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John Arthur Roebuck

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: John Arthur Roebuck
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 376–378
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[376]
Lebensbilder aus dem englischen Parlamente.
[376]
II.
John Arthur Roebuck.

Grade vor einem Jahre blickte ganz England und alles politische Publikum der Erde mit der größten Aufregung nur auf zwei Zeitereignisse, auf den „Kriegsschauplatz“ und auf den „roebuck’schen Antrag“. An einem heißen Juli-Abende erhob sich im Unterhause ein kleiner, kranker, verrunzelter, alter Mann mit spärlichem, sandigen Haar auf seinem gebeugten Haupte über einem blassen, galligen Gesichte, durch ein Leben fruchtlosen Kampfes verwüstet und zur Greisenschwäche abgedörrt durch eine lange Krankheit – der „wohlbekannte Senator“ – der alte, scharfe Radicale Mr. Roebuck. Mit schwacher, kränklicher, aber harscher Stimme stellte er seinen Antrag, der so lange gedroht hatte wie ein Gewitter in heißen, schwülen, verschmachtenden Tagen und so oft wieder „verschoben“ worden war, sein Tadelsvotum gegen das Ministerium Palmerston, unter dessen erbweiser Fürsorge die englische Armee auf der Krim verhungert, erfroren, durch dessen „Mißverwaltung“ England im Innern vor aller Welt seines Heiligenscheins, unter dem es für die „Civilisation“ gegen „Barbarei“ zu kämpfen vorgegeben, beraubt und von den „Sehenden“ bereits mitten in der Lüge und dem Verrath ertappt worden war.

Er schleuderte Blitze und donnerte, der alte berühmte Jupiter des parlamentarischen Radicalismus, er blickte Dolche aus seinen stechenden Augen, er redete zweischneidige Henkerschwerter von Thatsachen gegen das Ministerium; aber der Himmel blieb verschlossen über England. Es regnete nicht und Palmerston blieb König von Großbritannien. „Die Ministeranklage“, durch welche nach Burke’s Behauptung „England groß ward“, ist längst abgeschafft. [377] „Die Zeiten der Ministeranklage (und der Größe Englands) sind vorüber“, sagt schon R. Peel. Das Schlimmste, was dem Ministerio Palmerston von den Donnerern Roebuck, Layard, Bulwer Lytton, D’Israeli (denn diese brachten auch „Todesurtheile“ gegen das Ministerium ein) für die nachgewiesenen massenhaftesten Kriminal-Verbrechen hätte passiren können, war eine lächelnde Abgabe der Staatsruder an privilegirte Kollegen und Freunde, wie auf den Sturz des aberdeen’schen Ministeriums durch Roebuck ja auch dieselben Herren und Mißverwalter sich erhoben, nur daß die beiden Wechsel-Ministerial-Herren nach Dickens einmal unter dem Namen „Lord Dudle“ das andermal unter der Firma „Lord Nudle“ auftraten. Wenn England nicht parlamentarisch gedudelt wird, geschieht’s blos deshalb, weil die „feindlichen Brüder“ es während der Zeit auch einmal nudeln wollen.

Aber Roebuck siegte doch! Freilich er zwang die parlamentarischen Herren, ihm einen großen Gerichtshof zur speciellen Untersuchung der englischen Krim-Kriminalistik zu bewilligen. Da saß der alte, gebrochene Held Wochen lang alle Tage vor dem Angesichts der Oeffentlichkeit und des preß-, rede- und versammlungsfreien Volks und verhörte Generäle, Herzöge und Autoritäten und Zeugen höchsten Ranges und stellte durch ein zwanzigfoliobändiges Protokoll fest, daß die Ermordung der englischen Armee und der alten nationalen Glorie Großbritanniens wirklich das Werk der englischen Regierer und Befehlshaber gewesen, das Werk „schmutziger Vögel, die ihr eigenes Nest verunreinigen.“ Es entstand also die Frage, die damals in besonderen Broschüren besprochen ward: „Wen sollen wir hängen?“ Die Antwort lief darauf hinaus: Das System müssen wir hängen, das englische Regierungs- und Verwaltungssystem und allenfalls noch Den und Jenen, der schon todt ist und dem man daher beliebig viel Schuld auf den Grabhügel packen kann. Aber das System ist keine Person und eignet sich deshalb auch nicht zum Hängen. Außerdem ist das System, an welchem die englische Armee starb, die einzige Lebensquelle aller respectablen Familien von hoher Geburt und dicker Kasse. Das System müssen wir also auch leben lassen, denn daran sterben ja blos Leute, die nie eigentlich „geboren“ wurden. Und was liegt an denen? Was liegt überhaupt an Englands Größe im Allgemeinen? Kümmerten sich die römischen Kaiser und ihre Hofleute um Roms Größe und Wohlfahrt? Dachten gar nicht daran, und doch lebte das römische Weltreich noch 7 Jahrhunderte, nachdem es zu sterben angefangen. – „Après nous le déluge“, denken die privilegirten Klassen. Die Sündfluth wird erst nach uns kommen. So lange wir leben, hält auch das liebe heilige römische Reich Großbritanniens noch zusammen. Und wer wird sich um ungelegte Eier der Zukunft bekümmern?

