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Pariser Bilder und Geschichten/Ein Verbannter

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein Verbannter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 21–24
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Victor Hugo
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Pariser Bilder und Geschichten.
Ein Verbannter.

Victor Hugo.

Es war im Jahre 1825, als Karl X. einem jungen Poeten von zweiundzwanzig Jahren eine Audienz gewährte, der dem Monarchen eine Krönungsode überreichte. Herr von Chateaubriand, der unerschütterlich treue Freund der Bourbons, der später demselben Karl X., da ihm der Julisturm die Krone vom Haupte geschlagen, freiwillig, unaufgefordert in die Verbannung gefolgt, Herr von Chateaubriand war auch zugegen. Der König durchlief die gereimten Zeilen, und überreichte das Manuscript dem berühmten Verfasser des „Geistes des Christenthums“, der sich etwas rückwärts an der Seite des Königs hielt. Nachdem Herr von Chateaubriand das Poem gelesen hatte, frug der König:

„Nun, was halten Sie von diesem jungen Manne?“

„Sire,“ antwortete der Befragte, „es ist ein erhabenes Kind (un enfant sublime).“

Dieser junge Mann war Victor Hugo; dieses Wort als Geleitsbrief, begann er seine dichterische Laufbahn, die so reich an Widerwärtigkeiten und Erfolgen, so reich an Kämpfen und an Siegen werden sollte.

Die Kindheit Hugo’s war eine bewegte, reich an wechselnden Bildern, an tiefgehenden, wunderbaren Eindrücken.

Er ist zu Besançon im Jahre 1803 geboren, und folgte in einem Alter von fünf Jahren seinem Vater, der General im Dienste des damaligen Königs von Neapel, Joseph Bonaparte, war, nach Italien und später nach Spanien. Seinem Vater, als Gouverneur der Provinz Avellino, ward die Aufgabe, den berühmten Räuberhauptmann Fra Diavolo, der zu jener Zeit seine abenteuerlichen Streiche spielte, zu besiegen, die er vollkommen lös’te. Bilder und Ereignisse, die an dem Kinde vorüberzogen, mußten nothwendig auf dessen Einbildungskraft wirken, um sich später in dem Poeten als Erinnerungen zu beleben.

Im Jahre 1809 kam der kleine Victor mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Frankreich zurück, und da begann seine wissenschaftliche Ausbildung, die Ausbildung seines Herzens, dem die zarte Liebe, die hingebende Wachsamkeit seiner Mutter eine heilsame Pflege gewährte. Das alte Kloster der „Feuillantines“ nahm die Familie auf, die sich in stiller Zurückgezogenheit ein freundliches Dasein gestaltete, das zwei Jahre dauerte. An diese Zeit und an diesen Aufenthalt knüpfen sich die ersten zwei Erfahrungen des Knaben von verschiedener Bedeutung, die bis in ein reifes Alter hinein ihre Geleise zogen.

Er gewann eine kleine Freundin seines Alters, mit der er sich im Garten umhertummelte, und die ihm später eine liebende, eine geliebte Gattin wurde. Außerdem traten ihm die blutigen Wehen seines Landes, die verderbliche Parteileidenschaft, der unvertilgbare, unausgleichbare Zwiespalt, dem schon viele große, heilige Opfer gefallen, in einem Geächteten entgegen. Der General Lahorie, in den Prozeß Moreau verwickelt und legitimistischer Bestrebungen angeklagt, suchte in dem Hause der Frau Hugo, einer echten Vendeerin, einen Versteck und Schutz vor den Verfolgungen der kaiserlichen Polizei. Zwei Jahre lang blieb der Flüchtling den Blicken der Häscher verborgen und es gereichte ihm zum Zeitvertreib, dem kleinen Hugo von seinem Wissen mitzutheilen, der sich [22] zu dem ernsten Lehrer hingezogen fühlte, von dem ihm die ersten legitimistischen Grundsätze eingeimpft wurden. Der Verrath lieferte im Jahre 1811 das Opfer den Schergen. Der General wurde entdeckt, aus den Armen des weinenden Knaben gerissen und in der Ebene von Grenelle zugleich mit dem Aufwiegler Mallet erschossen. Einige Monate hierauf berief der General Hugo, Major Domus des Palastes zu Madrid, seine Familie zu sich, und der Knabe wurde in ein adeliges Seminarium gethan, aus dem er im Jahre 1812 in das alte Kloster zurückkehrte. Hier erlebte er die erste Rückkehr der Bourbons, die er im Geiste seiner vendeeischen Mutter mit Jubel begrüßte. Er zählte kaum zehn Jahre, als ihn der Genius der Poesie überkam, und sich seine Gedanken und Gefühle zu rhythmischem Ausdruck drängten.

