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Vor dem Fort Nogent bei Paris

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Textdaten
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Autor: Friedrich Wilhelm Heine
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Titel: Vor dem Fort Nogent bei Paris
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 816–819
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[816]

Vor dem Fort Nogent bei Paris.
Briefliche Mittheilungen und Illustration von unserm Feldmaler F. W. Heine.


Montfermeil, Ende November 1870.     

Heute muß ich Ihnen, verehrter Herr Keil, über meinen Ausflug nach dem Flecken Chelles berichten, der etwa drei Viertelstunden von hier liegt und wo unser 107. Regiment mit seinen vielen Leipzigern Stellung hat.

Wenn man zum Dorfe Montfermeil auf der Straße nach Chelles herauskommt, sieht man zur Linken eine Hügelkette sich zwischen beiden Orten ausdehnen. Gleich vor Montfermeil stehen auf der Höhe zwei Windmühlen und zwischen beiden ist der Standort von zwei Verschanzungen der Batterie Carola. Hier

[817]

Zerstörte Eisenbahnbrücke       Dorf Nogent.       Fort Nogent vor Paris.       Feldschanze Fontenay.       Fort de Rosny. Avron (Berg).
über die Marne.       Dorf Neuilly.  Dorf Rosny.       Gottesacker von Neuilly.

Deutsche Feldwache nächst dem Fort Nogent. Von F. W. Heine.

[818] hinaus zogen bisher täglich Abtheilungen unserer Soldaten auf die Kartoffelernte, mit welcher sie die angenehmste Traubencur in den nahen Weinbergen zu verbinden pflegten.

Ausgezeichnet ist die Einrichtung, welche dafür sorgt, daß ein Verirren von Truppentheilen vom bestimmten Ziele unmöglich werde, und die natürlich auch mir zu Gute kommt. An allen Kreuzwegen sind nämlich von der Militärbehörde rein militärische Wegweiser angebracht. Da steht zum Beispiel an einem solchen: „Colonnenweg nach etc.,“ „Weg für die leichte Batterie X,“ „Nach dem Beobachtungsposten NN.“ etc. Außerdem bezeichnen hohe Stangen mit Strohwischen die Richtung dieser Wege für die Nacht. – Auch kurz vor Chelles sah ich zur Linken oben Kanonenrohre herablugen, und wie viele werde ich nicht gesehen haben! Weiterhin haben auf den Höhen bei Noisy hinter Brie die Württemberger ebenso wacker gesorgt.

Die Kalköfen spielen eine seltsame Rolle in diesem Kriege vor Paris; ich habe sie schon mehrfach zu erwähnen gehabt. Als großer Wohlthäter erwies sich der vor Chelles, an dem ich vorüberkam; bei ihm hat man einen alten Schacht entdeckt, aus welchem große Massen von Lebensmitteln zu Tage gefördert wurden. Links von Chelles, am Ufer der Marne, sah ich einen hohen Fabrikschlot dampfen wie im schönsten Frieden. Und was ist’s? Eine Nudelfabrik! Die Sachsen und Württemberger, auf deren militärischer Grenzmark sie steht, hatten, als sie des Schatzes inne wurden, nichts Eiligeres zu thun, als von ihren Leuten die nöthige Anzahl von Müllern, Bäckern und dergleichen abzucommandiren, und diese setzten mit Hülfe der requirirten Mehlvorräthe die Fabrik wieder in den schwunghaftesten Betrieb.

