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Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten (1)

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Textdaten
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Autor: Udo Brachvogel
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Titel: Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 262–266
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Erschließung der nordwestlichen USA durch Siedler
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[262]

Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[1]

Von Udo Brachvogel. Mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
I.
Vor dreißig Jahren. – Zwischen Mississippi und Pacific. – Dampf-Civilisation. – Der „Neue Nordwesten“ und sein Verkehrs-Heerweg. – Die Weizenländer des Redriver. – Ueber den Missouri. – Die „Bad lands“ des Little Missouri.

„There is the East – there is India!“[2]

Mit diesen vor dreißig Jahren unter der Kuppel des Saint Louiser Stadthauses gesprochenen Worten eröffnete der große Missourier Thomas Benton jene historisch gewordene Rede, in welcher er als Erster den Muth und die staatsmännische Voraussicht hatte, den Bau einer vom Mississippi nach dem Stillen Ocean führenden Ueberlandbahn zu fordern und vorherzusagen. Vor dreißig Jahren! Wer wollte heute noch sagen, wie Vielen von ihren damaligen Hörern diese Worte nicht widerspruchsvoll erschienen? Widerspruchsvoll bis zur Verwegenheit – denn nicht genug, daß dieses: „Dort ist der Osten!“ mit westwärts gewendetem Antlitz gesprochen ward, es wurde auch von einer so energischen Handbewegung nach demselben Westen, nach dem eben aus einer weltverschollenen Thule zu einem weltgestürmten Dorado gewordenen Californien, begleitet, als wollte mit ihr ein jüngerer Columbus der Welt noch einmal jene gerade Meerstraße nach Ostindien weisen, in deren Mitte sich ihrem ersten Befahrer einst der große Westcontinent des Erdballs in den Weg geworfen hatte.

Und warum nicht ein jüngerer Columbus? Zieht man in Betracht, was der westlich vom Mississippi sich hindehnende, mehr als zwei Drittel des gesammten Unionsgebiets umfassende „Große Westen“ vor dreißig Jahren war, und was er heute ist, so wird man immerhin etwas Welterschließendes in dieser ersten Benton’schen Formulirung der Forderung einer Pacificbahn erblicken dürfen, an deren Ende sich thatsächlich jener Ocean und auf ihm jener offene Weg nach Indien und dem Orient dahinbreitet, welchen der Amerika findende Genuese dereinst umsonst gesucht hatte. Und wie seiner Zeit dieser Letztere nur wenig Jahre brauchte, um zu beweisen, daß er auf der richtigen Weltfährte gewesen, so sollte es auch für den ersten und frühesten Träumer einer amerikanischen Transcontinentalbahn nur einer ganz kurzen Zeit bedürfen, um ihre anscheinend kühnen Behauptungen vom Schlage des Benton’schen: „Dort ist der Osten – dort ist Indien!“ als das einfachste Ding der Welt erscheinen zu lassen.

Nur einer ganz kurzen Zeit – sehen wir etwas näher zu, wie das, und wie schnell es dabei herging. Mehr als zwei Drittel des gesammten Landbesitzes der Union liegen westlich vom Mississippi, und noch in der ersten Zeit unserer Generation galten die unmittelbaren westlichen Uferländer dieses Stromes für den äußersten Grenzstrich eines halb fabelhaften Gebietes, unter dem man sich ein für immer der eingeborenen Rothhaut verfallenes Riesenwirrsal von Prairien, Hochsteppen, Alpenketten, Wüsteneien und sonstigen Wildnissen vorstellte, in dem weder der kriegerisch- noch der friedlich-erobernde Kaukasier jemals ordentlich Fuß fassen werde.