Noch einen andern Streich bis tief in sein Inneres sollte der Knabe von der politischen Leidenschaft erhalten, die ihren Zwiespalt in seine Familie schleuderte. Sein Vater und seine Mutter, durch Meinungen scharf getrennt, ließen sich gerichtlich scheiden, und der General, von seinem Recht Gebrauch machend, entzog das Kind den pflegenden, mütterlichen Händen, um es in Vorbereitungsanstalten in den Wissenschaften unterweisen zu lassen, die erforderlich zum Eintritt in die polytechnische Schule sind. Wiewohl mit Widerstreben dem Studium der Mathematik obliegend, die so wenig der Natur und Richtung seines lebhaften Geistes entsprach, blieb der junge Hugo dennoch nicht hinter den Forderungen seines Vaters und seiner Lehrer zurück. Alle Stunden, über die er verfügen konnte, widmete er jedoch der Poesie. Und im vierzehnten Jahre hatte er eine Tragödie nach dem sogenannten klassischen Zuschnitt vollendet, die Irtamène betitelt war.

Zu funfzehn Jahren warb er um den Preis, welchen die pariser Academie auf das beste Gedicht, als Stoff „die Vortheile des Studiums“ behandelnd, gesetzt. Er hätte ihn gewonnen, wenn sich nicht die ehrenwerthen Schiedsrichter, durch zwei Zeilen in dem Gedichte genarrt, mystifizirt geglaubt hätten. Diese lauteten:

„Ich, der selten Höfe und Städte geseh’n,
Zähle nicht zweimal der Jahre zehn.“

Wie hätten die privilegirten Kunstrichter hinter dem fertigen Werk, das außerordentliche Vollendung der Form kund that, die Jugend des Meisters vermuthen sollen; sie hielten die Angabe für Hohn und enthielten zur Strafe für so kühnes Vermessen dem Poeten den Preis vor. Der verzweifelte junge Dichter trug schleunig, so wie er durch einen Freund Kenntniß der Umstände erhielt, seinen Geburtsschein zu dem Berichterstatter, Herrn Raynouard, um den Irrthum aufzuklären und die gemachte Angabe zu bestätigen, allein es war zu spät. Die Palme war bereits einem Anderen zugestanden, und der junge Dichter mußte sich für dieses Mal mit einer ehrenvollen Erwähnung und mit dem Aufsehen begnügen, das die Geschichte in wissenschaftlichen und künstlerischen Kreisen gemacht. Die Zukunft bot reichen Ersatz. Als Hugo achtzehn Jahre alt war, waren drei seiner lyrischen Gedichte von der Akademie mit Preisen gekrönt. Er hatte sich bei seinem Vater die Freiheit ausgewirkt, seinem künstlerischen Berufe ungestört zu folgen.

