartenlaube“ (Seite 735 u. 736) ein Artikel unter dem Titel „Der Mensch als Poststück“, in welchem die damals Aufsehen erregende Broschüre des Engländers Raphael BrandonEisenbahnen und Publikum“ (Railways and the Public, London 1868) sympathisch besprochen wurde. Sie schien einen ähnlichen Gedanken auszuführen und näher zu begründen, den zur selben Zeit ein origineller reicher Engländer in Paris praktisch erproben wollte: er kam nämlich auf ein Postamt und bat, daß man ihn mit Marken beklebe und zum postmäßigen Einheitsporto expediere.

Dreißig Jahre später, im August dieses Jahres, erschien die in der Mühlenstraße zu Rixdorf bei Berlin wohnende Frau P. eines Tages auf dem dortigen Postamt am Paketschalter in Begleitung ihres neunjährigen Knaben, überreichte dem Beamten eine vorschriftsmäßig ausgefüllte Paketadresse mit der Aufschrift: „Anbei ein Knabe und ein Bündel in grauer Leinwand“ und bat ihn, diese „beiden Gegenstände“ als Pakete nach Neuwedel in der Neumark zu befördern. Die Logik der sie belehrenden und sichtlich erheiterten Postbeamten, daß die Reichspaketpost wohl lebende Tiere, aber nicht lebende Menschen expediere, wollte der konsequent denkenden Frau aber nicht recht einleuchten, und kopfschüttelnd sowie anscheinend betrübt zog sie schließlich mit ihren beiden „Postkolli“ wieder von dannen.

„Der Mensch als Poststück“, zu einem billigen Einheitspreise frankiert und beliebig weit befördert, ist also immer noch ein unerreichtes Ideal geblieben, obwohl Brandon schon vor dreißig Jahren etwas Aehnliches wollte. In seiner erwähnten Broschüre schlug er nämlich vor, ohne Rücksicht auf die Entfernung für jede Eisenbahnreise in England nur den folgenden Einheitspreis – „Passagierporto“ nennt er ihn – zu erheben: III. Klasse 3 Pence (25½ Pf.); II. Klasse 6 Pence (51 Pf.); I. Klasse 1 Shilling (102 Pf.). Da 1865 jede Reise in England durchschnittlich 14 Pence (119 Pf.) kostete, so würde bei einer Verbilligung auf 3 Pence schon eine Verdreifachung des Verkehrs eine Mehreinnahme von 2 Millionen Pfund Sterling (40 Millionen Mark) ergeben haben; es sei aber mindestens eine Versechsfachung der Fahrten, folglich eine Mehreinnahme von 4 Millionen Pfund Sterling, oder bei Berücksichtigung dessen, daß 2/7 der Reisenden in der II. und 1/7 in der I. Klasse reisen, sogar eine Einnahmesteigerung von 143/4 auf 32 Millionen Pfund Sterling zu erwarten. Jener Artikel in der „Gartenlaube“ von 1868 schloß mit den Worten: „… Wir sehen keinen Grund, der eine Verwirklichung dieser Idee in anderen verkehrsreichen Ländern, speciell auf unsern deutschen Eisenbahnen, ausschlösse. Unbedenklich behaupten wir vielmehr: Brandons Plan ist der Kern des Eisenbahnwesens der Zukunft … Wer kann uns somit widerlegen, wenn wir in Raphael Brandon den Rowland Hill[1] der Eisenbahn weissagen?“

[848] Es hat nun einen gewissen Reiz, einmal zuzusehen, ob man in den letzten dreißig Jahren in diesem Sinne vorgeschritten oder im wesentlichen beim alten Zustande stehen geblieben ist. An weiteren Anregungen im Sinne Brandons hat es seitdem ja nicht gefehlt. Schon vor ihm hatte übrigens ein Däne, Dr. William Scharling, später Professor in Kopenhagen, einen zwei- bis drei- stufigen Zonentarif für die Eisenbahnen der Insel Seeland (damals etwa 175 km) angeregt. Seine Vorschläge blieben auch nicht ganz wirkungslos. In Deutschland war es dann zuerst Dr. Franz Perrot († 1891), der einen billigen zweistufigen Zonentarif in seiner Broschüre „Die Reform des Eisenbahntarifwesens im Sinne des Penny-Portos“ (Bremen, 1869) forderte, nämlich:

1. Zone (bis zu 75 km): III. Klasse 30 Pf.; II. Klasse 50 Pf; I. Klasse 3 ℳ. 2. Zone (über 75 km beliebig weit): III. Klasse 50 Pf.; II. Klasse 1 ℳ; I. Klasse 6 ℳ.

Später (1870–1872) befürwortete er auch einen Einheitstarif von 50 Pf. für die III. Klasse, 1 ℳ für die II. und 6 ℳ für die I. Klasse.

