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Der kleine Schuh

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Autor: Isolde Kurz
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Titel: Der kleine Schuh
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24–25, S. 414–417, 431–432
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[414]

Der kleine Schuh.

Skizze aus dem italienischen Badeleben von Isolde Kurz.

In die Farben des wärmsten Julisonnenstrahls möchte ich den Pinsel tauchen, um den ganzen Golf mit seinem tiefblauen Wasser, seinen klaren Inseln, seinen felsigen Buchten und Grotten auf dieses Blatt zu zaubern. Denn Worte sind machtlos vor dieser Fülle von Licht und Farben. Die weite See ist wie eine Palette, auf welcher der große Künstler alle seine Farben probirt und planlos mit dicken Strichen durch einander gemischt hat, ehe er damit die zarten Schattirungen der lachenden Landschaft malte.

Da sitze ich nun auf meiner meerumspülten alten Felsenburg unter dem dichten Schatten eines Feigenbaumes, um dessen vielverschlungenen Doppelstamm sich üppige Reben winden, und stehle dem lieben Gott den Tag ab.

Und die Gedanken kommen und schwinden wie die Wellen drunten am Ufer, sie haben keine feste Gestalt, Alles schwimmt und rinnt, bis es vom großen Meere wieder verschlungen ist.

Aber je länger ich dem rastlosen Treiben zusehe, desto mehr scheint es mir, als sei jede dieser Wellen ein persönliches Wesen, das sich für einen kurzen Moment mit seiner Eigenart behauptet, um schon im nächsten nicht mehr zu sein. Die eine wogt anmuthig herbei, und sowie sie am Ufer ist, dehnt sie sich wallend aus und giebt in friedlichem Zerrinnen dem Meere ihren Inhalt wieder, die andere muß sich gewaltsam an den Kieseln zerschlagen, die dritte bringt es gar nicht bis ans Ziel, sondern fällt auf halbem Wege zurück wie eine matte Kugel.

Ein grenzenloser Fatalismus kommt über mich (in Deutschland würde man’s Faulheit nennen), eine Stimmung, die nicht frohlich, nicht traurig ist, aber jede Thatkraft lähmt, eine wahrhaft orientalische Beschaulichkeit!

Da wogt eine große Welle prahlerisch herbei mit ihrer weißen Schaumkrone, aber sie ist so hohl wie die andere, denn wenn sie an die Klippe schlägt, zerbricht sie, spritzt ein wenig Schaum, und es bleibt Alles wie zuvor.

Ich begreife nicht, daß die Menschen, die an dieser Küste aufwachsen, überhaupt zum Leben zu gebrauchen sind. Die Tage schwinden hier wie ein seliger Traum, und wer wie ich den Kalender zu Hause gelassen, verliert jeden Begriff der Zeit, wie die Eingeborenen, die Einem nicht genau sagen können, wie alt sie sind. Und doch wohnt hier ein thatkräftiges Volk, kaum einer von diesen braunen, wetterharten Matrosen, der nicht schon in den kalifornischen Goldgruben oder am Ganges sein Glück gesucht hätte. Die männliche Jugend, die dem Staat die besten Seeleute liefert, ist fast immer von Hause fort, nur wenn Einer in der Welt Etwas vor sich gebracht hat, kommt er nach San Terenzo zurück, kauft sich hier an und lebt mit Frau und Kindern wie die andern Dorfbewohner.

Es macht einen seltsamen Eindruck, wenn man diese Männer, die zum Theil stattliche Güter besitzen, barfuß ihre Netze ans Land ziehen und ihre Fische selber kochen sieht. Tritt man zu ihnen ins Haus, so bieten sie dem Fremden mit dem Anstande eines homerischen Fürsten einen Platz bei ihrem Mahle, das am Herde verzehrt wird, und ein Glas Wein an, und erzählen von fernen Ländern und von den Gebräuchen fremder Völker, deren Sprachen sie auch zum Theile bei langem Aufenthalte erlernt haben.

Mein Hauswirth, der alte Giacomino, ist der Patriarch des Orts, bei ihm holen sich die Mitbürger Rath, und sein Wort entscheidet jede Frage. Er hat auch eine Odyssee hinter sich, wie keiner seiner Gefährten, alle Länder der bewohnten Erde hat er befahren, unzählige Abenteuer zu Wasser und zu Land bestanden, ehe er sich in San Terenzo seinen Herd gegründet hat. Jetzt sagt er, die Erde sei eigentlich doch gar zu klein, es gebe nichts mehr zu sehen.