Herr Major Schlick, der Commandeur des zweiten Bataillons, welcher mich zu diesem Ausflug veranlaßt hatte, empfing mich mit landsmannschaftlicher Herzlichkeit, machte mich auf einige besuchenswerthe Punkte der Umgegend aufmerksam und gab mir eine Empfehlung an den Commandeur des ersten Bataillons, Herrn Hauptmann Kistner mit, die ich am folgenden Tag nach Kräften ausbeutete. Der Abend war da, ich mußte auf ein Nachtquartier denken. Bei den vielen Bekannten des Regiments aus Leipzig war dies bald gefunden, und bald saß ich, hauptsächlich von Einjährig-Freiwilligen umringt, beim Marketender. Unser frugaler Abendtisch bestand aus Butterbrod und Käse, und unsere Sehnsucht nach einem Glase Bier fanden wir mit einem Schnäpschen ab. Bei unseren vielen heimathlichen Anknüpfungspunkten fehlte es nicht an Unterhaltungsstoff, aber zur Heiterkeit brachte es selbst die Jugendlichkeit der Gesellschaft nicht, alle, namentlich die akademischen Genossen, waren noch tief ergriffen vom plötzlichen und erschütternden Tode eines der Ihren, des Leipziger Studenten Paul Segnitz. Vor wenigen Wochen als Einjährig-Freiwilliger mit der Ersatzmannschaft des Regiments hier im Lager angekommen, nahm er freiwillig an einer Schleichpatrouille Theil, welche im Dorfe Villemomble in Kampf mit einer ihr vierfach überlegenen Abtheilung Franzosen gerieth, und wurde dabei höchst unglücklich verwundet; die Kugel eines Miniégewehrs, jenes mörderischen Geschosses, mit welchem England unsere Feinde gegen uns bewaffnet, zerschmetterte ihm die beiden Knochen des Unterschenkels. An der Wand eines Hauses niedergesunken, wurde er, da die Unsern sich eiligst zurückziehen mußten, vor französischer Gefangenschaft nur durch zwei Gefreite, Trautner und Langer, mit eigener höchster Gefahr gerettet. Aerztliche Hülfe war sofort zur Hand; dennoch nahm die Verletzung einen so schlechten Verlauf, daß dem jungen Mann das ganze Bein amputirt werden mußte. Standhaft ertrug er die Operation, aber wenige Stunden darnach war er todt. Sein Begräbniß bleibt Allen unvergeßlich. Sechs Cameraden trugen den Sarg aus der Kirche hinaus zum hochgelegenen Friedhof von Chelles; der Oberst, der Major, die meisten Officiere und die ganze Compagnie folgten ihm, und nachdem Major von Boße eine kurze kräftige Anrede gehalten, rollte der Sarg, von einem milden Regen befeuchtet, unter gedämpftem Trommelwirbel in die Tiefe. Anstatt der Ehrensalve, die der Nähe des Feindes wegen unterlassen werden mußte, donnerten im selben Augenblick die Kanonen vom Fort Nogent herab, und ein schöner Regenbogen schmückte den Himmel.

So erzählten die Cameraden, und ernster als je in diesem ganzen Feldzug suchten wir Alle das Nachtlager.

Am andern Morgen stellte ich mich dem Herrn Hauptmann Kistner vor und durfte seinem Bataillon auf die Vorposten folgen, nach denen es eben abzog. Auf der großen, breiten sogenannten Kaiserstraße, die sich dadurch besonders auszeichnet, daß der Fahrweg mit großen Quadern gepflastert ist und zu beiden Seiten sich wohlgepflegte Rasenwege hinziehen, kamen wir über Chenay nach dem schon genannten Ville-Evrart, einer großartig angelegten und ausgeführten Irrenanstalt. In dem Verwaltungsgebäude derselben befand sich, hart unterm Dach, ein Beobachtungsposten, von dessen Standpunkt man eine Aussicht genoß, so prachtvoll, daß sie mein heutiges Bildchen in’s Leben rief.

Vor uns lag, das reizende Thal von Neuilly überragend, auf seinem breiten Hügel das Fort Nogent und kehrte uns den stärksten Theil seiner Befestigung zu; wir sind ihm so nahe, daß wir durch unsere Gläser die Wachen auf ihren Posten unterscheiden und die Handhabung der Alarmstange des Forts beobachten können. Rechts davon die Feldschanze Fontenay und noch weiter, vom Hügel Avron halb verdeckt, das Fort und tiefer das Dorf Rosny. Dorthin, namentlich zu den Weinbergen des Avron, geht eine Lieblingsrichtung der Schleichpatrouillen, die sich sogar schon bis in die ersten Häuser von Rosny vorgewagt haben. Links vom Fort Nogent zeigen sich auf der Höhe Thurm und Dächer vom Dorf Nogent und noch weiter links erkennen wir eine zerstörte Eisenbahnbrücke über die Marne und dahinter in der Ferne die Höhen, welche das Becken von Paris im Südwesten begrenzen. Der Luftballon schwebt über der großen belagerten Stadt.

Ich hatte eben meine Verwunderung darüber ausgesprochen, daß man unsern Beobachtungspunkt auf dem Dache nicht vom Fort Nogent aus mit einigen Schüssen bedenke, als ich durch den Augenschein überzeugt wurde, daß die Munition auch dort nicht geschont wird. Eine Reiterpatrouille wurde im Thale zwischen der letzten Gartenmauer und dem Gottesacker von Neuilly sichtbar, und sofort brummte es aus dem Fort und eine Bombe schlug keine hundert Schritte von den Reitern in den Boden.

Zur Sicherstellung der Unseren gegen Ausfälle aus Fort Nogent gehört auch die Barrikade, welche den Vordergrund meiner Illustration bildet. Wenn wir die Kaiserstraße, auf welcher wir nach Ville-Evrart gelangt sind, nach Neuilly hin weiter verfolgen, so stoßen wir auf diese modernste aller Verschanzungen. Ein kleiner Bach kreuzt dort die Landstraße und ihn benutzte man gleichsam als Wallgraben dieser kostspieligen Feldbefestigung. Denn verschiedenartigeres und werthvolleres Baumaterial kann selbst Rochefort zu seinen Pariser Barrikaden nicht zu verwenden gehabt haben. Da sind kunstreich in einander gefügt Karren und Tische, Fässer und Stühle, Fensterläden und Gartenplanken, Hundehütten und Kanapees, Thüren und Matratzen – und dies Alles, um gelegentlich in Stücke geschossen zu werden. Für den Einlaßposten war rechts, auf der Illustration nicht sichtbar, ein Häuschen hergestellt; die Feldwache und Reserve liegen ebenfalls mehr rück- und seitwärts. Vor uns sehen wir zu beiden Seiten der Kaiserstraße, kurz vor Neuilly, Doppelposten und etwa hundert Schritte weiter, unmittelbar vor dem Ort, sind am Stamm einer Pappel zwei Latten horizontal angebracht, welche die Höhe eines Mannes in dieser Entfernung angeben.