Die Entdeckungsreise von Lewis und Clark, welche 1805 die Quellen des Missouri gefunden und selbst den Columbia bis zu seiner Mündung in den Stillen Ocean verfolgt hatten, stand in der Geschichte mehr als romantische Wagefahrt und Leistung persönlichen Muths, denn als eine im Dienst der Civilisation vollbrachte Großthat da. Und noch in den vierziger Jahren konnte der Zug Fremont’s über die Felsengebirge seinem Vollbringer den nationalen Ehrentitel eines Pfadfinders nicht so sehr wegen der praktischen Vortheile, welche er dadurch der Welt erschlossen hatte, als vielmehr der Gefahren und Abenteuer halber eintragen, welche damit verknüpft gewesen. Erst der im Frühjahr 1848 aus den Westabhängen der Sierra Nevada über Amerika und Europa dringende Weltalarmruf „Gold“ brachte den Namen Californien auf alle Lippen, entriß mit einem Schlage den fernsten pacifischen Rand dieses westlichen Riesengebiets seiner Verschollenheit und nahm bald auch diesem letzteren selbst durch den großen Land-Argonautenzug, der sich in einer Länge von zweitausend Meilen über die Prairien, Felsengebirge, Wüsten und Sierras nach dem neuen Schätzelande entfaltete, seine ersten und übertriebensten Geheimnisse.

Aber das Gold allein that es dieses Mal doch nicht. Es bedurfte noch anderer, noch unmittelbarer und nachhaltiger sich geltend machender Beweggründe, um die wirkliche Eroberung des Großen Westens anzubahnen. Aus dem bloßen Goldlande am Pacific entpuppte sich im Laufe weniger Jahre ein unschätzbares Weizen- und Weinland mit einem mächtig aufstrebenden Handel und einer mit ihm in gleichem Schritte aufblühenden Handelscapitale. Im Innern des Continents, in den Wüstenbergzügen zwischen den Felsengebirgen und der californischen Sierra Nevada, wurden beständig neue Minengebiete erschlossen, denen neue Bevölkerungen zuströmten. Gleichzeitig aber lieferten die Mormonen mit ihrer wunderbaren Kirchen- und Ackerbauschöpfung am Salzsee den Beweis, daß in diesem nämlichen Wüsteninnern des Continents sich auch noch weitaus stabilere Culturvorbedingungen finden ließen, als unzuverlässige Gold- und Silberlager. Und dann kam der große amerikanische Bürgerkrieg und mit ihm die durch den Abfall des Südens der Nation ertheilte Lehre: daß ihre neue pacifische Domäne noch durch ein stärkeres als nur ein goldenes, durch ein eisernes Band an die östlichen Stammgebiete der Union zu knüpfen sei.

Damit war das Sesamwort für den Großen Westen gefallen, und als ob er dieses Rufes nur geharrt hätte, trat der moderne Reiche-Eroberer Dampf in diesen noch halb vom Schleier der Sage umwallten Gebieten seine Erschließer-Mission mit einem Ungestüm an, welches Amerika selbst in Staunen versetzte, die alte Welt aber vollends bald nur noch von einem neuen Weltwunder sprechen ließ. Dasselbe sollte schnell genug eine vollendete Thatsache sein. Nur vier Jahre nach Beendigung des Bürgerkrieges, und es stand fertig da. Das Frühjahr 1869 brachte das große Schauspiel der ersten, auf ununterbrochenen Schienengeleisen vom Missouri bis zum Sacramento jagenden Locomotive. Die seitdem verflossene Zeit von nur dreizehn Jahren aber hat hingereicht, dem Weltwunder genug Neu-Auflagen zu geben. Nicht weniger als fünf vollständige Ueberlandbahnen, die in Kurzem auf sechs und sieben angewachsen sein mögen, überbrücken in diesem Augenblicke den Großen Westen auf die zweitausend Meilen hin, die den Mississippi vom Stillen Ocean trennen. Und nicht genug mit dieser fünffachen Einschienung von Osten nach Westen – auch unter und zwischen den eisernen Hauptheerwegen derselben hat der bahnenbauende Unternehmungsgeist in den letzten Jahren eine derartig fiebernde Thätigkeit entwickelt, daß dies ganze ungeheure Gebiet demnächst von Norden nach Süden ebenfalls in das geschlossenste Schienennetz eingesponnen und eingefangen sein wird, in welches die moderne Culturspinne Dampf noch je ein neues Weltgebiet eingefangen hat.