John Arthur Roebuck.

Alle roebuck’schen, layard’schen Verwaltungs-Reform-Blitze und Donner verzuckten und verhalten spurlos und die Schleußen des Himmels blieben verschlossen. Von den Reformen, welche die Regierung selbst bei Parlamentseröffnungen anzukündigen pflegt, werden in der Regel drei zurückgezogen, zwei verworfen und die drei übrigen in der „Gesetzfabrik“ so zugerichtet, daß aus Ruthen Skorpione werden. Die reformatorischen Anträge von Parlamentsmitgliedern selbst fallen regelmäßig durch oder werden mit Amendements angenommen, die nichts von der Reform übrig lassen. Und so wird der Leichengeruch immer stärker und Lord Burleigh’s Prophezeiung: „England wird nie fallen, wenn nicht durch sein Parlament,“ naht immer hörbarer, wie die Schritte des steinernen Gastes im Don Juan, um die gloriosen Friedensfeuerwerke vom 29. Mai als Höllenfeuerregen der Verdammniß zu wiederholen.

Roebuck, der durchgefallene Held der Geschichte, ist und bleibt dadurch eine Persönlichkeit, an deren Namen sich einst der bedeutendste Wendepunkt in der Geschichte des Verfalles Englands anschließen wird. Der Mann verdient näher angesehen zu werden. Aber wie sein Bild verständlich machen? Da steht er kahl ohne Vorder- und Hintergrund, ohne welchen er ein Räthsel bleibt. Die parlamentarischen Umgebungen, die sein Bild erst verständlich machen, sind aber so verwickelt und verworren, daß wir an der Möglichkeit verzweifeln, dieselben nur in groben Strichen anbringen und treffen zu können. Wir müssen uns damit trösten, daß das innere Leben des Parlaments nach und nach aus verschiedenen Bildern und Skizzen, die wir bringen werden, sich zu einem Ganzen und einer wahrheitsgetreuen Gliederung im Kopfe des aufmerksamen Lesers fügen und finden mögen.