Der Wiener Schriftsteller Dr. Theodor Hertzka griff 1883 diese Ideen auf, und in seiner Schrift „Das Personen-Porto“ (Wien 1885) fordert er, unter Verschmelzung aller Wagenklassen in eine, einen Einheitspreis von 25 Kreuzern (421/2 Pf.) für alle Entfernungen über 30 km hinaus, während im Lokalverkehr bis zu 30 km nur 10 Kreuzer (17 Pf.) erhoben werden sollen. Perrot rechnete auf Verdoppelung, Hertzka auf Verfünffachung des Verkehrs.

Im Jahre 1888 endlich erschien ein Aufsehen erregendes, sehr geistvolles Buch, „Eisenbahnreform“ von Dr. Eduard Engel in Berlin, das die Tarifreformfrage wieder gründlich in Fluß brachte und in Deutschland zwar nur kleine Besserungen erreichte, dagegen im Auslande den Anstoß zu wichtigen Reformen gab.

Engel fordert einen dreistufigen Zonentarif. Die erste Zone sollte Entfernungen bis zu 25 km umfassen, die zweite von 25 bis 50 km reichen, während die dritte beliebig weite Entfernungen über 50 km einschließen würde. Die Fahrpreise III. Klasse für diese drei Zonen sollten je 25, 50 und 100 Pf. betragen. Für die II. Klasse bringt Engel das Doppelte und für die I. Klasse das Sechsfache des Fahrpreises der III. Klasse in Vorschlag; die IV. Klasse möchte er als „menschenunwürdig“ abgeschafft sehen. Im Lokalverkehr auf Entfernungen bis 10 km empfiehlt Engel noch billigere Sätze; hier sollte die Fahrkarte III. Klasse nur 10 Pf. und die II. Klasse 20 Pf. kosten. Für besonders schnelle Züge werden die doppelten Sätze gefordert. Auch für die Beförderung des Gepäcks der Reisenden wird ein einfacher Zonentarif vorgeschlagen; auf kürzere Strecken bis 50 km sollten für 50 kg nur 25 Pf. erhoben werden, während für alle weiteren Entfernungen der Satz von 50 Pf. in Anschlag gebracht wird.

In der Vereinszeitschrift „Der Zonentarif“ (Berlin W.) kämpft Engel schon seit 8 Jahren energisch und stets mit Geist und Witz weiter für diese und andere Eisenbahnreformen. Durch Aufrücken der Reisenden in höhere Wagenklassen erwartet er, außer der zweifellos eintretenden Verkehrssteigerung, eine Deckung der Einnahmeausfälle. Ueberdies würden großartige Ersparnisse an den Betriebskosten durch die weitgreifende Vereinfachung eintreten.

Engels Reformpläne gaben schon im Sommer 1889 der ungarischen Staatseisenbahnverwaltung die Anregung zur Einführung ihres 14stufigen und daher noch ziemlich komplizierten Zonentarifs, der von 226 km an zum Einheitstarif wird, da auch jede weitere Strecke, z. B. eine von 750 km, nicht mehr kostet als 226 km, nämlich 4 Gulden = 6 ℳ 80 Pf. in der III. Klasse eines Personenzuges.

Da in Ungarn infolge des Zonentarifs der Verkehr sich in etwa 6 Jahren fast vervierfachte und die Einnahmen aus dem Personenverkehr um 90 Prozent stiegen, die Mehrausgaben aber nur ganz gering waren, so folgten mehrere andere Lander wie Oesterreich, Rußland und Dänemark bald mit ähnlichen Reformen. In Deutschland dagegen ist im wesentlichen alles beim alten geblieben. Eine vergleichende Zusammenstellung der Fahrpreise ergiebt, wie weit jene Nachbarn uns in der Verbilligung der Tarife, besonders bei Fernreisen, schon überholt haben. 500 km III. Klasse im Schnellzuge kosten: in Preußen (oder Sachsen) 23 ℳ 35 Pf.; in Süddeutschland 22 ℳ 50 Pf.; in Belgien 15 ℳ 40 Pf.; in Oesterreich (Staatsbahn) 14 ℳ; in Rußland 10 ℳ 80 Pf.; in Ungarn 8 ℳ 20 Pf.; in Dänemark 6 ℳ 20 Pf.! Der Fahrpreis in Deutschland ist also fast drei- bis viermal teurer als in Ungarn oder Dänemark! 1000 km im Schnellzuge III. Klasse kosten in Preußen 46 ℳ 70 Pf.; in Süddeutschland 45 ℳ; in Belgien 30 ℳ 80 Pf.; in Oesterreich 25 ℳ 40 Pf.; in Rußland 17 ℳ 30 Pf.; in Ungarn 8 ℳ 20 Pf.; in Dänemark 7 ℳ 30 Pf.