Die Jahre 1820 und 1822 finden den Poeten in voller rastloser Thätigkeit, und schon fängt Frankreich an, über die frühreife Kraft des jungen Poeten, über die Selbstständigkeit seines Geistes, über die Kühnheit seiner Gedanken, über die Tiefe der Leidenschaft, die Ueberwältigung der Form zu staunen. Seine „Oden und Balladen“ erschienen noch ohne jenes Uebermaß, dem sich der Poet später hingab, voll religiöser und royalistischer Gefühle, ohne sklavischen Gehorsam für das Hergebrachte, aber auch ohne jene Sucht nach Originalität, ohne die verkehrte Absichtlichkeit, eine besondere Schule zu gründen, die aus dem frei schaffenden Künstler einen poetischen Parteigänger gemacht. Das überreizte Paris machte sich zum Götzen des jungen Dichters, und es war um dessen Unbefangenheit, um dessen poetische Lauterkeit geschehen. Die durch den ununterbrochenen Wechsel von Katastrophen abgestumpfte, ermüdete pariser Gesellschaft forderte Ungeheures, Gräuliches, um auf sich wirken, sich bewegen zu lassen, und Hugo beging den Fehler, das Verbrechen an seiner außerordentlichen Begabung, dieser Forderung nachzukommen. Er konnte ein großer Dichter sein für alle Zeit, wie er es in seinen lyrischen Schöpfungen, von keinem Franzosen erreicht, unbestreitbar dargethan, und machte sich zum Poeten des Tages, er überschrie den Lärm des literarischen Marktes, um Gold und Kränze aus ungeweiheten Händen zu empfangen; es gelang seiner mächtigen Stimme; allein sein poetischer Genius weint über den traurigen Erfolg. In „Han von Island“ und „Bug-Jargal“ stellte Hugo ein Ungethüm und einen Zwerg so widriger, unnatürlicher Art dar, daß ein krankhaftes, verfehltes Streben nach dem Ungewöhnlichen, Außerordentlichen unverkennbar. Seine Freunde suchen diese beiden Jugendwerke, die der Entschuldigung bedürfen, dadurch zu entschuldigen, daß sie ihr Entstehen mit dem Gram in Zusammenhang bringen, der den jungen Dichter wegen des Hindernisses heimgesucht, das sich seiner Verbindung mit dem Mädchen seiner Liebe entgegengestellt. Dieses Hinderniß war nämlich seine Armuth, in der That eine Zwangsjacke der drückendsten Art, aus der herauszukommen der brennende Wunsch verzeihlich ist. Allein Fräulein Foucher wurde die Frau Hugo’s. Gold, Auszeichnung, Ruhm näherten sich schmeichelnd dem glücklichen Poeten; er wurde eine gesetzgebende Macht; ein ganzer Troß junger Schriftsteller befand sich in seinem Gefolge wie ein Hofstaat, und er dichtete seine Dramen, seinen Roman „Notre Dame de Paris“, in denen statt Schönheit, Wahrheit und Natur Haß, Lüge, Unnatur die Hauptrollen spielen. Im Notre Dame, um nur des Einen unter Vielen zu gedenken, hat der Leser immer und immer den Galgen vor Augen; die Heldin des Stückes, die reizende Zigeunerin Esmeralda, eine Nachbildung der goethischen Mignon, wird ein Mal vom Galgen gerettet und dann doch gehängt, ohne das Geringste verbrochen zu haben. Niemand kann den Grund ermitteln, warum es Herrn Hugo beliebte, einen Menschen zum Scheusal zu machen, wie Quasimodo, warum er sich gar so eifrig bemüht, alle Häßlichkeiten auf ein Wesen zusammenzutragen. Herr Hugo zerbrach in Frankreich den Zwang der sogenannten klassischen Einheiten, in die sich die Tripelallianz des großen Zeitalters: Corneille, Racine und Voltaire, so wie ihre Nachfolger geschmiedet. Unser Lessing hat ebenfalls die dramatische Kunst von dem Gotsched’schen Zopfe befreit und dem natürlichen Ausdruck der Gefühle und Leidenschaften einen Raum und Umfang gewonnen, allein er hat nicht einen Fehler beseitigt, um in den entgegengesetzten zu verfallen, er warf nicht die Unnatur zur Thür hinaus, um sie zum Fenster hereindringen zu lassen; er dichtete Minna von Barnhelm, Emilie Galotti, Nathan der Weise, aber nicht Marion de Lorme, Hernani etc. etc., er schuf keine Frage, poetisirte keine Dirnen, um eine angefaulte Welt anzuziehen und ihr zu schmeicheln, er ließ sich nicht herab, durch solche Theatercoups, durch frappante Unmöglichkeiten die Zuschauer zu verblüffen. Lessing stand über seiner Zeit, Hugo steht unter ihr, trotz seiner Kraft, sie zu beherrschen; er ließ seine Muse von der Verderbtheit der Sitten und des Geschmackes tyrannisiren, die unverzeihlichste Unterwerfung, zu der sich ein Künstler herbeilassen kann. Der Deutsche war ein großer Mensch, der Franzose ist ein – Franzose.

