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Noch einmal der gezähmte Wolf

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Textdaten
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Autor: Carl Vogt
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Titel: Noch einmal der gezähmte Wolf
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 407–408
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Noch einmal der gezähmte Wolf.


In Nr. 20 der „Gartenlaube“ des laufenden Jahrgangs wird eine Geschichte von gelungener Zähmung eines jungen Wolfes erzählt. Brehm bringt in seinem „Thierleben“, Band 1, Seite 406 schon einige Nachrichten über gezähmte Wölfe. Alle diese Erzählungen betreffen aber nur junge, von ihren Stammgenossen ferngehaltene Thiere. Es dürfte daher vielleicht am Orte sein, an den Besitzer des gezähmten Wolfes eine Warnung ergehen zu lassen. Der älter gewordene Wolf fällt in die ursprüngliche Wildheit zurück, sobald er mit anderen wilden Wölfen zusammenkommt oder nur ihr Geheul hört. Es geht ihm wie dem scheinbar civilisirten Indianer, der ebenfalls wieder den Wigwam bezieht, sobald er unter seine uncivilisirten rothhäutigen Brüder kommt.

Einer meiner Freunde, welcher acht Jahre lang in den Waldgebirgen Asturiens mit forstlichen Aufgaben beschäftigt war, giebt nur darüber einige Notizen, die vielleicht nicht uninteressant sein dürften. Wölfe sind dort außerordentlich häufig; alle Bauern kennen sie und ihre Gewohnheiten, und mein Freund selbst begegnete ihnen öfter. „Eines Tages,“ sagte er mir, „kehrten wir ermüdet von einem langen Ritte nach Cangas de Tineo heim, einer kleinen Stadt, am Rande des großen Waldes von Muriella, den man fast einen Urwald nennen könnte, gelegen. Ein Begleiter führte unsere Pferde nach, die kaum den steilen Abhang hinauf konnten – so müde waren sie. Ein Wolf kam quer über eine Waldwiese, brach durch die Hecke, stellte sich in die Mitte des Pfades und betrachtete in etwa dreißig Schritt Entfernung uns und unsere Pferde sehr aufmerksam. Ich machte meine Pistolen schußfertig, denn ein Gewehr hatte ich nicht; leider aber ließ mich mein Begleiter nicht zum Schusse kommen. Er sprang, ein lautes Huh! brüllend, gegen den Wolf vor – dieser rannte, offenbar erschreckt, im vollen Laufe davon. Der Wolf gilt hier allgemein für ein feiges Raubthier; einen aufrecht stehenden Menschen, sagen die Bauern, greife er nie an; sobald aber der Mensch am Boden liege, falle er über ihn her. In der That wurde ein Bauer, der in der Nähe eines Wolfes, um den er sich gar nicht weiter kümmerte, an einem Graben arbeitete, von diesem augenblicklich überfallen, als er in Folge eines Fehltrittes sich überschlug und in den Graben stürzte.“

Dies nur, um zu beweisen, daß Wölfe in Asturien genugsam bekannt sind, und nun zur Geschichte eines zahmen Wolfes, die sich während der Anwesenheit meines Freundes zutrug.

Ein Landpfarrer im Gebirge, ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn, wie alle Geistliche jener Gegend, erschoß eine säugende Wölfin, fing das Junge und zog es groß. Der junge Wolf wurde zahm wie ein Hund, begleitete seinen Herrn auf Wegen und Stegen, war gehorsam auf Ruf und Wink, lief neben dem Maulthiere her, das der Pfarrer ritt, und wurde von diesem öfter auf den Markt nach Cangas mitgenommen, wo er von Jedermann gekannt war, sich wie ein Hund streicheln ließ und mit jeglichem Gethier in Frieden lebte. Niemals hatte der Pfarrer bemerkt, daß sein Wolf ein anderes Thier angegriffen hätte. Mit den Hunden im Dorfe hielt er vortreffliche Freundschaft und diese mit ihm.

Eines Abends ritt der Pfarrer nach seinem etwa zwei Stunden von Cangas entfernten Dorfe zurück. Der Wolf, der wohl zwei Jahre alt war, trottete neben ihm, wie gewöhnlich, durch den Hohlweg, der auf beiden Seiten mit Kastanienhecken bepflanzt war, welche die freie Aussicht hemmten. Etwa in der Entfernung einer halben Stunde vom Dorfe, im Augenblicke, wo der Hohlweg endete, ließ sich seitwärts auf einer Höhe das Geheul einiger Wölfe hören. Der zahme Wolf stutzte einen Augenblick; dann sprang er aus dem Wege heraus und jagte, ohne auf den Ruf seines Herrn zu hören, in vollem Laufe den heulenden Stammgenossen zu. Der Pfarrer war schnell entschlossen. Er sprang aus dem Sattel, gab dem Maulthiere mit der Peitsche einen tüchtigen Hieb über den Rücken, in der Hoffnung, daß es das Dorf noch glücklich erreichen werde, und kletterte auf den nächsten Baum. Das Maulthier rannte in voller Carrière dem Dorfe zu und verschwand in der zunehmenden Dunkelheit; das Wolfsgeheul dauerte noch eine Zeitlang in derselben Richtung fort, dann verstummte es.

Der Pfarrer blieb die Nacht über auf dem Baume sitzen und verließ sein kaltes und luftiges, aber sicheres Quartier erst, als der Tag zu hellen begann. Einige hundert Schritte von dem Baume fand er sein Maulthier zerrissen im Wege liegen, und da bei der frühen Stunde noch Niemand auf dem Felde war, so blieb ihm nichts übrig, als sich selbst mit Zaum und Sattelzeug zu bepacken und dasselbe nach Hause zu tragen, wo er auch wohlbehalten anlangte.