Wäre dieser Weltumsegler nur ein besserer Schriftgelehrter, so hätte er es mit Leichtigkeit zum Kapitän gebracht; aber die Buchstaben haben ihn stets gelangweilt. In dem großen Buche des Lebens aber, in dem so viele verschollene Generationen ihre Erfahrungen niedergelegt haben und das vor jedem hellen Auge aufgeschlagen liegt, hat er geblättert wie Wenige. Wenn er mir Mittags das Fleisch aufträgt, das er selbst gebraten hat, und von dem Weine einschenkt, den er auf dem Kastell zieht, so scheint es mir nicht anders, als ich sei landfremd bei dem vielgewandten Beherrscher von Ithaka zu Gast. Und dann erzählt er mir von seinen Abenteuern unter den Beduinen, den Indianern, den [415] Chinesen, von Kämpfen an fernen Küsten mit Haisfischen und Klapperschlangen, mit eingeborenen wilden Völkern, von Inseln, die er mit Feuer versengte, um sich vor den Raubthieren zu schützen, von zerbrochenen Schiffen auf dem Eismeere und nicht die kleinste Rolle in diesem vielbewegten Leben spielen Frauen aus allen Menschenrassen.

Das Meer singt dazu seine eintönige Begleitung, vier weißliche Möwen tauchen über dem Wasser auf und nieder und ziehen große langsame Bogen durch die Luft, als ob sie zusammen einen feierlichen Tanz aufführten. Die Schiffer im Hafen unten liegen in ihren schaukelnden Kähnen ausgestreckt und schlafen, Dutzende halb nackter Kinder spielen in dem seichteren Wasser und wälzen sich im Sand. Hier oben aber schmettern die Cikaden, die Käfer und Mücken schwirren und taumeln umher wie trunken von Sonne und Seligkeit. Einzelne Luftwellen tragen von dem Bergabhang den heißen würzigen Pinienduft herauf, der wie ein warmer Strom durch die kühlere Luftregion zieht.

Das ist der Sommer im Süden, das ist die wonnige Faulheit des italienischen Badelebens.

Da plötzlich ein starker Donnerschlag. Der Himmel ist dunkel verhangen und schwere Tropfen fallen. Giacomino ist aufgesprungen; mit kundigem Auge wirft er nur einen Blick auf Himmel und Meer und eilt dann mit seinen bloßen Füßen die Stufen des Kastells hinunter. Eine Minute später sehe ich ihn schon unten am Hafen, wo er seine verschiedenen Barken losbindet und ins Trockene bringt. Eine Menge brauner Gestalten läuft geschäftig durch einander, überall werden die Anker gelöst, und bald sind über vierzig Kähne hoch ans Land hinaufgezogen.

Jetzt bläst der Wind von Süden her, das Meer hebt sich höher, die Nachen, die noch draußen sind, suchen das Land, denn sie werden schon herumgeworfen wie Nußschalen. Breite Wellen kommen wie Mauern heran und werfen sich mit Brüllen und Zischen an den Hafendamm, andere schwellen hoch auf wie einzelstehende Thürme, indem sie um sich her Abgründe aufreißen, dann schlägt ihre Spitze über, sie brechen in sich zusammen, und wehe dem Schiffchen, das ihnen ungeschickt entgegen käme! Es ist ein Krachen und Donnern wie auf einem Schlachtfelde. Der Regen schlägt mir ins Gesicht, der Sturm rüttelt an mir, als ob er mich von meinem luftigen Standorte ins Meer herunterschleudern wolle, und unversehens mit einem zweimaligen Rucke bricht die Dunkelheit herein. Ich flüchte mich auf mein Zimmer, wo mich das Toben des Meeres die ganze Nacht nicht schlafen läßt.

Am Morgen, der trüb und neblig heraufkommt, kann ich in der grauen zischenden Wassermasse zu meinen Füßen die freundliche klare Fluth nicht mehr erkennen, der ich mich noch vor Kurzem so zutraulich überlassen habe. Der Tag schleicht griesgrämlich hin, erst gegen Abend treten die Wolken aus einander, der Regen hört auf und die Sonne lacht einen Augenblick hervor, als wolle sie der Welt noch vor Schlafengehen kund thun, daß sie jetzt ausgeschmollt hat. Nur das Meer wüthet immer weiter und kann sich nicht zufrieden geben.

