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Großstädtische Fernsprechnetze

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Textdaten
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Autor: Franz Mehring
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Titel: Großstädtische Fernsprechnetze
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 531–534
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Großstädtische Fernsprechnetze.

Von Franz Mehring.

Pessimistische Philosophen und Socialpolitiker haben sich vielfach mit der Frage beschäftigt, ob die glänzenden Erfindungen des gegenwärtigen Zeitalters wirklich gleich glänzende geistige und sittliche Fortschritte der Menschheit bewirkt und ihr Gedeihen und Wohlbehagen in irgend nennenswerter Weise erhöht haben. Sie sind dabei häufig zu dem Ergebnisse gelangt, daß das lebende Geschlecht im Großen und Ganzen nicht ein größeres, sondern vielmehr ein weit geringeres Maß von irdischem Glücke besäße, als seine Väter und Vorväter besessen haben. Die Frage an sich ist ebenso schwierig wie weitläufig und soll hier nicht näher untersucht werden; nur auf einen Umstand mag hingewiesen werden, welcher es wenigstens erklärt, weshalb im Kopfe von klugen Leuten so düstere Sonderlingsmeinungen entstehen können; es ist die undankbare Geringschätzung, mit welcher die lebenden Menschen heute schon vergessen, welch ungeheueren Fortschritt sie erst gestern in ihrem geschäftlichen Verkehre, in ihrer häuslichen Bequemlichkeit gemacht haben. Wir, denen aus selbsterlebten Tagen noch die langsam rädernde Folter der Postschnecke in den Gliedern liegen sollte, klagen bitterlich über die Langeweile der Eisenbahnfahrten, und wenn sich eine über hunderte von Meilen entsandte Depesche ebenso viele Stunde verspätet, wie sie vor fünfzig Jahren Wochen gebrauchte, um an ihr Ziel zu gelangen, so sind wir untröstlich über einen unersetzlichen Verlust an Zeit. Aber auch in diesem „Uebel wohnt ein Geist des Guten“; der schnelle Ueberdruß an den allen Erfolgen erzeugt eine unersättliche Gier nach neuen, und aus ihr entspringen unaufhörlich die großen Entdeckungen und Erfindungen.

Die noch so junge Geschichte des Telephons (vergl. über die Entwickelung des Fernsprechers „Gartenlaube“ 1877, Nr. 47) bietet dafür schlagende Beweise. Es sind erst fünf Jahre verflossen, seitdem der Professor Graham Bell aus Boston auf der Weltausstellung in Philadelphia die ersten Versuche mit seinem Fernsprecher öffentlich anstellte; damals sah eine halb staunende, halb ungläubige Welt in der Entdeckung, sich auf viele Meilen von Mund zu Mund zu verständigen, fast mehr eine geistreich theoretische Spielerei, als eine praktische Erfindung von unabsehbarer Tragweite; heute ist schon das Telephon ein unentbehrliches Verkehrsmittel in der gesammten Culturwelt geworden. In gleichem Maße dient es öffentlichen, wie privaten Zwecken. Einerseits wird es benutzt, das „weltkugelumspinnende“ Telegraphennetz durch feinere und schmälere Adern fester zu schürzen - allein im deutschen Reiche sind durch Fernsprecher weit über tausend Ortschaften, die wegen der ungleich kostspieligeren Herstellung und Bedienung eigentlicher Telegraphen sonst noch lange abseits des allgemeinen Verkehrs geblieben wäre, an die großen Drahtleitungen gekettet – andererseits vermittelt der Fernsprecher in großen Geschäftsbetrieben und Haushaltungen den mündlichen Verkehr vom Comptoir zum Fabriksaale, vom Boudoir zur Küche, von Flügel zu Flügel, von Stockwerk zu Stockwerk, von Zimmer zu Zimmer. Eine dritte, weittragende Benutzung des Telephons, die in eigentümlicher Weise den öffentlichen und privaten Verkehr verbindet, sind die großstädtischen Fernsprechnetze, die in der nordamerikanischen Union, in England, Frankreich, Belgien, Holland zahlreich bestehen, auch im [532] deutschen Reiche schon eingerichtet sind, wie in Berlin, Hamburg, Mühlhausen im Elsaß, oder in nächster Zukunft eingerichtet werden sollen, wie in Breslau, Köln, Frankfurt, Bremen, Leipzig etc.