Der Wolf blieb zwei Tage lang weg. Am dritten Tage, als der Pfarrer eben nach dem Frühstücke durch das Fenster seinen Hof überblickte, sah er seinen Ausreißer, der mitten [408] unter dem Geflügel sich eben so friedlich und harmlos herumtrieb, als ob Nichts vorgefallen wäre. Sein Herr rief ihn an – der Wolf kam freundlich wedelnd heran, zuthunlich wie immer. Der Pfarrer aber riß das Gewehr von der Wand und streckte ihn mit einem Schusse zu Boden. „Einmal einen Wolf gezähmt, und nicht wieder,“ sagte er zu meinem Freunde.

Die Geschichte bestätigt den Satz, den ich oben aussprach. Es st eine alte Erfahrung, daß der Mensch schließlich alle Thiere zähmen kann, daß aber die Zähmung erst gefestigt wird, wenn sie, wie bei unseren Hausthieren, eine lange Reihe von Generationen hindurch fortgesetzt wird. Die ursprüngliche Wildheit bricht aber am leichtesten in der Zeit durch, wo die Thiere mannbar werden. Möge sich also der Besitzer des gezähmten und jetzt noch zahmen Wolfes in Acht nehmen!

Da ich aber nun einmal bei Wolfsgeschichten bin, so möchte ich noch einige andere Notizen meines Freundes verwerthen.

Seiner Versicherung nach findet man in der bezeichneten Gegend von Asturien viele wirkliche Bastarde von Hund und Wolf, die mit Vorliebe zum Hüten der Schafheerden benutzt werden und einen ingrimmigen, tödtlichen Haß gegen die Wölfe an den Tag legen. Nach der oben erwähnten Begegnung fand mein Freund auf der andern Seite des Hügels eine Schafheerde, die von einem kleinen Mädchen und einem solchen Wolfshunde gehütet wurde. Er warnte das Mädchen vor dem umherstreifenden und offenbar hungrigen Raubthiere. „Bah, antwortete das Kind, auf seinen Hund zeigend, „wir fürchten uns nicht. Der nimmt es mit allen Wölfen Spaniens auf.“

Der Verwalter des dem Grafen von Toreno gehörigen Jagdschlosses la Muriella, welches mein Freund mehrere Jahre lang bewohnte, hatte einen solchen Wolfshund, der Turco hieß, ein großes, mächtiges Thier, so ähnlich einem Wolfe, daß er später von einem Bauer, der auf Wölfe lauerte, aus Irrthum erschossen wurde. Ein vortrefflicher Wächter, schlief Turco gewöhnlich auf der Schwelle des Zimmers meines Freundes, dem er sehr zugethan war. Von Zeit zu Zeit aber wurde das Thier unruhig, drängte sich mehr als gewöhnlich an seinen Herrn, schmeichelte demselben, sprang schnüffelnd um ihn herum und bellte kurz und laut, als habe er etwas zu verlangen. „Er hat Jagdlust,“ sagte der Verwalter, als mein Freund ihn das erste Mal um dieses sonderbare Benehmen des Hundes befragte, „er will Wölfe jagen.“ Der Verwalter nahm nun ein starkes, mit langen Stacheln besetztes Halsband von der Zimmerdecke und band es dem Hunde um. Turco bezeigte ungemeine Freude und rannte, nach Oeffnung der Thür, stracks dem benachbarten Walde zu. Meist blieb er dann zwei bis drei Tage aus und kam oft übel zerbissen, blutig und zerzaust zurück, offenbar sehr befriedigt und zufrieden mit sich selbst. Nach einem solchen Jagdzuge hatte Turco für einige Zeit Ruhe. Er war der Liebling sämmtlicher Bewohner des Schlosses.

„Eines Tages,“ erzählt mein Freund, „hörten wir in der Nähe des Schlosses ein Mädchen überlaut schreien: ‚Turco! Turco! Hülfe!‘ Wir eilten an die Fenster und sahen, kaum hundert Schritte vom Schlosse, einen großen Wolf, der ein junges Schaf gepackt hatte und mit diesem im Rachen auf die Landstraße hinaufsprang, die etwas höher längs dem Felde hinlief, und so die benachbarte Höhe nach dem Walde hin zu gewinnen suchte. Das Thor wurde schnell geöffnet, und Turco seine mit furchtbarem Geheul dem Wolfe nach. Ein anderer Wolfshund, welcher ein dem Walde näheres Gehöft hütete, rannte, ebenfalls laut heulend, herzu und schnitt dem Wolfe den Rückzug nach dem Walde ab. Dieser ließ das Schaf fallen und suchte sich zu retten. Die beiden Hunde hatten ihn aber bald ereilt und fürchterlich zerfleischt zu Boden gerissen. Der mit einem Knittel herzueilende Bauer des Gehöftes hatte keine Mühe, den Wolf vollends zu erschlagen. Die beiden Sieger waren kaum verletzt. Turco kam in das Schloß zurück und legte sich so ruhig auf seine Schwelle, als hätte er nur einen gewöhnlichen Spaziergang gemacht.“

Alle diese Bastarde sind, nach der Versicherung meines Freundes, von männlichen Wölfen mit Hündinnen erzeugt und gelten in der Gegend für unter sich fortpflanzungsfähig.

Carl Vogt.