Reine Regenluft, vermischt mit dem köstlichen Duft frisch durchnäßter Erde, dringt mir von außen entgegen, und ich eile, im Freien Athem zu schöpfen. Auf der Rückseite des Kastells, wo die Schießlöcher einen Ausblick auf Portovenere und die Inseln gewähren, war um die hohen Klippen eine prächtige Brandung. Das kleine Thörchen in der Schloßmauer war vom Winde aufgerissen, der die Fichten und immergrünen Eichen an diesem Abhang wie Weiden zusammenbog.

Hier tritt das schroffe Felsengestade zu einer kleinen Bucht aus einander und bildet zugleich nach innen eine naturliche Grotte mit einem kleinen halbmondförmigen Strand, auf dem das Meer immerwährend Kies und Muscheln ablagert. Aber der Ausgang ist heute abgeschnitten, denn das Wasser spritzt jetzt hoch uber die Felsen weg, von denen man nach dieser Bucht hinabklettern muß. Noch immer nimmt der aus Südwesten kommende Libeccio seine Backen voll, hundert Blasebälge arbeiten in der Fluth, und ich meine, den Erderschütterer Poseidon zu sehen wie er mit seinem Dreizack die Tiefen aufwühlt und unter Sprudeln des Wassers allerlei fremde Gegenstände herausschleudert, die schon seit Jahren friedlich auf dem Grund geruht haben. Kork, Stücke Holz, vielleicht die Ueberreste zerschmetterter Schiffe, treiben vermischt mit Seetang, auf der Fluth und werden mit Muscheln und Kieseln an den Strand geworfen. Aber die Welle, die sie eben hergewälzt hat, reißt sie auch wieder zurück, wie einen Ball, den eine kundige Hand wirft und hascht, und so kann das Spiel stundenlang dauern, bis ihm einmal ein stärkerer Wasserschwall ein Ende macht, indem er das Spielzeug aufs Trockene schleudert. Ein seltsam geformter dunkler Gegenstand besonders, an dem es zuweilen aufblitzt wie von Silber, kann gar nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder angeschwemmt, wird er stets aufs Neue zurückgerissen. Einmal hing er schon an einer Klippe fest, aber eine nachstürzende Welle warf ihn wieder herunter. Gar zu gern möchte ich wissen, was das für ein Ding ist, aber seine Form läßt sich nicht unterscheiden, nur will es mir scheinen, als sei es ein Werk von Menschenhand. Darüber fängt es zu dunkeln an, heute Abend kann ich meine Neugier nicht mehr befriedigen. Unten ist schon Vieles angehäuft, vielleicht liegt morgen früh auch der räthselhafte Gegenstand auf dem Sande der Bucht. –

In dieser Nacht beruhigte sich endlich das Meer, und heute früh liegt der alte Ländererstürmer wieder so friedfertig da, als ob er nie ein Wässerchen getrübt habe. Nur der Wasserstand ist noch höher als sonst, und ein leises Wallen läuft von Zeit zu Zeit über den Spiegel, wie die Brust eines Kindes, das vom Schreien müde ist, sich noch eine Zeitlang in krampfhaften Stößen hebt. Auch bei den Klippen an der kleinen Bucht ist das Wasser gefallen.

Ich lasse eilig die Leiter an die kleine Pforte legen und steige auf den ersten Rasenvorsprung hinab. Ueber die Felsen rutschend und kletternd gelangte ich in die Tiefe, aber hier begann erst der mühselige Theil der Wanderung. Die höchsten Klippen, die mir im Wege lagen, mußte ich hinauf. Und hinunterklettern, häufig durch den heraufschlagenden Wasserschaum von der einen zur andern springen, bis ich endlich mit nassen Schuhen und zerrissenen Kleidern auf der kleinen Bucht stand.

Ich sah jetzt, daß sie bedeckt war von Holzsplittern, die die Fluth zerrieben hatte, von angebrannten Kohlen, zertrümmertem Geräth, von Bimsstein, weißgewaschenen Thierknochen – darunter vielleicht auch menschliches Gebein. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß ich die Trümmer eines Schiffbruchs vor mir hatte. Als ich eine zerfetzte, von Wasser schwere Strohmatte aufhob, blitzte mir etwas Blankes entgegen, und ich zog einen ganz durchweichten kleinen Schuh hervor, an dem eine feine silberne Agraffe nur noch lose hing. Es war ein schmaler winziger Frauenschuh, wie ich noch sehen konnte, vom feinsten Leder und der zierlichsten durchbrochenen Arbeit, mit rothem Saffian gefüttert und vielfach mit Seide durchsteppt; kleine Quästchen, die jetzt zu Klumpen zusammengeballt waren, hatten ihn verziert. Der hohe Absatz war gleichfalls lose. Ich betrachtete nachdenklich die schmale hochgewölbte Sohle und stellte mir den hübschen Fuß vor, dem dieser Schuh gepaßt hatte. Wer weiß, wo jetzt die Haifische an dem nagen? mußte ich mit Grausen denken.

