Zum Inhalt springen

Vom kranken Mann und seinen lachenden Erben

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Braun-Wiesbaden
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Vom kranken Mann und seinen lachenden Erben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 662-663
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
unkorrigiert
Dieser Text wurde noch nicht Korrektur gelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du bei den Erklärungen über Bearbeitungsstände.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[662]

Vom kranken Mann und seinen lachenden Erben.

Reise-Erinnerungen eines alten Orient-Fahrers.
Von Karl Braun-Wiesbaden.

Wir, die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, haben Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie Staaten entstehen und wie Staaten vergehen; wie kleinere Staaten in einen größeren aufgehen, in Italien und Deutschland; und wie ein großer Staat im Begriff ist, sich in seine Bestandtheile aufzulösen, die sich ihrerseits wieder als neue Staaten konstituiren, in der Türkei.

Wie ein Staat entsteht, das haben wir z. B. in Texas gesehen; und die, welche nicht an Ort und Stelle waren, die können es nachlesen in den vortrefflichen Romanen von Charles Sealsfield, der mit seinem wirklichen Namen Karl Postl hieß und, nachdem er in Prag den Chorherrnrock ausgezogen, in Amerika Vieles erlebt, gut beobachtet und anschaulich geschildert hat. Siehe „Das Kajütenbuch oder nationale Charakteristiken“, „Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre“ etc.

Wir sehen bei Sealsfield, wie sich in Texas inmitten einer großartigen und mächtigen Urnatur ein Hinterwälderleben entwickelt, dessen einzelne Personen unter den engen Verhältnissen der alten Welt entgleist sind, oder keine Stelle mehr fanden an der großen Tafel europäischer Kultur, die Viele nährt, aber nicht Alle, und die sich genöthigt sieht, diejenigen auszustoßen, die sich den Gesetzen des Staates und der Gesellschaft nicht fügen und dadurch den Schutz und die Wohlthaten dieser Gesetze verwirken. Wir nennen das „den Auswurf der Gesellschaft“. Der Ausdruck mag richtig sein, wenn man die Sache nur von der einen Seite betrachtet.

Er erinnert mich an ein geflügeltes Wort des Lord Palmerston: „Schmutz ist ein nützlicher Gegenstand am unrichtigen Orte; man muß ihn nur an den richtigen Platz bringen – aus der Stadt auf die Felder.“

So ist es mit jenem „Auswurf der Gesellschaft“. Er hielt die alte Kultur für einen beengenden Käfig, gegen dessen Gitter er tobte und dem er endlich, mehr oder weniger freiwillig, entflohen. Nun schwirrt er umher in den ungemessenen Räumen der Wildniß. Anfangs beschleicht ihn ein Bangen; denn er ist allein auf sich selbst angewiesen, und die gänzlich veränderte Umgebung mit ihrer Schrankenlosigkeit und ihrer scheinbaren Regellosigkeit verwirrt ihn. Sie macht Ansprüche an seine Kräfte, welchen genügen zu können er anfangs verzweifelt. Aber im Kampf versucht er seine Kräfte; und jeder gelungene Versuch erhöht sein Vertrauen und verleiht seinem Geist und seinem Körper eine außergewöhnliche Schwungkraft. Er gewöhnt sich an Entbehrungen und Gefahren. Der Kampf mit einer wilden Natur, mit wilden Thieren, als da sind Cuguare und Bären, Alligatoren und dergl., und mit Wilden, die, obwohl Menschen, nicht viel besser sind, als jene Thiere, erweckt in ihm aufs Neue den früher erloschenen Kulturtrieb. Er thut sich mit seinen Schicksalsgefährten, den übrigen hinterwäldler Ansiedlern, den Squatters, zusammen. Sie erwählen sich ein Oberhaupt, den Squatter-Regulator, und bilden ein Gemeinwesen, um die Gefahren der Wildniß zu bekämpfen. Ein Jeder von ihnen führt den Pflug und zugleich auch die Waffen. Ein Jeder ist Kultivator, ein Jeder Soldat, und ein Jeder Polizeimann oder Policeman. Und so kommt Er, der der alten Kultur entronnen, schließlich dazu, eine neue Kultur zu begründen, die jedoch himmelweit verschieden ist von der alten; und aus dieser neuen Kultur erwächst ein neuer Verband, eine neue Gesellschaft und schließlich ein neuer Staat, der sich einem größern Staatsverband anschließt, um dessen Machtschutz zu genießen, aber sich dabei doch alle die Rechte und Freiheiten zu bewahren, die er nöthig hat für seine eigenthümliche politische Entwickelung.