Roebuck als Person und parlamentarische Größe läßt sich in folgenden biographischen Daten anschaulicher machen. Geboren 1801 zu Madras im englischen Indien, wo sein Vater Arzt war (wie sein Großvater, Kollege und Freund des berühmten James Watt, in Birmingham), als Knabe nach Kanada versetzt und dort erzogen, kam er erst 1824 nach England und zum eigentlichen Studium, und zwar der Rechte in dem „innern Temple“, wo das alte anglosächsische Recht gegen die parlamentarische Gesetzfabrikation noch einigen Schutz findet. Im Jahre 1832 ward er zur „Barre gerufen“ d. h. in die juristische Praxis eingeführt. Aber er war nicht berufen, für die Rechte Einzelner advokatisch zu streiten, sondern für die Gerechtigkeit gegen Alle. Zunächst rief ihn ein Ehrenamt aus seiner Privatthätigkeit zur öffentlichen. Das Parlament von Unter-Kanada bedurfte in seinem Streite mit dem Mutterlande eines Agenten in England. Es wählte dazu Roebuck, der in Kanada aufgewachsen, das Vertrauen auf seine Person und Talente dort zurückgelassen. Zugleich gab ihm die Aufregung in England, welche durch die betrügerische Reform-Bill Lord John Russel’s beschwichtigt ward (1832) Gelegenheit, seinen brennenden Eifer für das Wohl aller Klassen in energischen Reden und Flugschriften zu zeigen. Der junge Radikale ward dafür von den Wählern der Stadt Bath in’s Unterhaus des Parlaments berufen. Bald nach Eröffnung desselben 1833, als der Agitator O’Connell an den knorrigen, verworrenen Wurzeln der englischen Constitution rüttelte und die Thronrede „brutal und blutig“ nannte, stürzte sich auch der junge Roebuck mit wüthendem Eifer gegen die Person des damaligen Secretairs von Irland, dem er vorwarf, die Flamme der Unzufriedenheit, welche in O’Connell aufloderte, geschürt und genährt zu haben. Der aristokratisch-vornehme Secretair erwiederte ihm mit kaltem, verächtlichen Lächeln. „Ich verstehe [378] den Sinn dieses Lächelns“ fuhr Roebuck auf; „denn wenn es etwas giebt, wodurch sich die oligarchische Aristokratie empörender und erniedrigender vor allen andern Menschen auszeichnet, als durch ihre übrigen Vorzüge, so ist es deren allezeit bereites höhnisches Lächeln über die humanen und ehrlichen Meinungen und Gefühle unserer allgemein menschlichen Bedürfnisse und Ansprüche, die ihnen zu Ohren kommen.“ – Sie haben seitdem immer fortgelächelt und gehöhnt, Palmerston selbst über die Haufen Leichen, die ihnen auf der Krim geopfert worden waren, und über den roebuck’schen Antrag und über die roebuck’sche Krim-Untersuchungs-Folianten und sie lächeln immer noch, und Roebuck hat sich mit seinem Ernste und seiner Ehrlichkeit aufgerieben, wie sich von Cicero an sieben Jahrhunderte lang alle ehrlichen Naturen aufrieben, um das untergehende Rom zu retten, wie sich seitdem in jedem Volke, das die Mahnungen der Geschichte vornehm weghöhnt, die bessern Geister aufreiben und aufopfern, um in den dahinsterbenden von der Geschichte abfaulenden Massen noch die edele Substanz der Menschennatur zu vertreten. –

Roebuck konnte es bei allem Eifer und Ernste nie zu einer dauernden Macht gegen die mächtigere „Erbweisheit“ bringen. Allerdings hat der von ihm schon 1835 begonnene Kampf gegen Stempelsteuer der Zeitungen und mancher andere Kampf mit Sieg geendet, aber zu einer gründlichen Reform fehlte es ihm stets an Stimmen so sehr, daß er jetzt eigentlich als Vertreter des Radicalismus ganz allein steht oder vielmehr körperlich und geistig vollends zusammenbricht. (Wir werden später bei Skizzirung der parlamentarischen Parteien nachweisen, daß die Radikalen in England durchaus nichts Revolutionäres wollen und überhaupt mit den Radicalen in Deutschland nichts gemein haben.)

Im Jahre 1835 suchte er als Eigenthümer und Redacteur eines Journals: „Pamphlets für’s Volk“ zu wirken. Er ging tüchtig in’s Zeug und griff alles Faule und Feile rücksichtslos an, namentlich auch die faule, feile Presse. Drei Redacteure derselben forderten ihn. Zwei Forderungen wurden friedlich beseitigt, aber die dritte vom Redakteur des „Morning Chronicle“ endete nur, nachdem jeder zwei Kugeln abgeschossen, von denen keine traf.

Er sprach und schrieb phrasen- und gnadenlos, ohne Grazie, ohne Schonung, namentlich gegen die Whigs, die er als entschiedene Verräther an Volk und Land enthüllte. Aber die Whigs waren mächtig, so daß sie 1837 seine Wiederwahl in Bath zu verhindern im Stande waren. Vier Jahre später sahen die Wähler von Bath ein, daß sie sich hatten „bewhiggen“ lassen und wählten ihn wieder. Sein Feuer loderte wieder auf, besonders bitter persönlich gegen einen Neuaristokraten, der ihn deshalb forderte. Diesmal (1844) schoß er nicht, sondern las die Herausforderung dem Unterhause als eine Jugendthorheit seines Gegners vor, womit die Sache abgemacht war.

Seine Kämpfe nahmen verschiedene Zustände und Personen für ihr Object, besonders den pfiffigen, falschen Renegaten D’Israeli, der sich aber damit begnügte, Thatsachen durch spitze Phrasen und persönliche Aufziehungen zu bekämpfen. Im Jahre 1847 von den Wählern von Bath wieder verworfen, ward er 1850 von Sheffield gewählt. Der radicale Roebuck hatte jetzt nichts Eiligeres zu thun, als in einem Mißverständnisse über die auswärtige Politik Palmerston’s denselben vor einem Tadelsvotum in der griechischen Frage zu retten. Gar manche noch gescheidtere Köpfe als Roebuck hielten und halten Palmerston „für keinen russischen, keinen österreichischen, sondern für einen englischen Minister“, mit welcher verkündeten Neuigkeit Lord John Russel noch vor wenigen Jahren Beifallsstürme im ganzen Lande hervorrief, als wäre es das merkwürdigste, erfreulichste Wunder, daß Palmerston doch am Ende wirklich englischer Minister sei.