Ich kletterte über die Klippen zurück ins Kastell, zeigte Giacomino meinen Fund und sprach meine Vermuthungen aus. Der aber schüttelte den Kopf.

„Der Schuh kann keiner Ertrunkenen gehören,“ sagte er, „denn wenn das Leder einmal in Wasser eingeweicht ist, so bringt es keine Gewalt mehr vom Fuße. Eher glaube ich, daß ein Schiff mit solcher Waare beschädigt worden ist und seine Befrachtung über Bord geworfen hat. Es braucht darum noch nicht gerade untergegangen zu sein. In unserem Golf kommen, wie Sie wissen, selten Unglücksfälle vor.“

„Aber was bedeuten denn die vielen Holzsplitter, die zusammengewickelten Stiele, die Küchengeräthe, wie z. B. ein völlig erhaltener zinnerner Seiher und ein Theelöffel von Neusilber, die ich gefunden habe?“

Der Seemann zuckte die Achsel.

„Diese Gegenstände müssen nicht nothwendig mit dem Schuh in Verbindung sein. Da die Küste hier überall felsig ist, so treibt das Meer solche Dinge oft von weit her zusammen und wirft sie dann alle mit einander an irgend einer flachen Stelle aus. Und wer weiß, wie manches noch da unten ruht von langer Zeit her! Dort hinter dem Tino liegt ja der ‚Oncle Joseph‘ auf dem Grund mit Mann und Maus. Da mag wohl hier und da von den Fischen etwas herausgezerrt werden und an die Oberfläche kommen.“

„Uebrigens unmöglich ist es ja nicht,“ fügte er, auf meine Vermuthungen zurückkommend, hinzu. „Das Meer ist diese letzten Tage wild genug gewesen.“

[417] Er hielt den Schuh in der Hand und betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten.

„Eine reizende Arbeit,“ sagte er. „So etwas wird nicht hier zu Lande gemacht.“

Ich nahm ihm den Schuh wieder ab und stellte ihn zum Trocknen auf das Gesimse.

Giacomino ging gleichmüthig seinen Geschäften nach und legte sich dann mit den andern Schiffern auf die Marina in den Sand, um sich zu sonnen.

Ich sprach ihm den ganzen Tag nicht mehr von dem Schuh, aus Furcht, er möchte mich auslachen.

Aber ich hatte gar keine Ruhe mehr. Immer betrachtete ich den Schuh, der räthselhaft und geheimnißvoll dastand und keinen Aufschluß gab.

O, wenn du reden könntest, dachte ich immer, was würdest du für eine Geschichte erzählen!

Unablässig irrt meine Phantasie mit ihm auf der Wasserwüste herum nach der Stelle zurück, wo er ins Meer geschleudert wurde, und diese Stelle kann nur ein sinkendes Schiff sein. Aber ob er in der letzten Todesangst von einem schönen Fuße abgestreift worden ist, der sich zum Schwimmen rüstete – ach, zu einer hoffnungslosen Verlängerung des Kampfes – ob er nur zufällig von den krachenden, berstenden Planken weggespült wurde, darüber wird mir keine Auskunft.

Tausend schmerzliche Bilder stehen mir vor der Seele, ich kann mich nicht wie sonst zum Träumen unter meinen Baum setzen, unruhig gehe ich hin und her und denke an den geheimnißvollen Schuh.