Als Hernani zum ersten Male im Theater Français gegeben wurde (1830), kam es im Publikum zwischen klassisch und romantisch Gesinnten (die Schule Hugo’s nannte sich romantisch) wirklich und wahrhaft zum Handgemenge, es setzte blutige Köpfe; das Schauspiel im Parterre zog an, und die vornehme Welt drängte sich in die Logen, um den Wettstreit der Klatschenden und Zischenden anzusehen. Nichts konnte in Paris dem Ruhme des Dichters mehr Glanz verleihen, als diese Scenen, die er außer der Bühne hervorgerufen. Er konnte durch die unerreichbarste Schönheit in seinen Dichtungen nicht so viel Aufsehen machen.

Sein Anhang wuchs von Tag zu Tag und drang siegreich nach Deutschland, wo man das Widerstrebendste, das seine Beglaubigung aus Paris mitbringt, bewundernd hinnimmt. Auf Hernani folgte „Marion Delorme“, auf Marion Delorme „der König vergnügt sich“ (Le roi s’amuse), darauf „Lucrezia Borgia“, „Maria Tudor“, „Angelo“, „Ruy-Blas.“ Der Dichter wurde immer athemversetzender und gefiel sich darin, aufgemuntert durch die Erfolge vom Scheußlichen zum Scheußlichern fortzuschreiten und seinem angebornen herrlichen Talente nur ab und zu einen beschränkten Spielraum zu lassen. Man kann das Schöne in seinen dramatischen Dichtungen unter dem Wust von Gewaltsamkeit kaum heraus finden. Bei der Ueberreizung, bei den haarsträubenden Wirkungen, welche sie hervorbringen, behält man kaum Sinn und Empfindung für die poetischen Laute, die hie und da aus tiefstem Herzen herausklingen.

Von Erfolgen gekrönt, von Glück getragen, hatte Hugo das Mädchen seiner Wahl heimgeführt und bald sich eine Häuslichkeit gebildet, die kaum etwas zu wünschen übrig ließ. Eine holde Frau und vier lachende Kindergesichter grüßten den Dichter, wenn er [23] ermüdet von Arbeit und Kampf, von Anstrengung des Geistes und Schöpfungsthätigkeit im Schooße der Familie Ruhe und Erholung suchte. Ein zahlreicher Freundeskreis umgab ihn, der ihn verehrte und ihm apostolisch folgte. Er hatte sich mit seinem Privatleben in das Hotel Ludwig’s XIII. zurückgezogen, wo er sich seine Wohnung, einem phantastischen Geschmacke folgend, mittelalterlich einrichtete.

Wie ihm seine Kinder eine Quelle der Lust, eine Quelle des Segens waren, so wurden sie ihm ohne ihr Verschulden Ursache tiefen bittern Leids. Das Erstgeborne, der Liebling der Mutter, starb in der ersten Blüthe der Jahre, von einer Krankheit hinweggerafft. Eine Tochter, neuvermählt, verunglückte bei einer Vergnügungswasserfahrt und war verloren. Was lockten diese Trauergeschichten für tiefe, wunderbare Töne aus der schmerzbewegten Brust des Poeten! Sollte ich überhaupt auf das Schöne und Schönste unter den lyrischen Gedichten von V. Hugo hinweisen, ich wüßte wahrhaftig nicht, wo anfangen und wo enden. Wer mag es entscheiden, ob seinen „Orientalen,“ ob seinen „Dämmerungen,“ seinen „innern Stimmen“ oder seinen „Herbstblättern“ ein Vorzug eingeräumt werden soll. Was weiß Hugo, wenn er seinem edeln Naturell folgt, Unglück und Armuth zu trösten, die Gesunkenen zu erheben, die Enterbten zu erfreuen, auf den Verstoßenen einen schönen, lachenden Himmel niederzuziehen. Was schwingt er Geißeln über Gemeinheit und Verrath? Was für Flüche weiß sein beredter Mund gegen Unrecht und Gewaltthat zu schleudern? Was hat er für die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle von den zartesten bis zu den gewaltigsten stets das rechte Wort, den rechten Ausdruck?

