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NACHTGLOCKE ZUM ARZT

Die sexuelle Erfüllung entbindet den Mann von seinem Geheimnis, das in Sexualität nicht besteht, in ihrer Erfüllung aber, und vielleicht in ihr allein, durchschnitten – nicht gelöst – wird. Es ist der Fessel zu vergleichen, die ihn an das Leben bindet. Die Frau durchschneidet sie, der Mann wird frei zum Tode, weil sein Leben das Geheimnis verloren hat. Damit gelangt er zur Neugeburt, und wie die Geliebte ihn vom Banne der Mutter befreit, so löst die Frau buchstäblicher von der Mutter Erde ihn, die Hebamme, welche jene Nabelschnur durchschneidet, die aus Naturgeheimnis geflochten ist.


MADAME ARIANE ZWEITER HOF LINKS

Wer weise Frauen nach der Zukunft fragt, gibt ohne es zu wissen, eine innere Kunde vom Kommenden preis, die tausendmal präziser ist als alles, was er dort zu hören bekommt. Ihn leitet mehr die Trägheit als die Neugier und nichts sieht weniger dem ergebenen Stumpfsinn ähnlich, mit dem er der Enthüllung seines Schicksals beiwohnt, als der gefährliche, hurtige Handgriff, mit dem der Mutige die Zukunft stellt. Denn Geistesgegenwart ist ihr Extrakt; genau zu merken, was in der Sekunde sich vollzieht, entscheidender als Fernstes vorherzuwissen. Vorzeichen, Ahnungen, Signale gehen ja Tag und Nacht durch unsern Organismus wie Wellenstöße. Sie deuten oder sie nutzen, das ist die Frage. Beides aber ist unvereinbar. Feigheit und Trägheit raten das eine, Nüchternheit und Freiheit das andere. Denn ehe solche Prophezeiung oder Warnung ein Mittelbares, Wort oder Bild, ward, ist ihre beste Kraft

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Walter Benjamin: Einbahnstrasse. Rowohlt, Berlin 1928, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Walter_Benjamin_Einbahnstrasse.pdf/72&oldid=- (Version vom 12.6.2018)