In der Barrikade ging es während meiner kurzen Anwesenheit[1] recht lebhaft zu. Eine Patrouille hatte ein Prachtexemplar von einem Franctireur aufgegabelt und überlieferte ihn und seine Waffen dem dienstthuenden Officier. Letztere interessirten uns ganz besonders als neutrale Liebesgaben der Herren Engländer für unsere Feinde: sie bestanden aus einem vortrefflichen Snidergewehr von allerdings sehr starkem Kaliber, und aus einem Seitengewehr, das sich von dem unserer Infanterie nur dadurch unterscheidet, daß, während bei dem deutschen an der Parirstange der vordere Haken aufwärts, der hintere abwärts geht (s. Fig. 1), bei diesem englischen (s. Fig. 2), beide Haken nach unten gebogen sind. Daran ist also zu erkennen, wie viel englische Arbeit künftig unter unserer Armaturbeute zu finden sein wird.

Fig. 1.   Fig. 2.

Links im Winkel sind zwei Soldaten bemüht, einen Schatz [819] zu heben: sie fördern einen Korb Wein zu Tage, dessen Heimath das vor uns liegende Neuilly ist; dort haben nämlich die deutschen und französischen Patrouillen ihren häufigsten Tummelplatz, sie machen sich wie Weinreisende unverschämte Concurrenz, denn Keiner gönnt dem Andern die guten Tröpfchen, welche dort noch immer zu finden sind. Von letzterer Wahrheit bin ich damals selbst auf das Freundlichste überzeugt worden. Eben hatte gerade im letzten Hause von Neuilly eine Patrouille ein neues Weinlager entdeckt und einen großen Vorrath zur Stärkung der Feldwache mitgebracht. Einige dieser Rothhälse wurden mir auf meinen Nachhauseweg mitgegeben, und es freut mich, für diese stille Wohlthat hier öffentlich meinen Dank aussprechen zu können.

Auf einer schönen Pappelallee schwenkte ich nun von der Barrikade rechts ab nach Maison-blanche, und dort mußte ich gerade dazu kommen, als man einen Transport von drei gefangenen französischen Civilärzten mit vollständig ausgerüstetem Medicinwagen herbeiführte. Nach ihrer Aussage hatten sie einige verwundete Franzosen abholen wollen, waren dabei auf eine Abtheilung unserer Feldwache gestoßen; nach kurzem Gefecht mit ihrer Bedeckung gefangen genommen und wurden nun zu weiterer Verfügung über sie nach Chelles gebracht. – Ihr eleganter vierräderiger Wagen trug die Aufschrift: „18ème Arrondissement. Ambulance de la rue Doudeauville 115.“ – Während dieses Vorgangs war der Kanonendonner von den Forts wieder sehr heftig, für uns aber ohne Wirkung.

Der Abend brach herein, als ich bei Pressoir am Beobachtungsposten vorüberkam. Selten habe ich bezauberndere Farbenpracht gesehen, als wie sie hier die untergehende Sonne auf die Fluren Weinberge und Laubwälber legte. Dazu die tiefe Einsamkeit, nur Kaninchen und Eulen machten sich, als endlich die Finsterniß völlig herabgesunken war, hier und da bemerklich, von einer Menschenseele keine Spur, bis am Schloß von Montfermeil der Posten mich anrief. Ich streckte mich auf mein Lager mit dem Bewußtsein eines gut vollbrachten Tags. Um aber keinerlei Friedensträume aufkommen zu lassen, übte schon um halb Zwei der Krieg wieder sein Recht aus: die Compagnie mußte sofort sich zum Ausrücken bereit halten. Da heißt es: rasch sein. Als richtiger Soldat erst Feuer anmachen, dann Wasser zusetzen – und Punkt zwei Uhr tranken wir beim Talglicht unsern Kaffee. Alles gepackt und marschfertig standen wir da – aber der weitere Befehl blieb aus, und ebenso fertig im Niederlegen wie im Aufstehen erfreute sich schon um drei Uhr die ganze Compagnie wieder des schönsten Schlafs. Leben Sie wohl!



  1. Unser Feldmaler hat sich selbst als Schlachtenbummler mit in die Scene gesetzt, aber, äußerst bescheiden, nur von hinten sichtbar.   D. R.