So ist, ohne daß die Welt es für nöthig erachtet hätte, dies interessante Schauspiel mit besonderer Aufmerksamkeit zu verfolgen, unter unseren Augen auf der westlichen Hemisphäre ein neuer Staat entstanden. Gleichsam ohne menschliches Zuthun, ohne Beistand einer Regierung, ohne Eroberung oder Gründung, ohne Plan und ohne vorausbedachte Absicht. Denn Diejenigen, welche ihn aufrichteten, waren ja dem alten Staate aus dem Wege gegangen. Aber da, wie schon der große Philosoph Aristoteles sagte, der Mensch von Natur ein „politisches Geschöpf“ ist, so gründeten sie statt des alten Staates einen neuen, von wesentlich anderem Gepräge, wie solches eine alte Regierung niemals fertig gebracht hätte.

Während wir so im fernen Westen einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft entstehen sahen, erblicken wir in unserer unmittelbaren Nähe, im Südosten Europas, einen Staat, der mit raschen Schritten seinem Zerfalle entgegengeht, weil er die ihm gestellten Aufgaben nicht zu erfüllen vermochte. Ich meine die Türkei. Die türkische Rasse hat vortreffliche Eigenschaften. Der gemeine Türke ist genügsam und ehrlich. Als Soldat ist er zuverlässig und tapfer. Er versteht nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu hungern. Er bedarf keiner Spirituosen, um sich Muth zu trinken. Sein Glaube verbietet ihm solches. Aber derselbe Glaube ist es auch, der ihm ein solches Gottvertrauen verleiht, daß er vor keinen Gefahren zurückbebt. Trotz dieser vortrefflichen Eigenschaften der mittleren und unteren Volksschichten ist aber der türkische Staat, soweit er auf europäischem Boden etablirt ist, krank, sehr krank, und selbst die guten Freunde, welche er immer noch findet, werden eine schwere Aufgabe haben, wenn sie das immer näher rückende Verhängniß aufhalten wollen.

Vor dreißig Jahren noch war die „orientalische Frage“ das große Räthsel Europas. Man schreckte vor ihr zurück wie vor dem Haupt der Medusa. Man glaubte, irgend ein einzelner Staat, sei es Rußland, sei es Frankreich, oder Beide zusammen, werde sich der Türkei bemächtigen, und da dies die übrigen Mächte nicht zugeben wollten, könnten und dürften, müsse aus diesem Zerwürfniß ein Weltbrand erwachsen, der Europa aus dem Gleichgewicht bringen und allerwenigstens dem vielgerühmten „europäischen Koncert“ ein Ende mit Schrecken bereiten werde. Man schätzte jedes Jahr Aufschub für einen Gewinn und gewöhnte sich daran, aus der Hand in den Mund zu leben. Seitdem haben uns die Ereignisse immer näher herangebracht zu der befürchteten Katastrophe, und je näher dieselbe gerückt ist, desto mehr hat sie ihren schreckhaften Charakter verloren.

Fast möchte ich sagen: Der Mensch ist gleich einem Reitpferd. Das Thier scheut vor dem Unbekannten. Je ruhiger man es aber an den Gegenstand seiner Furcht und Scheu heranbringt, je mehr man ihm Gelegenheit giebt, denselben, ich möchte fast sagen zu „studiren“, desto mehr schwindet sein Schrecken.

So ist es uns mit der orientalischen Krisis gegangen. Unsere Angst vor derselben ist zum größeren Theile unserer Unkenntniß entsprungen.

Wir glaubten bisher in Europa, der Sultan sei Herr über sein Land, etwa wie der König von Frankreich; oder seine Unterthanen seien gleich ihm selber alle „Türken“, das ist Muhamedaner von Religion, Osmanen von Rasse.