Ein Streben besonders geht mit ihm durch sein ganzes öffentliches Leben, und zwar ist es auf Abschaffung der Todesstrafe gerichtet. In Wort und Schrift, in Versen und Prosa, auf der Bühne, auf der Tribune im Gerichtssaal hat er nach dieser Richtung hin gewirkt, hat er an dieses Ziel hingearbeitet. Er war wirklich groß, als er seinen Sohn vertheidigte, der während der Präsidentschaft Louis Napoleon’s den Gedanken seines Vaters aufnehmend, die Gräuel bei Gelegenheit einer stattgefundenen Hinrichtung in dem „Evennement“ darstellte. „Die letzten Tage eines Verurtheilten,“ ein Meisterstück physiologischer Durchführung ist lediglich zu diesem Zweck verfaßt.

Als Barbès im Jahre 1839 von dem Gerichte Aufruhrs wegen zum Tode verurtheilt war, wandte sich die Schwester des bekannten Demokraten an unseren Dichter und bat ihn um sein Fürwort bei dem König Ludwig Philipp, der ihm sehr gewogen war. Die Bittende fand eine entgegenkommende Bereitwilligkeit. Der erste Versuch mißlang. Es war gerade um die Zeit als der Hof wegen der in blühender Jugend dahingeschiedenen Marie von Würtemberg in Trauer war, und zugleich der Graf von Paris, der Sohn der Herzogin von Orleans, das Licht der Welt erblickte. Hugo begab sich noch einmal, und zwar am 12. Juli um Mitternacht in die Tuillerien. Ihre Majestät war bereits zu Bette gegangen und für Niemanden mehr sichtbar. Der Dichter schrieb diese Strophe auf ein Blatt Papier, das er auf den Tisch im Vorzimmer des Königs legte:

Par votre ange envolée ainsi qu’une colombe!
Par ce royal enfant, doux et frèle roseau!
Grace encore une fois, grace au nom de la tombe,
Grace au nom du bérceau.


(Um des Engels willen, der wie eine Taube entflog,
Des königlichen Kindes willen, des zarten schwachen Sprossen.
Gnade, noch einmal Gnade im Namen des Grabes!
Gnade im Namen der Wiege.)

Der König las dieses als er erwachte und Barbès war gerettet.

Hugo ist mittlerer Größe und von einem stämmigen Körperbau, von stolzer, männlicher Haltung, sein Kopf ist schön und ausdrucksvoll. Dunkle Haare, die lang bis zum Nacken niederhängen, beschatten eine hohe mächtige Stirn, aber die Zeit und Arbeit haben beträchtliche Furchen gezogen. Das Auge liegt tief in den Höhlen und blickt klug und feurig hervor. In seinem ganzen Wesen giebt sich eine Art von schüchterner Zurückhaltung kund; aber in seinen Zügen drückt sich Kraft, Entschiedenheit und fester Wille aus. Die ganze Laufbahn des Dichters beweist, daß seine Züge wahrsprechen. Hinter den Coulissen des Theater Français erzählt man sich noch heute, mit welcher Würde und Unerschütterlichkeit der junge V. Hugo seiner Zeit der allgebietenden Mademoiselle Mars, der Königin der Bühne, dem Abgott des Publikums entgegengetreten, da sie dem Autor nach Art erster Heldinnen ihr Urtheil aufdringen wollte. Als bei den Proben von „Hernani“ die Stelle vorkam, welche Dona „Sol“ (Mars) zu sagen hat:

„Du bist mein stolzer, mein großmüthiger Löwe,“ meinte die berühmte Schauspielerin, daß „Löwe" auffallend klinge und daß es einfacher wäre, zu sagen:

„Du bist mein stolzer, mein großmüthiger Herr.“

„So habe ich es gedichtet und so wünsche ich, daß es gesprochen werde, Madame,“ versetzte Hugo kurz und bestimmt.

„Das Publikum wird bei diesem Ausdruck zischen,“ meinte die Schauspielerin.

„Das steht dem Publikum frei,“ versetzte der Dichter; „aber Sie wollte ich gebeten haben, daß Sie die Probe nicht weiter unterbrechen.“

Ein ander Mal als Angelo einstudirt wurde, gefiel es Fräulein Mars, einer Kameradin, mit der sie zu spielen hatte, die schönsten Effekte wegzuhaschen, indem sie ihr die Gegenrede schuldig blieb oder durch ihre Haltung störend einwirkte.

„Bitte, seien Sie doch freundlicher gegen Ihre Kunstgenossin,“ verwies sehr sanft der Verfasser.