Endlich, um mich zu zerstreuen, griff ich nach dem einzigen Buche, das mich an das brausende Meer begleiten durfte. Da las ich die Stelle:

„Schon zween Tag’ und der Nächte soviel in dem wogenden Aufruhr
Irrt er umher und oft umschwebte Tod ihm die Seele.“

Diese Verse klangen wie ein Orakelspruch und vermehrten meine Unruhe. War es nicht gerade vor zwei Tagen, daß der große Sturm begonnen hatte? Wie wenn am Ende gar ein menschliches Wesen eben jetzt hilflos da draußen umhergetrieben würde, immer die Küste in Sicht, die es nicht erreichen kann? Und dann kommt die Nacht, Haifische tauchen aus der Tiefe, schwimmen neben dem Boote her und warten ruhig auf den Fang, der ihnen nimmer entgehen kann. Denn das Boot ist vielleicht schon leck oder die nächste Welle kann es umwerfen, und dann die Kälte, wenn es dem Morgen zugeht. –

Hier merkte ich erst, wie weit sich meine Phantasie schon verirrt hatte. Ich mußte selber lachen, und alsbald verschwanden die Spukbilder. Was ist denn daran so Besonderes, daß ich einen Schuh am Strand gefunden habe?

Als mir Giacomino das Nachtessen auftrug, sagte er ruhig:

„Mit Ihrer Vermuthung könnten Sie doch Recht haben. Es wird ein spanischer Küstenfahrer vermißt, der am 22. mit vielen Waaren von Barcelona abgefahren ist. Am Ersten sollte er hier sein, aber seit Genua weiß man nichts mehr von ihm. Ein Mann aus Lerici hat es mir heute erzählt.“

„Ich wußte es ja,“ rief ich, und die Befriedigung des Rechtbehaltens übertäubte fast für einen Augenblick das menschliche Mitgefühl.

[431] Der Kommandant des vermißten Küstenfahrers ist aus dieser Gegend gebürtig,“ fuhr Giacomino fort. „Er hat seine Frau drüben in Lerici. Sie war das schönste Mädchen im Ort, mit schwarzen Haaren, die ihr bis zu den Knöcheln reichten, und Augen wie eine Sultansgeliebte. Aber das Allerschönste waren ihre Füße – weiß und zierlich wie aus Elfenbein geschnitzt und mit Zehen so wohlgebildet wie Finger. Ein Bildhauer aus Florenz ruhte nicht eher, als bis sie ihm erlaubte, ihre Füße in Gyps zu gießen – ‚er brauche sie für die Statue einer Madonna,‘ sagte er, ‚daher sei es ein frommes Werk‘ – der Schelm! Wenn sie Abends mit den andern Weibern zum Waschen an den Kanal kam, so standen die jungen Leute oft die halbe Nacht oben auf der Brücke, spielten die Guitarre, daß kein Mensch im ganzen Ort schlafen konnte, und sangen die Stornelli, die Einer an sie gedichtet hatte. Sie aber wollte Keinen als ihren Pietro, der hält sie jetzt als Signora und bringt ihr immer die schönsten Kleider und Putzsachen von seinen Reisen mit. Vor ein paar Wochen kam ihr erstes Kind zur Welt, und nun soll die arme Frau in großer Sorge um ihren Mann sein, weil das Schiff so lange ausbleibt.“

Mich überkam es wie eine plötzliche Erleuchtung.

„O, jetzt ist Alles klar,“ sagte ich. „Am Ersten sollte er hier sein, das war gerade der Tag, an dem der Sturm begann. Diese Holzsplitter, das viele Geräthe, die Strohmatten und der kleine Schuh – ja, es ist kein Zweifel, diese Schuhe hat der Kapitän aus Spanien mitgebracht, um die schönen Füße seiner Frau zu schmücken – da ereilte ihn das Verhängniß.“

Diesmal erhob Giacomino keine Einwendung mehr, sondern machte ein nachdenkliches Gesicht.

„O, ich kann mir Alles vorstellen, als sei ich dabei gewesen,“ fuhr ich fort. „In Barcelona hat wohl der zärtliche Gatte die Nachricht von der Geburt seines Kindes erhalten. In der Freude seines Herzens geht er, nachdem die Waaren geladen sind, noch bis zur Stunde der Abfahrt in den Straßen an den Schauläden herum, um seiner Frau das Schönste zu suchen, was nur für Geld zu haben ist. An einem Schaufenster stechen ihm diese Schuhe in die Augen, die soll sie tragen, wenn sie zum ersten Mal zur Kirche geht, um den Segen zu empfangen. Das sind zwar Schuhe wie für eine Fürstin, aber dem glücklichen Kapitän ist kein Preis zu hoch, um die schönen Füße würdig zu kleiden. Zufrieden kehrt er mit seinen Schuhen an Bord zurück, der Anker wird gelichtet und bald ist bei gutem Fahrwind die französische Küste erreicht. Aber der Kapitän muß zu seiner Qual an allen Häfen anlanden, um Waaren aus- und einzuladen. Acht Tage ist er schon unterwegs, und auf dem ganzen Schiff ist Niemand so ungeduldig wie er selbst. Endlich – am neunten Morgen – kommt er nach Genua, seiner letzten Station. Jetzt nur noch nach Spezia und von da im Nachen heim zu seinem Glück. Da ändert sich auf einmal das Wetter, es ziehen drohende Wolken auf, aber der ungeduldige Kapitän sticht trotz ungünstiger Zeichen in See. In der Nähe von Portovenere muß das Schiff vom Sturm ereilt worden sein –“