Die jüngste der Civilisations-Vollbringungen, welche man diesem gigantischen Eisenbahnbau im Großen Westen zu verdanken hat, besteht in der Erschließung des Neuen Nordwestens durch die Pacificbahn. An Flächeninhalt etwa das Doppelte des deutschen Reiches umfassend, erstreckt sich der unter diesem Namen verstandene Landgürtel von den canadischen Seen und dem oberen Mississippi über die Gebiete von Minnesota, Dacotah, Montana, Idaho, Oregon und Washington-Territorium bis an den Puget-Sund und die Mündung des Columbia in den Stillen Ocean. Wer hätte von dieser ganzen nordwestlichen Region, mit etwaiger Ausnahme West-Oregons und Minnesotas, noch vor zehn Jahren in einem andern als rein geographischen Sinne sprechen gehört? Und heute? Heute haben sie bereits mit Glanz ihren ersten Schritt über die Schwelle gethan, welche die Wildniß vom Culturbereiche trennt; hat die amerikanische Großviehzucht mit ihren unübertrefflichen Weidegebieten zu rechnen angefangen; haben sie als Kornkammern bereits ihr Wort auf dem Weltmarke mitzusprechen begonnen!

Und nun zu den Gebieten selbst, welche dieser neueste amerikanische Ueberlandweg über Nacht in Bann und Dienst des [263] Weltverkehrs gestellt hat und von denen man nicht weiß, ob man dem Reichthum und der Nutzbarkeit ihrer unabsehbaren Bodenflächen, oder der Schönheit, Merkwürdigkeit und Mannigfaltigkeit ihrer landschaftlichen Gestaltung die Palme zuerkennen soll. Das kingt ein wenig voll, aber es meint genau, was es sagt. Nur in wenigen Ländern der befahrenen Erde wird eine derartige Entscheidung dem Umschau Haltenden so schwer gemacht, wie in diesem neuesten Theil der Neuen Welt. Man hat nur vom Lake Superior aus seine Ostgrenze zu überschreiten, um sich auch gleich an der Schwelle dieses achtzehnhundert Meilen langen Landgürtels der ganzen Qual einer solchen Wahl preisgegeben zu sehen. Es ist der Staat Minnesota, der, selbst noch verhältnißmäßig neu, hier gewissermaßen den Vorhof des Neuen Nordwestens bildet.

Der Westfahrer aber durchfliegt dieses schöne, in seinem Reichthum an Wald, Hügeln, Seen, Feldern und Farmen einem ununterbrochenen Park gleichende Minnesota nur, um sich schon hundert Meilen jenseits des Mississippi, nach Ueberschreitung des Redriver, mit einem Schlage in das gerade landschaftliche Gegentheil versetzt zu sehen, in das jeder Romantik entbehrende, völlig nackte und flache Prairiengebiet Dacotahs!

Aber welcher Wandel hat sich im letzten Jahrzehnt in diesen Redriver-Regionen des nordöstlichen Dacotah vollzogen! Als ob ihre fußtiefen Ablagerungen schwarzen Humusbodens nur darauf gewartet hätten, ist hier unter der ersten Berührung des magischsten aller Zaubergeräthe, der Pflugschar, über endlosen Grassteppen ein Weizenland erwachsen, das schon heute von Dutzenden kleiner Ackerbaustädte und von Tausenden einzelner Farmen und Heimstätten bedeckt ist. Fargo am Redriver ist die Hauptstadt davon. Mit den zehntausend Einwohnern, welche es in diesem Augenblick zählen mag, erlaubt es sich bereits den Luxus einer beträchtlichen Anzahl steinerner Geschäftsgebäude, vier verschiedener Zeitungen und eines zweihundert Fuß hohen eisernen Beleuchtungsthurmes, von dessen Höhe eine elektrische Sonne allabendlich nicht nur die junge Weizencapitale, sondern auch die sie umgebenden ländlichen Weizendependenzen weithin erleuchtet. Im Uebrigen sieht der Ort wie ein großes Heerlager von Landagenturen und Niederlagen von Farmgeräthen und Ackerbaumaschinen aus, welch letztere Raummangels halber ihre Pflüge, Eggen, Sä-, Mäh- und Dreschapparate im Freien aufstapeln und so die Straßen in einen großen Agriculturbazar verwandeln.