„Es ist ja nicht meine Schuld, Monsieur,“ erwiederte Fräulein Mars, „wenn Madame die Sachen verkehrt spielt.“

„Sie verderben ihr absichtlich die Situation, in welcher sie glänzend hervortreten könnte.“

„Ich stelle dar, was ich sein soll.“

„Nun denn, wenn es nicht anders geht, Madame, wollen Sie mir gefälligst Ihre Rolle zurückstellen?“

Mademoiselle Mars gerieth außer sich. Und ringsum erstarrten Alle, die das Wort an die Königin der Bühne gerichtet vernahmen, erstaunt über das unerhörte Vermessen. Der Dichter beharrte bei seiner Forderung, und Fräulein Mars gab nach, indem sie fügsamer zu sein versprach.

Victor Hugo lebt nun auf der englischen Insel Jersey; aus dem Vaterlande gestoßen, ein Verbannter.

Aus dem begeisterten Legitimisten ist ein glühender Republikaner geworden; und die Regierung Louis Napoleon’s III. hat es für nützlich erachtet, sich des Poeten zu entledigen. Man hat vielfach die Verwandlung Hugo’s angefochten und sie als Abfall ausgelegt. Wir wollen bemerken, daß es für Ueberzeugungen keine Polizei giebt, der sie einen Reisepaß vorzeigen, auf dem amtlich angegeben ist, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ausgemacht ist es, daß sich bei Hugo die politische Umgestaltung schon während der Restauration, und noch hervortretender unter der Juliregierung kund gab. Ein Beweis unter vielen ist der, daß die Theatercensur Karl’s X. die Aufführung vor Marion Delorme verbot, und diese erst nach der dreißiger Revolution stattfinden konnte, weil Ludwig XIII. in dem Stücke nicht vortheilhaft genug gezeichnet ist. Und „Der König vergnügt sich“ wurde sogar unter Louis Philipp die Thüre zur Darstellung versperrt, weil in demselben die Majestät des Herrschers zu sehr preisgegeben ist. Zu einer eigentlichen Opposition, es wäre denn gegen die Todesstrafe, zum Bekenntniß einer festen abgeschlossenen Meinung, kam der Dichter erst als das Jahr 1848 aus dem Pair von Frankreich, zu dem ihn Louis Philipp erhoben, einen Volksvertreter gemacht. Im Anfang seiner parlamentarischen Laufbahn unsicher, unschlüssig hin- und hertappend, bei verschiedenen Parteien anklopfend, schloß er sich zuletzt der Linken an und vertrat ihre Prinzipien mit der ihm eigenen Kraft, mit der ganzen Fülle seines Talents. Man konnte ihn, um seine Beredtsamkeit zu bezeichnen, den „Sturm der Tribune“ nennen. Er begeistert, er erschüttert, er reißt hin; allein er beweist nicht; seine Reden sind weit mehr lyrisch als logisch, voll Humanität, aber ohne alle Staatswissenschaft. In den Decembertagen des Jahres 1851, wo der Staatsstreich die festgestellte Ordnung der Dinge umgeworfen, hat Hugo glänzende Beispiele von Entschlossenheit und persönlichem Muth gegeben. Er spielte auf den Boulevards du Temple kühn um sein Leben, indem er zum Widerstand gegen das Verfahren des Präsidenten der Republik laut aufforderte. Seinem tiefen, wie es scheint, unverlöschlichen Haß gegen Louis Napoleon hat er in der Verbannung durch zwei veröffentlichte Werke Luft gemacht. Das eine in Prosa ist: "Napoleon der Kleine,“ das andere in Versen: [24] „Geißelung“ betitelt. Wir urtheilen nicht über Recht oder Unrecht in diesem Streit; wir wollen dieses unseren Lesern je nach ihrer Anschauungsweise selbst überlassen und weisen lediglich auf die außerordentlichen poetischen Schönheiten, auf die Schilderungen und Beschreibungen in der versificirten Polemik hin.

Die neuern Schicksale Victor Hugo’s auf der Insel Jersey haben seinen Namen wieder in den Vordergrund gedrängt, doch ist er selbst weniger thätig aufgetreten. In den nächsten Tagen wird eine neue Sammlung unpolitischer Dichtungen von ihm erscheinen, von der man sich viel schönes verspricht.