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Standesgemäß

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Textdaten
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Autor: Hermann Ferschke
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Titel: Standesgemäß
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 564–565
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Standesgemäß.

Von Hermann Ferschke.

Wie gern wollte ich die morgige Partie mitmachen, aber ich habe ja nichts zum Anziehen!“ Wie oft, verehrte Leserin, hast du solchen oder ähnlichen Seufzer schon ausgestoßen. Und dabei hängt der Kleiderschrank voll schöner, noch recht brauchbarer Kleider, und deine Hüte sind noch so gut wie neu – und doch hast du nichts zum Anziehen. Der schöne, theure, so geschmackvoll garnirte Strohhut, er ist im vorigen Sommer kaum ein dutzendmal getragen worden, wie hübsch hat er dir gestanden und wie lange könntest du ihn noch tragen! Aber er ist vom vorigen Jahre, die Mode hat sich geändert, der Thurm von Babel, der heute Mode ist und den du im vorigen Jahre verlacht hättest, macht deinen vorjährigen, hübschen, aber niedrigen Hut heute lächerlich. Der theure Umhang vom vorigen Jahre, an welchem – erinnere dich nur – ein recht herbe gewesener Seufzer deines lieben Mannes hängt, ist in diesem Jahre nicht mehr modern, die stille Hoffnung des armen Gatten, das theure, leichte und unnütze Ding werde nun hoffentlich mehrere Jahre vorhalten, erfüllt sich nicht – du „kannst nicht als Vogelscheuche einhergehen“, sondern hast die Verpflichtung, dich standesgemäß zu kleiden. Dieser Ansicht kann und darf sich der liebe Ehemann nicht verschließen, und mit Seufzen greift er in die Tasche und zahlt – um des lieben Friedens willen.

Standesgemäß! Du Götze unserer heutigen Zeit, wie oft wird dir Frieden, Glück und Wohlstand ganzer Familien geopfert!

Da habe ich einen guten Freund, einen braven, ehrenwerthen Mann, der an der bekannten scharfen Majorsecke umwarf und in seinen besten Jahren mit Pension zur Disposition gestellt wurde, der sitzt nun da mit einer, ich bedaure es sagen zu müssen, anspruchsvollen Frau und sechs schulpflichtigen Kindern. „Die Alle soll ich nun standesgemäß erhalten und erziehen,“ klagte er mir einst, „und da die Pension selbstverständlich nicht zulangt, so schreibe ich Tag und Nacht und zittere bei jeder fertigen Arbeit bei dem Gedanken, die Redaktion könnte sie zurückweisen. Es ist ein Hundeleben! Die beiden Jungens habe ich zwar glücklich im Kadettenkorps untergebracht, aber die vier Mädchen kosten ein Heidengeld.“

Seine Frau nannte er nicht; er wußte, das hatte er nicht nöthig, ich verstand ihn auch so.

Er mußte natürlich in der großen Stadt standesgemäß wohnen, und da seine Frau, welche nicht vergessen konnte, daß sie einst auf großem Fuß gelebt hatte, auch, um standesgemäß aufzutreten, nach wie vor ein größeres Dienstpersonal halten zu müssen glaubte, so ging die Hälfte der Pension allein für Miethe und Dienstbotenlöhne darauf. Daß sie mit ihrem standesgemäßen früheren noblen Leben ihr eingebrachtes Privatvermögen verpulvert hatte, vergaß die gute Frau.

Im Sommer trafen wir in einem kleinen Badeorte zusammen. Nun, warum denn nicht? Der abgearbeitete Mann und die von der Großstadt angekränkelten Kinder bedurften dringend der Erholung, und das kleine, meist von einfachen Leuten besuchte Bad machte in Beziehung auf Aufwand und Luxus keine Ansprüche an seine Besucher. Die gnädige Frau aber dachte darüber anders, und sie hatte bereits zu Hause dafür gesorgt, daß man standesgemäß auftreten konnte. Zum Transport der Koffer, Schachteln, Kisten und Reisekörbe mußte an der Eisenbahnstation, von welcher man nach dem Badeorte abbog, ein besonderer Gepäckwagen genommen werden. So hielten sie dann mit zwei Wagen ihren Einzug und konnten sicher sein, von vornherein sich standesgemäß eingeführt zu haben. Das Auftreten der Gnädigen mit ihren hübschen kleinen Mädchen ließ denn auch in der That nichts zu wünschen übrig – aber, merkwürdig! obwohl sie an Putz und Aufwand das Menschenmöglichste leistete, an der Magenfrage brach sich ihr Standesgefühl. Statt einen anständigen, standesgemäßen Mittagstisch zu führen, ließ sie für die sechs Personen ihrer Familie drei Portionen Essen aus einer Garküche holen und bemühte sich noch, davon etwas für das Abendbrot zu ersparen. Das war nun eben nicht standesgemäß – aber es sah es ja auch Niemand.

