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Die Gartenlaube (1869)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 17.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Miramare.

Rings des Todes heil’ge Stille – nächtig steht der Sarg umdunkelt,
D’rauf im Schein der ew’gen Ampel matt ein gold’nes Krönlein funkelt.
Ward bestellt ein Bild von Steine, hier die letzte Wacht zu halten,
Eingehüllet in des weißen Mantels weite weiche Falten?
Tiefe Trauer auf den Zügen, in den Augen feuchtes Leben,
Und in ungesproch’nen Worten von den Lippen scheint’s zu beben:
„In der Nacht bei Dir, verlass’ner Bruder, steh’ ich still und einsam,
Gleich als ruhten in der Mutter Armen wieder wir gemeinsam,
Die Du schmerzvoll nun erwandert, ach! es ist die ew’ge Ruhe,
Deine weltenweiten Träume modern in der engen Truhe,
Die von dem gesalbten Haupte Dir die Kugel schlug, die Krone
Lastet noch auf Deinem Sarge, wie ein Fluch, zu Deinem Hohne.
Fluch und Hohn, Du todter Kaiser, folgten Deinen letzten Wegen –
Meines Volkes Jubel zieh’ ich jetzt auf neuer Bahn entgegen,
Doch fast wähn’ ich, selber sei ich’s, der gesargt in diesem Schreine,
Und ein Neuerweckter steige aufwärts zu des Tages Scheine;
Was der herbe Schmerz des Todes Dich verspätet und vergebens,
Hat mich in der letzten Stunde noch gelehrt die Noth des Lebens:
Nimmer zwingen wir die Völker mehr zurück zur alten Frohne,
Und das heil’ge Oel vertrocknet, das gekittet uns’re Krone;
Soll zum welken Dornenreisig nicht der stolze Reif erblinden,
Müssen wir ihn mit der Freiheit lebensfrischem Kranz umwinden,
Freier Bürger freie Liebe einzig uns’re Wehr’ und Waffen,
Säbel werden nicht und Kutten uns das Reich der Zukunft schaffen.
Nun, mit Gott! Ich hab’s gewaget, Fürst und Volk im neuen Bunde,
Und schon blüht ein neues Leben aus der breiten Todeswunde,
Neu im Licht der neuen Zeiten soll sich Oestreichs Glanz bewähren
Und mit seinem milden Schimmer auch Dein edles Bild verklären;
Aber nahen bange Zweifel, droht der Wille zu ermatten,
Mahne treu mich auszuharren Dein geliebter blut’ger Schatten!“
      Lang’ noch haften seine Blicke auf dem Sarg mit stummen Fragen,
Während an die Felsenmauern Meereswogen murmelnd schlagen:
„Einst auf unsern Rücken haben wir sein prunkvoll’ Schiff genommen,
Wieder kam auf uns zur Heimath er, ein stiller Mann, geschwommen,
Und wir trugen jetzt den Funken, an des Geistes Blitz entzündet,
Der den Sieg des frei’sten Volkes dieser alten Welt verkündet.
Laß dem Tode seinen Todten, fort von diesem öden Riffe,
Folge Du dem Ruf des Lebens, Oestreichs Kaiser, steig’ zu Schiffe!“
Scheidend um das Bett des Bruders schlingt er einmal noch die Arme,
Und mit männlichem Entschlusse reißt er sich aus seinem Harme. –
      Frische Luft – der Alp entweichet – schnell zum Boot hinab die Stufen,
An den Ufern Kopf an Kopf, Tücherschwenken, Jubelrufen,
Miramare hinter ihm liegt versunken schon im Dunkeln,
Vor ihm hell im Sonnenstrahle die beglänzten Fluthen funkeln.

 Am Charfreitag. Albert Traeger. 




Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


18.

Das weiße Schloß beherbergte seit drei Tagen seinen durchlauchtigsten Gast. Jener üppige Glanz war zurückgekehrt, mit welchem einst Prinz Heinrich die vergötterte Gräfin Völdern umgeben hatte. Der Fürst war in Begleitung mehrerer Cavaliere gekommen, und auch an Damen fehlte es nicht. Was die exclusiven Hofkreise in A. an jugendlichen Schönheiten besaßen, war eingeladen worden – selbst die leidende Fürstin, die ihren Gemahl nicht begleiten konnte, hatte, als ganz besonderen Beweis ihrer Huld und Gnade für den Herrn des weißen Schlosses, „zur Erhöhung des Lüstres“ ihre berühmt schöne und liebenswürdige Hofdame geschickt.