Giacomino, der während meines hastigen Sprechens schon mehrmals zustimmend mit dem Kopf genickt hatte, fiel jetzt ein:

„In der Enge zwischen der Palmaria und Portovenere muß das Unglück geschehen sein.“

„Ja,“ rief ich „ich weiß Alles. Mit zerschmettertem Mast wurden sie an die gefährlichen Riffe der Palmaria getrieben und stark beschädigt; die Kisten, Tonnen und Geräthschaften, deren Trümmer am Strande liegen, sind in dieser letzten Noth über Bord geworfen worden. Aber es ist zu spät – das Schiff sinkt. Die Bemannung flüchtet sich in die Boote, der Kapitän, der wie immer den Kopf oben behält, will als Letzter folgen –“

„Ja, kennen Sie ihn denn?“ unterbrach mich Giacomino ganz erstaunt.

„Ich kann ihn vor mir sehen, er ist ein schlanker, brauner Matros – im Arm hält er sein Kästchen mit den Schuhen, das Einzige, was er von seiner ganzen Ladung gerettet hat. Aber im Augenblick, wo er über Bord springt, wirft eine Welle das Boot weit hinaus und der aufgerissene Schlund reißt den Unglücklichen hinunter. Beim Wiederauftauchen sieht er vielleicht den Leuchtthurm seiner Heimath, und wäre nicht der Sturm, so könnte er vielleicht die Glocken von Lerici das Ave läuten hören.

Aber neue Wellen schmettern über ihn herein, bewußtlos versinkt er in dem Strudel – und aus dem Kästchen, das die Wellen zermalmt haben, treibt ein kleiner Frauenschuh an unsere Bucht.“

Giacomino schwieg ernsthaft, ich hatte schließlich mit meiner Einbildungskraft auch ihn angesteckt.

„Ja, es ist ein böses Handwerk,“ sagte er schließlich nach einer langen Pause seufzend. „Gute Nacht!“

Die ganze Nacht dachte ich an den Unglücksschuh, und so oft ich aus einem kurzen unruhigen Schlaf auffuhr, stellte ich mir die unglückliche Wittwe vor, die jetzt wohl schlaflos auf ihrem Lager stöhnte, während das Meer die Leiche ihres Geliebten nach fernen Küsten wälzt. Das war für mich nunmehr eine ausgemachte Thatsache.

Als ich am nächsten Morgen aus meinem hohen Thurmzimmer auf die Plattform stieg, wo man zugleich das Meer und die Landschaft überblickt, da sah ich unten an den Stufen des Kastells ein weißes Kleid und bunte Bänder durch das Grün des Gartens schimmern und ich erkannte meine treffliche Freundin Signora Clelia, die sich mühsam die steilen Stufen heraufarbeitete, um mir einen Morgenbesuch zu machen. Man muß die Signora kennen, um die ganze Größe dieses Opfers zu würdigen.

Signora Clelia ist unbestritten die eleganteste und vielleicht auch die hübscheste Frau im Ort, und sie läßt sich diesen Ruhm wahrlich sauer werden. ich glaube sogar, ihr nicht ganz Unrecht zu thun, wenn ich vermuthe, daß dies der Grund ist, warum sie alljährlich unser stilles San Terenzo zum Badeaufenthalt wählt, denn sie ist darin dem großen Cäsar ähnlich, daß sie lieber in einem Fischerdorf die Erste, als in Rom die Zweite sein mag. Sie allein hält hier die Sitte der großen Welt aufrecht, sich viermal des Tages umzukleiden, gleichviel wie der Stand des Barometers sei. Und doch kann auf der abgelegenen Villa, die sie bewohnt, Niemand ihre Standhaftigkeit würdigen, als ihr Gatte, der sich darüber ärgert.