Der Nutzen und Zweck dieses neuen Verkehrsmittels bedarf keiner langen Begründung. Dasselbe ist nichts Anderes, als eine neue, siegreich vorgeschobene Etappe in dem glänzenden Kampfe des Menschengeistes gegen die so lange für unüberwindlich gehaltenen Mächte des Raumes und der Zeit. Soviel durch Stadtpost, Stadtbahnen Stadttelegraphen gethan worden ist, um die Unbequemlichkeiten und Weitläufigkeiten zu beseitigen, die den Bewohnern einer großen Stadt durch die weiten Entfernungen im täglichen Verkehre erwachsen – immer blieb ein „Rest, zu tragen peinlich“, eine nutzlose Vergeudung von kostbarer Kraft und Zeit übrig; sie zu beseitigen, den Blutumlauf des großstädtischen Verkehrs dichter schneller und damit fruchtbarer zu machen, dazu sind und werden die allgemeinen Fernsprecheinrichtungen geschaffen. Wer sich diesen millionenfältigen Verkehr lebhaft vergegenwärtigt, wird ohne Weiteres ihre weittragende Bedeutung erkennen; es mag deshalb genügen, diese nur an einigen welligen Beispielen praktisch zu veranschaulichen.

Großstädtische Fernsprechnetze befähigen einen Fabrikanten jeden Augenblick aus dem Schooße seiner Familie heraus mit seiner vielleicht meilenweit entlegenen Fabrik in Verbindung zu treten ohne jeden Verzug eilige Mittheilungen über außergewöhnliche Vorkommnisse, unaufschiebbare Geschäfte etc. anzuhören, sofort, ohne sich vom Platze rühren zu müssen, die nöthigen Anordnungen zu erlassen und sich zugleich ihrer alsbaldigen Ausführung zu versichern. Sie ermöglichen Geschäftsleuten jeder Art, dringende Angelegenheiten zwischen ihren Haupt- und Zweiggeschäften augenblicklich mündlich zu erledigen, Aufträge von ihren Kunden entgegenzunehmen und sie zugleich rascher zu besorgen, als sonst irgend möglich ist. Sie erleichtern in unberechenbarer Weise den Verkehr zwischen den einzelnen Bankhäusern und der Börse, den Bahnhöfen und den Speditionsgeschäften, den Druckereien und den Redactionen der Zeitungen. Ja, in letztgedachter Beziehung mögen sie fast eine kleine Revolution in dem großstädtischen Preßwesen hervorrufen

Es ist bei geeigneten Einrichtungen leicht thunlich, Reden in öffentlichen Versammlungen sofort mittelst Fernsprechers den Zeitungsdruckereien zu übermitteln; werden, wie es beispielsweise bei den Zeitungen „Times“ und „Indépendance belge“ schon geschehen ist, die Arbeitsräume der parlamentarischen Berichterstatter mit den Setzerräumen durch telephonische Leitungen verbunden, so kann der Bericht über eine Parlamentssitzung fast unmittelbar nach ihrem Schlusse schon dem Setzer übergeben werden.

Genug der Beispiele! Man könnte sie noch bogenlang weiter aufführen ohne entfernt alle Möglichkeiten zu erschöpfen in denen der Fernsprecher im großstädtischen Verkehr eine unabsehbare Masse voll Kraft und Zeit sparen kann. Einer allgemeinen Verbreitung dieses wohlthätigen Verkehrsmittels scheint sich mm aber insofern ein Hinderniß entgegen zu stellen als zwar wohl der einzelne große Fabrikbesitzer von seiner Villa zu seiner Fabrik die einzelne große Zeitung von ihren Setzersälen zu der parlamentarischen Journalistentribüne eine besondere Leitung in nutzbringender Weise herstellen kann, aber unmöglich jedes einzelne Geschäft sich mit jedem einzelnen Kunden oder auch nur mit jedem andern Geschäft, mit dem es verkehrt, zu verbinden vermag, ohne durch die Höhe der Kosten den Gewinn der Kraft und Zeitersparniß wieder aufzuheben abgesehen von den technischen Schwierigkeiten, welche die Legung solcher Unzahl von Drähten verursachen würde.

Indeß dieses Hinderniß wird beseitigt durch die Centralisation des großstädtischen Fernsprechverkehrs. Solche Centralisation aber wird in der Weise hergestellt, daß von einer Centralstelle aus die einzelnen Leitungen sich strahlenförmig nach den Häusern der Personen verbreiten, welche sich an der allgemeinen Fernsprechanlage zu beteiligen wünschen. Jeder Theilnehmer erhält eine numerirte Liste der mit der Centralstelle verbundenen Personen; wünscht er mit einer von dieser zu sprechen, so benachrichtigt er mittelst des Fernsprechers die Centralstelle, welche an einem ebenso einfach wie zweckmäßig eingerichteten Umschalter die unmittelbare Verbindung zwischen beiden bewirkt.