Mein lieber, braver Freund wird daran zu Grunde gehen, aber er mag sich beruhigen, seine treue Lebensgefährtin wird nicht ermangeln, ihn standesgemäß begraben zu lassen.

Standesgemäß! Es hängt ein Fluch an dem Begriff dieses Wortes! Wie oft kommt es vor, daß ein geachteter und tüchtiger Mann Schiffbruch leidet in seiner Stellung. Ein Officier wird pensionirt, er weiß nicht warum, ein Gutsbesitzer geht in Folge zu geringer Mittel und wiederholter schlechter Ernten zu Grunde, ein Beamter verliert, vielleicht eines zu freien Wortes wegen, seinen Dienst – sie Alle haben Weib und Kinder und möchten arbeiten und wirken, es findet sich auch da und dort die Gelegenheit dazu, aber sie dürfen nicht zugreifen, wollen sie nicht mit ihrer ganzen Vergangenheit und vor allen Dingen mit ihren ehemaligen Standesgenossen für immer brechen – es ist nicht standesgemäß!

Ganz dasselbe gilt vom weiblichen Geschlecht. Hast du wohl eine Ahnung, lieber Leser, welche bittere Armuth, welches Uebermaß von Entbehrungen, welche Noth und Sorge unter den Wittwen und Waisen ehemaliger Beamten herrscht, welche den Ihrigen nichts weiter hinterlassen haben, als eine kleine Wittwenpension, die kaum zulangt, die Wohnungsmiethe zu decken? Sie Alle sind, wollen sie nicht verhungern, auf ihrer Hände Arbeit angewieseen – und sie arbeiten auch, aber fragt mich nur nicht: wie? Heimlich, ganz heimlich, daß ja Niemand es merke, holen sie sich Handarbeit aus den Geschäften; heimlich, ganz heimlich tragen sie das Fertige wieder hin – Niemand soll und darf es wissen: „Registrators arbeiten für ein Geschäft,“ – denn das ist nicht standesgemäß! Lieber also hungert eine ganze Familie, als daß sie die Vorurtheile unserer tonangebenden Gesellschaft von sich wirft. Und nun gar dienen gehen! Das hieße sich ja geradezu wegwerfen. Und wie wird nun das heimlich und sauer verdiente Geld angewendet? Wird es zur Beschaffung kräftiger Nahrung verwendet? Gott bewahre! Man glaubt sich verpflichtet, standesgemäß, das heißt so modern wie möglich gekleidet zu gehen, und wirft Alles für schnöden Tand hin, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen – und das ist doch nichts weiter, als glänzendes Bettelelend bei hungerigem Magen; aber es wird ertragen in dem Bewußtsein, daß man verpflichtet ist, nach außen hin seinem Stande nichts zu vergeben.

Nun möge man mich nicht mißverstehen. Ich bin weit entfernt, das sogenannte Standesbewußtsein anfechten zu wollen. Möge Jedermann sich bestreben, das Beste zu leisten, so wird er der Ehre seines Standes genug gethan haben. Niemand aber soll sich einbilden, daß sein Stand [565] dadurch in den Augen der Welt gehoben werde, wenn er um deßwillen Schulden macht und seine Verhältnisse zerrüttet. Standesgemäß lebt nur der wirklich, welcher seine eigene Ehre und damit die seines Standes rein erhält; wer dagegen, um der glänzenden Außenseite willen, bei allen Kaufleuten und Handwerkern Schulden macht, der setzt sich und seinen Stand herab, und sein sogenanntes standesgemäßes Auftreten und Gebahren wird verlacht und verachtet.

An unseren socialen Verhältnissen wird jetzt sehr viel herumkurirt, und die Menschheit soll durchaus glücklich und zufrieden gemacht werden. Nun, wir wünschen von Herzen besten Erfolg. Vieles aber könnte auch dann schon besser werden, wenn der Mensch seine Standesvorurtheile über Bord werfen und jede ehrliche Arbeit achten lernte. Die ganze Lebensweisheit kann mit wenigen Worten ausgesprochen werden: Strebe nach dem Höchsten, sei zufrieden mit dem, was du erreichtest, und komme aus mit dem, was du hast! Darin liegt Alles. In dem Gegentheil davon liegt die hauptsächlichste Ursache unserer heutigen gesellschaftlichen Misère und der Urquell alles socialen Elends, wozu ich Familienzwist und zerrüttete Familienverhältnisse zu allererst rechne, denn die Familie ist das Fundament des modernen Staates.

Kannst du zu Hause nicht standesgemäß leben, so nutzt dir auch die Komödie außerhalb desselben nichts, so sehr du dich auch bemühst, deine Aermlichkeit durch sogenannte standesgemäße Auftakelung zu verdecken und zu vertuschen – es glaubt dir doch Niemand. Halte deine Ehre rein, dann lebst du standesgemäß!