Das Gegentheil ist die Wahrheit. Die Mehrzahl der Einwohner sind keine Türken, sondern stets Rumänen, Slawen und Griechen gewesen. Der Türke hat das Land erobert und ist bis heute ein Fremdling in demselben geblieben. Er ist der „Herr“ und die Andern sind die „Raja“, das heißt: das Gesindel. Er schließt diese Raja, das heißt: die eigentlichen Eingeborenen ohne Unterschied der Religion und der Rasse – einerlei ob sie Rumänen, oder Hellenen, Albanesen oder Montenegriner, Serben oder Walachen, Bulgaren oder Bosniaken – einerlei, ob sie römisch- oder griechisch-katholisch, abendländischen oder morgenländischen Glaubens sind – von der Regierung und von dem Kriegsdienste aus. Anstatt Kriegsdienste zu leisten, zahlen sie ein Kopfgeld. Daneben sind sie schwer mit Zehnten und sonstigen Abgaben belastet, und der Druck dieser Lasten wird gesteigert durch das Ungeschick der finanziellen Verwaltung, bei welcher die Steuerpflichtigen das Zehnfache geben von Dem, was die Centralstellen empfangen; die übrigen neun Zehntel bleiben unterwegs hängen, und wenn man dem Vollblut-Türken von der Gleichberechtigung aller Staatsbürger spricht, antwortet er mit einem geflügelten Worte: „Ich bin der Herr – Du bist der Herr – wer soll das Pferd putzen und striegeln?“

[663] Auch in anderen Ländern giebt es Eroberer und Eroberte. In Frankreich haben die Franken die Kelto-Romanen, in Preußen die Deutschen die Sorben und Wenden, in England die Normannen die Angelsachsen unterworfen. Aber in diesen Ländern sind die erobernde und die eroberte Bevölkerung unter dem Scepter der gemeinsamen Dynastie und dem Druck des einheitlichen Staates zu einer gleichen Masse zusammengewachsen.

In der europäischen Türkei ist das Gegentheil eingetreten. Seit Sultan Amurad 1361 Adrianopel, und Muhamed 1453 Konstantinopel eingenommen, hat sich im Verhältniß der herrschenden Rasse zu den beherrschten nichts Wesentliches geändert. Beide vermischen sich so wenig wie das Oel mit dem Wasser. Sie haben wenig oder gar nichts Gemeinsames mit einander. Der Türke handelt nach dem Grundsatz: „Zahlt was Ihr sollt; thut was Ihr wollt!“ Sein Herrscherbewußtsein ließ ihn jeden Gedanken der Annäherung und Assimilirung zurückweisen. Dazu kam sein Glaube, der den Koran auch für politische, wirthschaftliche, bürgerliche und sociale Dinge als das allein-gültige Gesetzbuch betrachtet, so daß er vor dem Gedanken zurückschreckt, gleiches Recht für Alle einzuführen und den „Staat des Kalifen“ gleichsam zu verweltlichen oder zu säkularisiren.

So haben sich die alten Gegensätze erhalten, befestigt und immer tiefer gefressen. Zwischen dem Türken und der Raja ist die Kluft immer unüberbrückbarer geworden; und die verschiedenen einzelnen Völker der „Raja“ haben sich mittels der Autonomie, welche ihnen der Türke aus Trägheit gelassen, immer mehr differencirt und ein Jedes für sich selbständig entwickelt.

Das Alles trat nicht so zu Tage, so lange die Nation der Osmanli ihre gleichsam jugendliche Ausdehnungs- und Spannkraft bewahrte, als Eroberer auftrat und dem christlichen Europa gegenüber sich als eine fremde, feindselige und allezeit angriffslustige Macht hinzustellen wußte.

Allein als die Spannkraft aufhörte, begann der Verfall und alle in Obigem angedeuteten Schwächen und Mängel des türkischen Staats- und Gesellschaftswesens traten mit jeder Annäherung an das christliche Europa greller zu Tage. Die Reformen, welche unter europäischem Einfluß proklamirt wurden, sind entweder ein todter Buchstabe geblieben, oder sie haben sich in ihr Gegentheil verwandelt. Die mit den europäischen Staaten abgeschlossenen Verträge binden den Türken Hände und Füße und machen jede Steuer- und Justizreform unmöglich. Am 18. Februar 1856 erließ der Sultan seinen von Reformen überfließenden Hatti-Humajum. Zur Belohnung dafür erklärten die Mächte auf dem Pariser Kongresse, 30. März 1856, „die hohe Pforte der Vortheile des öffentlichen europäischen Rechts und des europäischen Koncertes theilhaftig“. Dies war ein Danaer-Geschenk. Im Jahre 1854 hatte die Pforte unter Gönnerschaft der Westmächte eine Anleihe von drei Millionen Pfund Sterling gemacht. Dies war der Anfang ihrer Schulden. Jetzt hat sie über 250 Millionen Pfund Schulden; und je mehr sie pumpt, desto weniger hat sie. Es fehlt sogar zuweilen an Geld für Munition und Soldaten. Die vornehme Welt in der Türkei hat sich europäische Laster angeeignet, ohne europäische Vorzüge, und die guten Eigenschaften des wahren Türken hat sie verloren, namentlich auch den kriegerischen Geist der alten Osmanli.