Nun sahen die alten Lindenalleen des Schloßgartens wieder rothe Frauenlippen lächeln in jener strahlenden Lust, die vom überschäumenden Becher trinkt. In dem geheimnißvollen grünen Halbdunkel wiederholte sich das uralte Spiel des Suchens und Fliehens zwischen schönen, glänzenden Gestalten der Jugend, die hinter dem Fächer die verrätherisch leuchtenden Augen und unter oberflächlichem Geplauder das stürmische Klopfen der Pulse verbargen.

Und des Prinzen Heinrich geliebte Orangen- und Myrthenbäume, die einst das keusche Weiß ihrer Blüthen auf die üppigen Schultern und das gelbflimmernde Haar des „unseligen Weibes“ geschüttelt, sie standen auch jetzt in dem kleinen, von eisernen Kübelreifen eingeschnürten Fleckchen Erde vor dem thüringischen Schlosse, das Haupt fremd in die herbe, harzige Waldluft hebend. Zu ihren Füßen rauschten seidene Schleppen; keine süßen italischen Laute, wohl aber Wortpfeile, aus nichts entstehend und doch für einen Augenblick funkelnd und blitzend, flogen durch das dunkle Laub hin und wieder – fürstlich vornehme Conversation, in die [258] sich die weichen Klänge der Morgen- und Abendständchen mischten. Die Lichter des Himmels glitzerten in verlockenden Augen, in Brillanten und in den Fontainen wider – auf den Rasenflächen sprangen die isabellenfarbenen irischen Windspiele des fürstlichen Herrn, und hoch in den Lüften, von den alten Thurmzinnen herab, flatterten Freudenfahnen.

Der Fürst hatte schon am zweiten Tage das Neuenfelder Hüttenwerk besichtigt. Das Etablissement mit seinen mächtigen dampfenden Schloten, seinen neuen Häusern und dem Menschenschwarm, der auf und ab wogte, sah doch zu imposant herüber und hatte bereits einen zu großen Weltruf, als daß es sich noch hätte todtschweigen lassen.

Bei dieser Gelegenheit war auch der neue Besitzer dem Fürsten als Herr von Oliveira vorgestellt worden. Er hatte den hohen Herrn selbst durch das Etablissement geführt, und Serenissimus war bezaubert von dem schönen, distinguirten Mann, „der, mit seinem interessanten Ernst die eleganten Manieren des Cavaliers und Weltmannes so glücklich zu verbinden wußte.“ Es war selbstverständlich, daß sich Herr von Oliveira nun auch im weißen Schlosse Seiner Durchlaucht vorstellte, und es hatte ihm der Fürst selbst zu dem Zweck eine Stunde des nächstfolgenden Tages bezeichnet.

Es war zwei Uhr Nachmittags. Die Sonne hing sengend über dem Neuenfelder Thal, aber unter den Ulmen, die ihre Aeste über dem Gitterthor des Arnsberger Schloßgartens verschränkten, war es kühl und schattig – kühl auch wehte es aus den schnurgeraden Alleen herüber, und fern plätscherten die erfrischenden Wasser der Springbrunnen. Wohlige Lüfte lockten da drinnen, und doch blieb der Portugiese mit fahlbleichem Gesicht, tief Athem schöpfend, vor dem Gitter stehen, und seine Hand sank jäh vom Thürschloß herab, als habe es die ganze Glühhitze der Sonne eingesogen.