Solche Centralstellen (Central Offices) entstanden zuerst in den Vereinigten Staaten durch Actienunternehmungen, denen die Ausbeutung dieses Verkehrs auch bis heute verblieben ist. Die europäischer Staaten haben dagegen an ihrem Anspruche auf Vereinigung des allgemeinen Nachrichtenwesens in ihrer Hand oder mindestens seiner Beaufsichtigung festgehalten; ein Versuch mehrerer englischer Actiengesellschaften, sich des großstädtischen Fernsprechverkehrs auf eigene Faust zu bemächtigen, ist in einem Processe, den das General-Postoffice von London gegen sie angestrengt hat, gerichtlich vereitelt worden. In Frankreich haben ähnliche Gesellschaften von selbst um die staatliche Concession angehalten und sie auch gegen Zahlung einer Abgabe erhalten. Deutschland endlich hat von vornherein die ganze Einrichtung von Reichswegen betrieben. Die Vortheile des Staatsbetriebs sind in der That klar; die Bevorzugung einzelner Personen ist ausgeschlossen; die Bediensteten der Centralstellen sind Beamte, welche der Staat in Eid und Pflicht nimmt, wodurch die denkbar stärkste Bürgschaft gegen etwaige Mißbräuche gegeben wird, und endlich ist in diesen Falle der Staatsbetrieb entgegen weit verbreiteten Vorurtheilen auch billiger. Während der Jahresabonnementspreis für jeden einzelnen Anschluß und für die geringste Entfernung in England 20 Pfund Sterling, in Frankreich 500 bis 600 Franken beträgt, beläuft er sich im deutschen Reiche nur auf 200 Mark; bei Leitungen, die länger als zwei Kilometer sind, erhöht sich die Gebühr für jeden Kilometer oder einen Theil desselben um 50 Mark.

Die technische Einrichtung der großstädtischen Fernsprechnetze ist verhältnißmäßig einfach und leicht verständlich, wenn man, wie die Leser der „Gartenlaube“, über das Telephon selbst unterrichtet ist. Die Führung der Drähte erfolgt an eisernen Tragestangen über die Dächer der Häuser hinweg. Kabelleitungen, bei denen mehrere Drähte in ein Bündel vereinigt sind, können bei den bisher bekannten Fernsprechapparaten nicht angewandt werden, weil die Inductionsströme, die bei dem Gebrauche einer Leitung in dem Nachbardrahte entstehen, dem Besitzer des letzteren gleichfalls die geschehene Mittheilung zugänglich machen, also das Telephongeheimniß ausheben würden. Auch würden unterirdische Leitungen verhältnißmäßig zu theuer werden, nicht zum wenigsten durch das Aufreißen des Pflasters bei den natürlich unausbleiblichen Erweiterungen des ursprünglichen Leitungsnetzes.

Bisher hat die Leitung über die Dächer hinweg keine erheblichen Hindernisse gefunden; die Hausbesitzer sind der Reichspostverwaltung bereitwillig entgegengekommen, nicht nur aus Einsicht und Gemeinsinn, sondern auch im eigenen wohlverstandenen Interesse; denn der Werth der Grundstücke wird nicht unwesentlich dadurch erhöht, daß die Wohnungen solcher Häuser, über welche Telephonlinien geführt sind, sofort an das Fernsprechnetz angeschlossen werden können. Die Behauptung, daß die Drähte leicht den Blitz herabzögen, ist eine von dem hämischen Neide getäuschter Speculanten erfundene Unwahrheit; wissenschaftlich ist vielmehr im Gegentheil nachgewiesen daß sie eher als Blitzableiter dienen; die starken Gewitter, die sich in diesem Sommer über Berlin entluden, haben nicht die geringste Einwirkung auf die ganze Anlage ausgeübt.