Das Land um Fargo herum aber und auf hundert Meilen und mehr nach Westen hinaus muß man zur Erntezeit mit eigenen Augen gesehen haben, um das Recht zu begreifen, mit welchem die poetischen Zeitungsredacteure dieser jungen Ackerbaucommunitäten nur noch von ihrem „Goldenen Nordwesten“ sprechen. Ein einziges, unabsehbares, nur hier und da von einer Gerste- oder Haferwelle unterbrochenes Weizenmeer liegt es dann da, dieses neueste Weizenland der Erde. Im Augenblick bereits Tausende von Quadratmeilen bedeckend, brandet es mit jedem Sommer weiter nach Westen hinaus, hat es schon heute das eigentliche Redrivergebiet längst hinter sich gelassen, ist es eben im Begriff, das weitschichtige Hügelland zu überfluthen, welches unter dem wunderlichen Namen des „Cotaeus“ die Ufer des zweihundert Meilen weiter westlich fließenden und hier seinen großen nordsüdlichen Bogen beschreibenden Missouri einsäumt.

Die größten Farmbetriebe der Welt befinden sich in diesem Weizenlande Norddacotahs, so bei Fargo die berühmte Dalrymple-Farm, welche allsommerlich 25,000 Acres – nahezu ein und eine Viertel geographische Quadratmeile! – in einer geschlossenen Fläche unter Cultur hat. Daß hier die Maschine zur Großmacht wird, und daß sich Bodenbestellung, Aussaat und Ernte in Dimensionen und mit Hülfsmitteln vollziehen, von denen der europäische Ackerbau ebenso wenig etwas weiß, wie von den kaum nennenswerthen Preisen dieses Neulandes, bedarf keiner besonderen Ausführung.

Doch nicht nur in Mitten der bereits von der Pflugschar eroberten Districte entfaltet dieser Monstrebetrieb seine nützliche, wie seine schädliche Wirksamkeit. Er bildet auch den erfolgreichen Pionier nach Westen hin, welcher im Verein mit der neuen Eisenbahn die kleineren Farmen in hellen Haufen erst hinter sich herzieht. Und gerade in den Hügellandstrichen des oben genannten „Cotaeus“ sind es neuerdings die drei Riesengründungen der Steele-, der Clark- und der Troy-Farm, von denen keine unter 15,000 Acres umfaßt, welche den Beweis geliefert haben, daß die baumlose „rollende“ Prairie des Missouri sich ebenso gut, wie die nicht minder baumlose, aber dazu noch völlig flache und in dieser Flachheit nur um so mehr den winterlichen Eis- und Schneestürmen, welche hier unter dem Namen „Blizzards“ so sehr gefürchtet werden, ausgesetzte Prairie des Redriver, zu einem sommerlichen Weizenparadiese qualificiren.

Das Latein, welches dem Leser in dem Worte „Cotaeus“ entgegentritt, ist, wie der Weizen dieser Gegenden, von echtem Dacotaher Wachsthum. Es ist eine von den guten Leuten dieses Territoriums glücklich zu Stande gebrachte und noch glücklicher eingebürgerte Corruption des einst von den französisch-canadischen Missionären dieser Landerhebung beigelegten und von den amerikanischen Geographiebüchern beibehaltenen Namens: Coteau du plateau du Missouri. Diese „Hügelländereien des Plateau von Missouri“ und der von ihnen eingesäumte Strom bringen in landschaftlicher Beziehung eine wahrhaft erlösende Abwechslung in das ebene Einerlei, welches sich vom Redriver bis hierher hindehnt. Bismarck heißt die junge Stadt, bei welcher die Nord-Pacificbahn auf einer diesem Namen wohl entsprechenden eisernen Prachtbrücke den Missouri überschreitet. Dieser selbst aber ist eines solchen Brückenbaues wohl würdig. Trotz seines schmutzig verwahrlosten Gewässers bietet er hier bereits ein höchst stattliches Flußbild, wird er namentlich im Frühjahr, wenn die Rocky Mountains ihre Wassermassen zu Thale senden, zum gewaltigen Strom mit weitausgedehntem Ueberschwemmungsgebiet.