Daß Roebuck im Uebrigen kein Freund Palmerston’s und der Whigs war, bewies er bald durch seine „Geschichte der Whig-Partei“, worin er deren politische, gesteigerte Macht hauptsächlich der russel’schen Schein-Reformbill von 1832 zuschrieb. Diese Bill verschaffte den Kapitals- und Landes-Oligarchen nur mehr Wahlflecke, um sich dort mit schlechtem Bier und beizendem Tabak und Einkauf von Stimmen in die feste Burg der Privilegien, das Parlament, einzuschwindeln. – Einen andern Hauptbeweis seiner litterarischen Fähigkeit lieferte Roebuck in der „Geschichte der Kolonien Englands“, welche für die beste ihrer Art gehalten wird. Er schrieb diese Werke, nachdem er sich wegen Krankheit aus dem Parlament zurückgezogen hatte. Sein Vorsatz, sich von seinen bisherigen parlamentarischen, aufreibenden Kämpfen fern zu halten, zerstob aber in alle Winde, als die heimtückische, landesmörderische Krim-Expedition die ganzen britischen Inseln mit Entsetzen und Trauerflor überzog. Obgleich krank und gebrochen, sprang er auf und stürzte das Coalitions-Ministerium Aberdeen. Aber es bildete sich aus dem alten ein neues, wie das in England so parlamentarische, unantastbare Sitte ist, so daß die regierenden Familien fortwährend das Kunststück machen, welches ein Bauer seinem Sohne auf der Universität rieth. Er schickte ihm seinen alten Rock mit den Worten: Hier, lieber Gottfried, schicke ich Dir meinen alten Rock. Laß Dir einen neuen daraus machen.“ Roebuck nahm zwar den alten, ungenähten Rock vor und klopfte den dicksten Schmutz heraus d. h. er zwang das unter Palmerston’s Firma wieder auftretende Aberdeen-Ministerium, seine in Heuchelei und Verrath entschiedensten Mitglieder auszustoßen, aber sie und ihre Tanten, welche England eigentlich parlamentarisch am Leitseil ziehen, blieben doch Palmerston’s Freunde und Palmerston, was er der auswärtigen Politik funfzig Jahre lang gewesen.

Roebuck’s energische, aber durch Einsamkeit und Mangel an Gesundheit und Stimmen (die ja constitutionell doch Alles sind) geschwächte Thätigkeit und Rede zur parlamentarischen Reinigung Englands sind verschollen, wie er selbst bald vollends zusammenbrechen wird. Palmerston und Parlament triumphiren. Der politische und historische Untergang Großbritanniens, als einer Hauptmacht unter den fünf Großmächten hat definitiv nach Außen begonnen, nachdem er im Innern längst parlamentarisch vorbereitet war. Dies geht nicht mit Dampf, sondern langsam und gründlich, wie Rom, wie Griechenland, wie Holland und Spanien u. s. w. Jahrhunderte brauchten, um von ihren „Höhen und Ausdehnungen“, auf denen die Sonne nicht unterging, so tief zu sinken und so eng zusammenzukriechen, daß es auch der Gesinnungstüchtige und, constitutionell Vertrauungsvolle, der parlamentarisch Gläubige, capiren mag.

England, das Land, wird nicht untergehen, wenn nicht geologisch Vulcan oder Neptun es unter Wasser setzen. Aber die bisherige historische, parlamentarische, englisch-nationale Herrlichkeit, die Macaulay so zauberisch und whiggistisch trügerisch zu schildern weiß, daß jeder brave Deutsche an sie glaubt, ist an der Grenze ihres Witzes angekommen.

Wie der Tod aus dem Parlamente quillt, wo die ehrlichsten, standhaftesten, mäßigsten und populärsten Reformer, wie Roebuck, und noch viel Bescheidenere vornehm niedergelächelt und todt geschwindelt werden, das wird in folgenden Thatsachen und Lebensbildern zur Anschauung gebracht werden.