50 kg Uebergewicht kosten auf 500 km Entfernung in Preußen 12 ℳ 50 Pf.; in Süddeutschland 8 ℳ 75 Pf.; in Oesterreich 7 ℳ 65 Pf.; in Rußland 6 ℳ 80 Pf. (IV. Klasse nur 2 ℳ 60 Pf.); in Dänemark 3 ℳ 35 Pf.; in Ungarn 1 ℳ 70 Pf. Preußen gewährt freilich 25 kg Freigepäck, Dänemark 20 kg., Rußland 16 kg. Wenn man in diesen Ländern also nach Abzug des Freigepäcks nur 25, 30 und 34 kg berechnet, so stellt sich der Gepäckspreis auf 500 km: in Preußen auf 7 ℳ 50 Pf.; in Dänemark auf 1 ℳ; in Rußland auf 4 ℳ 50 Pf.

Doch kehren wir zum Personenverkehre zurück! In Rußland kostet die 150. Zone (7693 km) nur 72 ℳ 60 Pf. (= 33 Rubel 60 Kopeken) III. Klasse, auch im Schnellzuge. In Preußen würden 7693 km im Bummelzuge 307 ℳ 80 Pf. kosten! Also mehr als das Vierfache!

20 km – um auch ein Beispiel für den Nahverkehr zu nehmen – kosten III. Klasse nach dem Normalpreis in Preußen und Sachsen 80 Pf., in Süddeutschland 70 Pf., in Belgien 65 Pf., in Rußland 60 Pf. (Lokalfahrpreis bei 75 Städten billiger, meist nur 40 Pf.), in Dänemark 55 Pf., in Oesterreich 45 Pf., in Ungarn 35 Pf. Die IV. Klasse in Norddeutschland, ausgezeichnet durch den Migräne erzeugenden gemeingefährlichen Tabaksqualm, kostet dagegen 40 Pf.; in Rußland 30 Pf. Nur Berlin erfreut sich in Deutschland eines wirklich billigen Lokaltarifs: 20 km kosten 30 Pf. im Vorortverkehr; im Stadt- und Ringbahnverkehr sogar nur 20 Pf., da hier ein zweistufiger Zonentarif herrscht (bis zur 5. Station 10 Pf., darüber hinaus 20 Pf.). Wie man sieht, ist also in den letzten 30 Jahren mancher große Schritt vorwärts gethan, wenn man auch von dem Brandonschen Ideal noch weit entfernt ist.

Eine großartige Verbilligung, welche die belgische Staatsbahn 1893 auf ihrem 3279 tun großen Bahnnetze einführte und die von Württemberg, Dänemark, Holland und der Schweiz bald nachgeahmt wurde, darf hier aber nicht vergessen werden: es sind das die 15tägigen Abonnementskarten für das ganze Staatsbahnnetz, mit denen man täglich beliebig weit überall fahren darf. In Dänemark und der Schweiz giebt es auch derartige Karten für beliebig viele Monate bis zu einem Jahre. Die belgischen Karten für 15 Tage kosten III. Klasse 23 Franken (18 ℳ 62 Pf.), die württembergischen 20 ℳ, die dänischen 20 Kronen (22 ℳ 50 Pf.), die schweizerischen 30 Franken (24 ℳ 30 Pf.). Durchschnittlich für 1 ℳ 25 Pf. täglich kann man in Belgien also das ganze Land befahren, soviel man nur will, und aus- und einsteigen, wann und wo es einem beliebt und so oft man nur mag! Diese Billigkeit, die bei den dänischen und schweizerischen Monatskarten noch weiter zunimmt, geht wirklich fast schon über alle vorgeschlagenen Zonen- und Einheitstarife hinaus, und für Touristen, Geschäftsreisende, Künstler, Kongreß- und Ausstellungsbesucher etc., welche die Gelegenheit benutzen, in kurzer Zeit möglichst viel von einem Lande anzusehen, kann man sich etwas Bequemeres und Wohlfeileres kaum denken. Und finanzielle Opfer hat diese Reform in keinem Lande erfordert! Es ist also doch einiges in den letzten 30 Jahren erreicht.

Hoffen wir, daß auch die anderen deutschen Bahnverwaltungen nicht gar zu lange mit Reformen im Hintertreffen bleiben, denn die zunehmende Befreiung des Menschen von Zeit und Raum ist ein Fortschritt, den man nur freudig im Interesse der Kultur begrüßen kann! A. Negronius.     


  1. Der Urheber des neueren Einheitsportos für Briefe, 1840 in England zuerst eingeführt (Porto 1 Penny = 81/2 Pf.), in Deutschland erst 1868, also 28 Jahre später.