Aber wo bleibt dieses Fluß- und Hügelland-Intermezzo, mit dem der Missouri und seine Ufer eine so wohlthuende Abwechslung in die endlose Prairieneinförmigkeit Dacotahs bringen, neben der landschaftlichen Abnormität, welche – ein ganzes Landschafts-Drunterunddrüber – des um abermals hundert Meilen der sinkenden Sonne nachgeeilten Westfahrers in den ebenso viel genannten wie wenig gekannten „Bad lands“ des Little Missouri harrt? Nicht die geringste Absonderlichkeit an dieser selbst bis auf ihren Namen absonderlichen Region, zu deren Hervorbringung eine excentrische Naturlaune die widersprechendsten Naturkräfte vereinigt zu haben scheint, ist die Plötzlichkeit, mit der sie sich hier und von hier auf weite Strecken nach Norden und Süden hin fast quer über das ganze Unionsgebiet aufwirft. Am ausgesprochensten längs der Grenzlinie, welche Dacotah vom Territorium Montana trennt, erstrecken sich diese „Bad lands“ nach Wyoming hinunter, um in Colorado und Utah auf’s Neue hervorzutreten, bis sie in ihren südlichsten Ausläufern endlich in Neu-Mexico und Texas verschwinden. Soll man sie ein Gebirge nennen? Wenn man sich durch einen Zug der Nord-Pacificbahn kurz vor Ueberschreitung des Little Missouri-Flusses plötzlich und unvermittelt in ihr buntes Labyrinth von Höhen, Bergen, Schluchten, Thälern und Engpässen versetzt sieht, gewiß! Es sind wohl an tausend bis zwölfhundert und selbst noch mehr Fuß, zu welchen sich hier diese in allen nur denkbaren Formen aufstarrenden Erdbildungen über die davor gelagerten Ebenen erheben. Dazu in solchen Massen, in solcher Zusammengedrängtheit und in solchem Durcheinander, daß man sich wie mit einem Zauberschlage in eine längst entschwundene geologische Epoche zurückversetzt glaubt, da die Erde noch in ihren zuckenden Werde-Wehen lag und nicht das fertige, menschen-bewohnte Bild der Ordnung von heute war.

Als habe damals ein übermächtiger Wille ihrem chaotischen Kreißen jählings Einhalt gethan, so ist hier das Land mit einem erstarrten Chaos der abnormsten Formen bedeckt, in denen auch die ungeübteste Einbildungskraft allerlei phantastische Gestalten erblicken muß, und welche hier wie mit einer Art ingrimmigen Wohlgefallens an ungeheuerlich-primitiver Plastik auf die Breite von tagelangen Wanderungen unter einander gewürfelt erscheinen.

Auf die Breite von tagelangen Wanderungen! Ja, wer sich überhaupt nur unterfangen wollte, diese Wirrsale und Irrgärten von Riesenkegeln, Pyramiden, Zacken, Wällen, Thürmen, Haufen, Domen, Ruinen und Bastionen zu durchwandern, in deren gewundenen Schluchten und endlos verschlungenen Thaleinsenkungen ein üppiger Graswuchs wuchert, aus welchem – ein weiterer Zug der contrastirenden Bizarrerie, welche hier zu Hause ist – die mächtigen Knorren und Stümpfe versteinerter Bäume aufragen!

Nur ein unendlicher Ariadne-Faden, noch besser aber ein untrüglicher Pfadfinderinstinct können zu einem solchen Unternehmen in Stand setzen. Ohne das Eine oder das Andere harrt

[264]

Bad lands“ (Schlechte Gegend) am Little Missouri.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[266] sicheres Mißlingen, harrt allerlei Gefahr, wohl gar der Untergang des hoffnungslos Verirrten, der hier durchzudringen versuchte.

Und damit wäre auch das Geheimniß des Namens berührt, den man dieser geheimnißvollen Gegend beigelegt hat. Das verdächtige, wenn nicht gar verächtliche „Bad lands“ – „schlechte Ländereien“ – ist durchaus nicht so verächtlich gemeint, wie es klingt. Es ist nur die kopflose und doch zugleich nur den Kopf beibehaltende Uebersetzung der früheren französischen Bezeichnung für diesen eigenartigen Naturspuk. „Terres Mauvaises pour traverser“, so lautet die von den nämlichen canadischen Missionären, die auch den Coteau du plateau du Missouri aus der Taufe gehoben, herrührende Bezeichnung in wörtlicher Uebertragung des treffenden ursprünglichen Indianernamens. „Bad lands to cross“, „eine schlechte Gegend, um durchzukommen“, hätte das Englische zu lauten gehabt.