Jeder Theilnehmer an der Einrichtung erhält zwei Fernsprechapparate, einen zum Geben und einen zum Hören, sowie zwei Weckvorrichtungen, von deren die eine (Taste) ihm ermöglicht, die Centralstelle anzurufen, während durch die andere (Klingelwecker) er selbst angerufen wird. Ein Druck auf die Taste setzt einen Elektromagneten in Bewegung, der, ähnlich wie bei der allgemein bekannten Hoteleinrichtung, an der Centralstelle eine Klappe mit der Nummer fallen läßt, welche der Anrufer im Register der Abonnenten führt. Der dienstthuende Beamte setzt eines seiner Fernsprechsysteme mit der betreffenden Leitung in Verbindung und ruft: „Hier Amt - was beliebt?“ Worauf etwa die Antwort kommt: „Wünsche mit Nummer siebenundzwanzig zu sprechen.“ Ist die entsprechende Leitung frei, so giebt der Beamte zurück: „Bitte rufen,“ stellt die gewünschte Verbindung her und schließt die herabgefallene Klappe wieder. Ist der angerufene Theilnehmer bereits anderweitig beansprucht, so ruft der Beamte: „Schon besetzt, werde melden, wenn frei“ und handelt demgemäß. Sobald die Verbindung hergestellt ist, unterhalten sich die beiden Theilnehmer, indem jeder den einen Sprechapparat zum Hören, den andern zum Geben benutzt, so deutlich, glatt und schnell, wie bei örtlichem Zusammensein. Nach Schluß der Unterredung meldet der Anrufer der Centralstelle durch einen neuen Druck auf die Taste, daß die gewöhnliche Verbindung seiner Leitung mit den Apparaten der Centralstelle wieder hergestellt werden könne. Gestattet ist die Benutzung den Theilnehmern im Sommer von sieben Uhr, im [534] Winter von acht Uhr Vormittags an bis Abends neun Uhr. Ob und unter welchen Bedingungen die Möglichkeit des Verkehrs auch während der Nacht gewährt werden soll, darüber hat sich das Reichspostamt spätere Bestimmungen vorbehalten.

Da die großstädtischen Fernsprechnetze des deutschen Reichs sich noch in vollem Flusse der ersten Entwickelung befinden, so würden statistische Angaben über ihren augenblicklichen Umfang verfrüht sein und keinerlei zuverlässigen Maßstab für ihre Bedeutung bieten. Es mag deshalb schließlich nur noch darauf hingewiesen werden, daß sie nicht nur den geschäftlichen Verkehr der Großstadt zu erleichtern, sondern auch ihr gesellschaftliches Leben ungemein zu schmücken und zu verschönern geeignet sind. Wenn hier vorzugsweise der erstere Gesichtspunkt berücksichtigt wurde, so geschah es aus dem einfachen Grunde, weil der verhältnißmäßig hohe Abonnementspreis einstweilen nur sehr reichen Leuten gestattet, auch in letzterer Beziehung die neue Einrichtung zu verwerthen. Indessen kann es keinem ernstlichen Zweifel unterliegen, daß weitere Verbesserungen des großstädtischen Fernsprechbetriebes ihn auch billiger machen und damit auch größeren Kreisen den Genuß seiner Vortheile zuwenden werden. In der vielleicht letzten Arbeit, welche der allzu früh verewigte und vielbeklagte Max Maria von Weber durch deutsche Blätter veröffentlichte, schilderte er mit liebenswürdiger Laune eine Scene aus dem Leben einer amerikanischen Hausfrau, die, früh morgens in ihrem Boudoir durch einen lieben Besuch überrascht, sofort telephonisch ihren abwesenden Gatten benachrichtigt, Mittagsgäste einladet, beim Fleischer, Gärtner, Conditor, Weinhändler ein leckeres Mahl bestellt, für einen Nachmittagsausflug einen Dampfer miethet, dem Verwalter ihrer ländlichen Villa für ein abendliches Gartenfest die nöthigen Befehle ertheilt, kurzum innerhalb einer halben Stunde nicht nur ein glänzendes Festprogramm entwirft, sondern sich auch durch sofortige Rückantworten seiner pünktlichen Ausführung versichert. Es kann ruhig dahingestellt bleiben, ob der geniale Techniker hierbei schon wirkliche Zustände schilderte oder nur mit lebhafter Phantasie ein buntes Gewebe entwarf, dessen besten Theil erst die Zukunft spinnen wird; soviel ist sicher, daß er keine unmögliche Utopie schilderte. Die Zeit wird kommen in welcher zum Comfort jedes großstädtischen Hauses ebenso die Telephonleitung gehört, wie jetzt die Gas- und Wasserleitung; dafür bürgt, wenn nichts anderes, so doch der rast- und ruhelos vorwärts stürmende Entdecker- und Erfindergeist des modernen Menschen, von welchem im Eingange dieser Zeilen gesprochen wurde.