Aber daraus macht sie sich nichts, ihr ist es nicht um den Beifall zu thun, sie leidet für die gute Sache selbst, sie ist eine Märtyrerin ihres Princips. Dabei ist sie aber stets guter Laune und zwitschert den ganzen Tag wie ein kleiner Vogel. Dieses liebenswürdige, aber etwas anspruchsvolle Geschöpf ist die Frau eines deutschen Professors.

Ich sah, daß sie große Mühe hatte, mit ihrem enggebundenen Kleide und den hohen Stöckelschuhen durch das Geröll heraufzuklettern, und daß sie nach jedem Schritte schwer athmend stehen blieb. Ich eilte ihr entgegen und brachte sie nicht ohne einige Anstrengung vollends herauf.

Auf meinem Zimmer angekommen, ließ sie sich erschöpft in einen Lehnstuhl fallen und fing eifrig mit einem riesigen japanischen Fächer zu wedeln an.

„Ein herrlicher Morgen,“ sagte sie, „heute sind wieder einmal alle Farben durch einander geschüttet in dem großen mittelländischen Farbentopfe.“

Plötzlich sprang sie auf.

[432] „Ja, um aller Heiligen willen, wie kommen Sie denn zu meinem Schuh?“ rief sie und nahm das kleine Pantöffelchen vom Gesimse.

Ich stand wie versteinert.

„Gehört dieser Schuh Ihnen?“ fragte ich endlich kleinlaut.

„Jawohl,“ antwortete sie heiter, „und wenn Sie etwa daran zweifeln, so will ich Ihnen gleich beweisen, daß ich die rechte Braut bin, der der kleine Schuh paßt.“

Dabei streckte sie ihren niedlichen Fuß vor, nachdem sie das etwas gröbere Schuhwerk abgestreift hatte, und hielt das feine, von der Nässe eingeschrumpfte Pantöffelchen daneben.

Ich sah wohl, daß es ihr Maß hatte.

„Aber wie kommt es denn ins Meer?“ fragte ich noch immer in der äußersten Verwunderung.

„Damit hat es seine eigene Bewandtniß,“ antwortete sie lachend. „Sie kennen ja meinen Mann und seine geologischen Grillen. Nun sehen Sie, seit einiger Zeit hat ihn das wissenschaftliche Fieber wieder erfaßt, da klettert er den ganzen Tag in Geklüft und Dickicht herum, und mich schleppt er immer mit sich. Kommen wir dann an eine Pfütze oder einen Graben, so darf ich nicht etwa ausweichen, nein, ich muß mitten hindurch. So auch im Walde bricht er mit mir durch das dichteste Gesträuch, und wenn die schönste Fahrstraße nebenher läuft. Daß ich dabei alle Kleider zerreiße und hundertmal stolpere, ist ihm einerlei. Höchstens legt er los und schilt über wahnsinnige Moden. Weil ich nun diese Tyrannei nicht länger dulden wollte, lud er vor einigen Tagen ein paar befreundete Familien zu einem Ausfluge nach Portovenere ein. Ich glaubte wirklich, diesmal handle es sich um ein geselliges Vergnügen, und legte zum ersten Male diese zierlichen Schuhe an. Er selbst hatte sie mir von seiner letzten botanischen Reise in Spanien mitgebracht nebst einem andalusischen Schleier; das sei doch das einzige exotische Gewächs, wofür ich Sinn habe, sagte er. Zuweilen hat er doch auch menschliche Anwandlungen. Diese Schuhe also zog ich an, denn ich dachte, wir machen die Partie ja im Nachen, diesmal giebt es also nichts zu klettern. Aber ich hatte meine Rechnung ohne den Wirth gemacht. Gleich bei der Landung in Portovenere begann meine Noth. Da mußte der sogenannte Venustempel erstiegen werden, und von dort aus ging es trotz meiner Vorstellungen über Felsblöcke und Marmorquadern hinaus in das alte Festungsgemäuer. Wenn mein Mann dabei ist, so kann man sicher sein, alle Gemsenwege zu finden. Die ganze Gesellschaft schien von demselben Dämon besessen zu sein. Für mich war diese Anhöhe ein Leidensweg, ein Kalvarienberg. Sie wissen, ich bin nun einmal mit meinem ganzen Wesen nicht auf so schwindelhafte Unternehmungen eingerichtet. Kaum hatten mich die Herren mit vereinten Kräften auf irgend einen Felsblock hinaufgezogen, so blieb ich mit dem Absatze hängen und lief Gefahr, die ganze Höhe wieder hinunter zu stürzen.“

Während sie so sprach, zog sie an dem kleinen Schuh den lose gewordenen Absatz herunter und ließ ihn klappernd zurückschnellen.