Aber die wackeren Bewohner von Dacotah, deren sprachschöpferische Findigkeit wir schon im „Cotaeus“, des Missouri gewürdigt, begnügten sich mit dem einfachen „Bad lands“, und dieses Mal haben ihnen selbst die amerikanischen Karten und Geographiebücher zugestimmt. Es wird daher wohl für alle Zeiten sein Bewenden damit haben.

Das Material der „Bad lands“ ist ein reiner thonartiger Lehm. In ungeheuren Massen abgelagert, wurde er vor unvordenklichen Zeiten durch die Thätigkeit unendlicher Fluthen zu diesem labyrinthischen Wechsel von Berg und Thal ausgewaschen und ausgespült. Aber das Wasser hat hier nur die erste Arbeit gethan, nur das kleinere Wunder verrichtet. Das zweite, größere, das eigentliche Wunder blieb den Flammen vorbehalten. Und diese Flammen sind noch heute an ihrer, nach echter Flammenart unterirdisch betriebenen Arbeit und werden nach dem, was man an hundert Stellen dieser „Bad lands“, wo ihre lodernden Feuerherde in Gestalt offener Krater an’s Tageslicht treten, mit eigenen Augen sehen kann, noch so manches Zeitalter am Werk bleiben. Sie entstammen ungeheuren Braunkohlen- und Schwefellagern, welche sich unter diesen Aufthürmungen von Thon und Lehm dahin breiten. Vor Aeonen in Brand gerathen, unterhalten sie hier seitdem die gigantischste Backsteinbrennerei und Töpferei der Welt.

Ein Elementarwunder an sich, leiht die Thätigkeit dieses kolossalen Ziegelofens zugleich den „Bad lands“ ihren schönsten und eigenartigsten Zauber: zu der ganzen Formenmannigfaltigkeit eines regelrechten Terracottagebirges den ganzen Farbenreichthum eines solchen. In Bändern, Streifen, Zacken, Einfassungen und ganzen Gipfelkrönungen treten diese Farben vom grellsten Ziegelbraun und Roth bis zum zartesten Thongelb und Porcellanweiß sowohl an einzelnen Wänden und Abstürzen, wie an ganzen Hügeln und Kuppenreihen hervor.

An unzähligen Stellen ist das gebrannte Erdreich in Massen losgebröckelt, und man wandert dann über ganze Strecken eines aufgeschütteten Stoffes, von dem man schwören würde, daß es Ziegelschotter sei, wüßte man nicht, daß an der Grenze von Dacotah und Montana von einer mit Ziegeleien arbeitenden Civilisation vorläufig noch keine Rede sein kann. An anderen Punkten wieder scheinen – natürliche Vettern des römischen Monte Testaccio – ganze Berge und Abhänge aus rothen, schwarzbraunen und gelben Scherben aufgeschüttet zu sein. An noch anderen ragen scharfe Kuppen empor, deren untere Hälfte noch die unberührte Farbe des ursprünglichen gelben Thones trägt, während die Spitze einem frischgedeckten norddeutschen Kirchthurm gleich in den leuchtendsten Zinnober getaucht ist.

Doch genug der Einzelheiten. Wer wollte auch hoffen, mit ihrer Aufzählung[WS 1] der Beschreibung dieses ohnehin eigentlich gar nicht zu beschreibenden Natur-Capriccios näher zu kommen? Alles daran ist Merkwürdigkeit und Schönheit. Schön und merkwürdig ist der Formen- und Farbenreichthum, welcher den in tiefer Thaleinsenkung Stehenden unmittelbar umdrängt; schöner das in gemilderten Contouren und Tinten sich gebende Gebirgsbild, zu welchem sich das Ganze dem höher Steigenden erweitert – am schönsten und vollends wie aus einem Traumlande in diesen phantastischen Erdwinkel hineingrüßend die terrassenartig über dem Horizont aufsteigenden Wände, welche diesem Labyrinth nach allen Seiten hin den Anschein der Unendlichkeit geben und einander so lange immer wieder von Neuem überbauen, bis auch die zackigsten Gestaltungen und die grellsten Farben im blauen Duft der Ferne erlöschen.


  1. Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
  2. „Dort ist der Osten – dort ist Indien!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Anfzählung