Die Türkei, die es versäumt hat, sich bei Zeiten einheitlich zu organisiren, droht zu verfallen. Ihr europäisches Gebiet beginnt zu zerbröckeln. Sie hat Rumänien und Serbien, Bosnien und die Herzegowina, Bulgarien, Griechenland und Cypern, Montenegro und einen Theil von Albanien schon so ziemlich verloren. Auch das Uebrige ist schon halbwegs vergeben. Streit herrscht eigentlich nur darüber, wer Konstantinopel haben soll, und wer diejenigen Gebiete, worin die Völker so im Gemenge liegen, daß für das nämliche Territorium zwei oder drei Bewerber vorhanden sind, wie Macedonien und Epirus.

In Westeuropa fürchtet man noch vielfach, Alles werde schließlich den Russen zufallen. Namentlich aber in Deutschland herrscht noch in gewissen Kreisen die Meinung, die slawische Bevölkerung der Balkan-Halbinsel, der Donauländer und des südlichen Abhanges der österreichischen Ostalpen wünsche nichts sehnlicher als unter russischer Oberherrschaft in dem alleinseligmachenden Schoße des Panslawismus auf- oder unterzugehen. Nichts kann irrthümlicher sein als eine solche Meinung. Ob früher eine solche Schwärmerei für Rußland geherrscht hat, weiß ich nicht. Ich bereise diese theils österreichisch-ungarischen, theils vormals türkischen, theils noch türkischen Länder seit dem Jahre 1871 in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen, und habe nirgends eine solche Weltanschauung gefunden. Schon 1875 nicht, und noch weniger 1885. Im Jahre 1875, als die christlich-slawische Bevölkerung das türkische Joch abzuschütteln gedachte, hatte sie vielfach die Ansicht, dies sei nicht möglich ohne russisches Geld und russische Waffen. In Montenegro nahm man den russischen Rubel sehr gerne; in Serbien waren die russischen Officiere und Freiwilligen äußerst willkommen. In Bulgarien erschienen die Russen als Befreier. Auch in Kroatien und Slawonien jubelte man über ihre Siege, weil man auf der Schlußkoulisse das dreieinige Königreich Jllyrien, bestehend aus Kroatien, Slawonien und Dalmatien, zu erblicken glaubte; und in Laibach erweiterte man dieses großillyrische Reich zu einem noch größeren Groß-Slawonien, das sich von den Alpenabhängen von Kärnten und Südsteiermark bis Konstantinopel und Saloniki, von der Drawa und der Sawa bis zum Hellespont und dem ägeischen Meer erstrecken sollte. Aber Keiner von Allen wollte „russisch werden“. Auch war der Sinn der Leute durchaus nicht auf „Panslawismus“ gerichtet, sondern Jeder wollte ein ausschließlich südslawisches Gemeinwesen, dessen Mittelpunkt wo möglich er selbst sei. Der Eine dachte an eine Monarchie, der Andere an eine Republik, der Dritte an eine Föderativ-Republik. An eine russische Herrschaft dachte eigentlich Niemand. Ja, noch nicht einmal an ein bleibendes russisches Protektorat. Höchstens mit Ausnahme einiger Popen, welche ihre geistliche Ausbildung in Rußland erhalten hatten, und auch zur Zeit noch allerlei Vortheile von dorther bezogen. Aber der Einfluß der Popen ist so groß nicht, wie man in Deutschland zu glauben geneigt ist. Man glaubt an ihren Segen und an ihre Beschwörung, aber man schenkt dem Mann selbst als solchem wenig persönliches Vertrauen und gestattet ihm wenig Einfluß auf weltliche Dinge.