„Sehen Sie, da sind noch die Risse im Leder von all den Felsenzacken, an denen ich hängen blieb. Ich könnte kein Ende finden, wenn ich Ihnen alle meine Drangsale schildern wollte.

Mein Mann, der anfangs sehr ungeduldig war und zornige Blicke auf mein Schuhwerk warf, sagte schließlich gar nichts mehr, aber er brütete über einem finstern Entschluß.

Endlich waren wir Alle lebendig wieder unten am Strand und ließen uns in der Venusgrotte nieder, um zu frühstücken.

Die Diener hatten unterdeß auf den Steinen Feuer angezündet und das Fleisch gebraten. Die übrigen Eßwaaren hatten wir in den Booten mitgebracht, der Wein war aus dem Ort beschafft worden, aber jetzt stellte es sich heraus, daß die Gläser fehlten.

‚Was Gläser,‘ rief mein Mann voll arger List. ‚Jeder galante Kavalier trinke aus dem Schuh seiner Dame!‘

Die andern Damen, die sich vorsichtiger als ich mit grobem Schuhwerk versehen hatten, machten jetzt verlegene Gesichter, und eilig wurde ein Fischerjunge beauftragt, Gläser aus dem Dorf zu holen.

Ich aber ließ mir arglos den Schuh vom Fuß streifen. Mein Mann goß ihn voll mit goldenem Cinque-Terre-Wein und leerte ihn auf einen Zug.

Dann schwenkte er ihn hoch wie einen Pokal und sagte feierlich. ‚Das war dein Letztes.‘

Ich ahnte jetzt, was folgen würde, und wollte ihm in den Arm fallen, aber er flüchtete sich mit seinem Raube blitzschnell auf die höchste Klippe.

‚Marterwerkzeug einer verirrten Kultur.‘ rief er, ‚Ausgeburt eines wahnwitzigen Schustergehirns! Jetzt ist deine Rolle aus, liege du bei den Ungeheuern der Salzfluth.‘

Damit schleuderte er den Schuh weit ins Meer hinaus. Ich sah ihn noch lange als schwarzen Punkt auf der Oberfläche treiben, die silberne Agraffe blitzte zuweilen auf wie ein Stern. Endlich schwand er mir aus den Augen, ich mußte unter den Neckereien der Gesellschaft barfuß nach Hause und hätte nicht gedacht, daß ich noch einmal im Leben meinen verlorenen Schuh wiedersehen sollte.“

In diesem Augenblick trat Giacomino herein.

„Der vermißte Schoner ist aufgefunden, Gott sei Dank!“ rief er mir zu. „Sie hatten mit Ihrer Phantasie mich selber angesteckt, daß ich die ganze Nacht von Schiffbruch träumte. Er ist allerdings in den Sturm gekommen und nach Korsika verschlagen worden. Dort hat er sich aber in Bastia vor Anker gelegt, um seine Schäden auszubessern. Gestern Mittag ist er in Spezia eingelaufen, alle Ladung ist gerettet. Der Kommandant ist gestern Abend im Boot nach Lerici gekommen. Aber er hat seiner Frau keine Schuhe mitgebracht, auch ist er kein schlanker, brauner Matros, sondern ein untersetzter, ziemlich beleibter Mann, auch schon bei Jahren. Ich habe ihn heute selbst im Hafen von Lerici gesehen.“

Wir lachten Beide herzlich. Signora Clelia nahm ihr wiedergefundenes Eigenthum an sich, das zwar durch die erlittene Havarie unbrauchbar geworden ist, ihr aber dazu dient, den Gemahl täglich an seine Unthat zu erinnern und ihn künftig vor ähnlichen Ausschreitungen zu bewahren. Ich höre auch, daß der Professor bereits ein neues Paar Schuhe genau nach dem Modell des ersten aus Madrid verschrieben haben soll.

Giacomino aber, der auch boshaft sein kann, meinte, ich hätte diesen Schuh eigentlich zum Andenken in meinem Zimmer aufstellen sollen, gleichsam als ein Warnungszeichen vor den Tiefen der Einbildungskraft.