Im Jahre 1885 bemerkte man sogar eine entschieden anti-russische Strömung. In Athen sagte man: „Was wollen hier denn die Russen? Konstantinopel war griechisch, bevor es der türkischen Eroberung und Fremdherrschaft anheimfiel, und wenn man nun die Türken aus Europa vertreiben und den früheren Zustand wieder herstellen will, dann muß Byzanz den Hellenen wiedergegeben werden.“ In Athen herrscht sogar eine gewisse Antipathie wider die Königin, obgleich sie eine vortreffliche Frau ist. Man sagt: „Sie ist Russin, und deßhalb paßt sie nicht für die Griechen.“ Es ist die Abneigung der Griechen gegen die mit ihnen konkurrirenden Staaten, trotz kirchlicher Verwandtschaft.

In Rumänien hat man nicht vergessen, welche große Dienste die rumänische Armee den Russen 1877 geleistet, und wie wenig sich Rußland dem Herrscher und dem Volk von Rumänien dankbar erwiesen.

In Bulgarien will die Mehrheit Unabhängigkeit des Landes und schwärmt für den tapferen „Battenberger“, der ihnen dieselbe erobert. Der Handstreich vom 21. August ist mißrathen.

Ein junger slowenischer Gelehrter aus der Krain sagte mir 1885, die Slowenen seien der Kernpunkt der südslawischen Bevölkerung, auch sei ihre Sprache und Litteratur am meisten entwickelt; und da die Sprache der Kroaten, der Serben und der Bulgaren zwar etwas anders sei, der Unterschied aber nur in den aus fremder, nichtslawischer Sprache entlehnten Worten und in bloß dialektischen Abweichungen bestehe, so müsse es doch schließlich so weit kommen, daß alle diese „Brüder“ die slowenische Sprach- und Schreibweise adoptirten und sich zu einem großen Südslawischen Reiche vereinigten, das von den Alpen und der Adria und dem ionischen Meere bis zum Pontus Euxinus und zum ägeischen Meer reiche, einig im Innern und unabhängig nach außen.

Ich fragte ihn: „Und der Panslawismus? Und das heilige Rußland? Sprach man damals nicht ganz anders, als man 1868 nach Moskau wallfahrtete und die Herrschaft des Panslawismus unter russischem Scepter proklamirte? Proklamirte für alle slawischen Völker, – für die im Norden, wie für die im Süden?“

„Ja,“ antwortete er, „damals sprach man allerdings so; aber das ist heute ein überwundener Standpunkt. Das war Alles eitel Phantasterei und leerer Wortschwall. Heutzutage denken wir anders. Wir Südslawen können mit den Russen, den Polen und den Tschechen nichts machen. Wir müssen vor Allem unsere eigene südslawische oder jungslawische Nationalität kultiviren, unsere Sprache pflegen, unsere Kultur fortentwickeln. Dank den Bemühungen unserer Gelehrten, unserer Historiker, Sprachforscher und Dichter, hat unsere nationale Kultur schon recht schöne Fortschritte gemacht. Aber sie ist noch nicht so stark, einen Salto mortale in das uferlose Meer des Panslawismus riskiren zu können. Sie würde in demselben ertrinken, und wir würden dabei alle Früchte unserer bisherigen Anstrengungen wieder verlieren. Wir müssen uns näher liegende praktische Ziele setzen. Wir haben auch gar keine Ursache, uns von der österreichisch-ungarischen Monarchie loszureißen. Könnten wir Krainer, Kärntner und südsteirischen Slowenen uns zunächst mit dem Königreich Kroatien-Slawonien vereinigen, so wäre damit der erste Schritt schon geschehen. Der zweite wäre der Beitritt von Dalmatien, Bosnien und der Herzegowina. Das große südslawische Reich wird dereinst kommen, ohne Zweifel. Aber es wäre nicht gut, jetzt schon zu viel davon zu reden. Unsere Einheitssonne wird plötzlich aufgehen, wie sie auch über Italien und Deutschland aufgegangen ist, die noch viel zerrissener waren, als wir es sind.“

Ich gebe diese Aeußerungen so wieder, wie ich sie erst kürzlich an Ort und Stelle hörte, ohne Zustimmung, ohne kritische Noten und ohne Vorbehalte. Denn es kommt mir durchaus nicht darauf an, Politik zu treiben oder Propaganda zu machen für diese oder jene der verschiedenen im Südosten von Europa konkurrirenden und ringenden Nationalitäten. Vielmehr will ich nur aus den Beobachtungen, die ich an Ort und Stelle mit dem unbefangenen Herzen eines aufrichtigen Menschenfreundes gemacht habe, Einiges zusammenstellen, das geeignet ist, Licht über die Lage der Dinge im Süd-Osten zu verbreiten.