Die fahle Blässe wich auch nicht von dem schönen, braunen Antlitz des Mannes, als die Thorflügel kreischend hinter ihm zufielen, als sein Fuß einbog in die Allee, die direct nach dem Schlosse führte. … Flatterten die ruhelosen, abgeschiedenen Seelen unmenschlichern Schloßherren und sündiger Edelfrauen, mit denen der Volksglaube das weiße Schloß bevölkerte, auch bei hellem Tageslicht durch Gebüsch und Alleen? Der einsam dahinwandelnde Fremde sah seitwärts, als schreite ein Etwas neben ihm her, hoch und gewaltig, zu dem er aufblicken müsse – ein Etwas, das ihm schmerzhaft den Athem beklemme und seine Pulse fiebern mache. …

Am Portal standen plaudernd mehrere Lakaien – sie stoben bei Erblicken des Portugiesen verstummend auseinander und verbeugten sich bis zur Erde; ein unbeschreibliches Gemisch von Verachtung und Sarkasmus zuckte um den Mund des Mannes. Einer der Diener flog ihm sofort voraus, um ihn anzumelden – er führte ihn nicht nach dem Fremdenflügel; die Herrschaften hatten sich eben vom Gabelfrühstück erhoben, das in den Appartements der Baronin servirt worden war.

Die lange Zimmerreihe, die einst das Kind Gisela bewohnt, that sich auf. In einem großen Salon räumten eben mehrere Diener den Frühstückstisch ab, der in Silber und Krystall blitzte.

Die Füße des Portugiesen stießen an umhergestreute Champagnerpfropfen – er durfte demnach sicher voraussetzen, in angenehmer Stimmung empfangen zu werden.

Nun trat er in ein Zimmer, dessen Thüren und Fenster mit violettem Plüsch behangen waren – seine Augen glitten unwillkürlich in die Ofenecke – der Fremde, der Südamerikaner, konnte doch unmöglich wissen, daß dort vor Zeiten auf seidenem Kissen der einzige, zärtlich geliebte Freund der kleinen Gräfin Sturm, Puß, die weiße Angorakatze, ihr gehätscheltes Dasein verträumt hatte! … Jedenfalls war die eine der Fensternischen weit interessanter, als die öde Ofenecke dort unter dem weißen Spitzenstreifen hervor, welcher die Plüschgardine besäumte, bog sich der braune Lockenkopf der berühmt schönen fürstlichen Hofdame; sie hatte sich mit einem anderen jungen Mädchen plaudernd in die Nische zurückgezogen, und über Beider Gesichter floß eine jähe Röthe, als der Portugiese grüßend an ihnen vorüberschritt – vielleicht hatten die schönen Lippen eben noch von dem merkwürdigen Fremden geflüstert, der gleichsam im Sturme das hinter strengem Verschluß gehaltene Herz Serenissimi erobert hatte.

Der anmeldende Lakai kam aus dem anstoßenden Zimmer zurück und stellte sich mit einem tiefen Bückling seitwärts, um den Portugiesen eintreten zu lassen – seltsam, da stand die hohe Gestalt mit dem majestätisch getragenen Haupte wie gebannt vor der Schwelle – auf der Stirn erschien ein grellrother Streifen – diese merkwürdig gezeichnete Stirn, verbunden mit einem nervösen Aufzucken der Lippen, gab dem klassischen Profil für einen Moment ein fast diabolisches Gepräge. … Da drin fluthete ein zauberhaft grünes Licht und floß über weiße Marmorgruppen, und in einer Causeuse lehnte die schöne Excellenz im weißen Morgenkleide – ihr leicht und graciös aufgenommenes Haar fiel über das grüne Polster, und die schmalen Kinderhände spielten mechanisch mit einem prachtvollen Granatblüthenbouquet.

„Sonderbar!“ flüsterte die Hofdame erstaunt ihrer Nachbarin zu, als der Portugiese endlich, wie infolge eines plötzlichen, gewaltsamen Ruckes, hinter der Plüschportiere verschwunden war – „der Mann schauderte vor dem Seezimmer – ,er konnte nicht über die Schwelle kommen’, wie die Thüringer Hexengläubigen sagen – ich habe es deutlich gesehen!“

„Das ist leicht zu erklären!“ meinte die zarte, blasse Blondine. „Die gespensterhafte, grüne Beleuchtung da drin macht mir stets Schwindel – ich finde die Idee der koketten Gräfin Völdern entsetzlich!“

Die schöne, in die Causeuse zurückgelehnte Frau wußte jedenfalls den Grund für dieses „Festzaubern an die Schwelle“ am besten – sie lächelte, legte verwirrt ihr Bouquet auf den Tisch Mund erhob sich unwillkürlich.

Der Eintritt des Portugiesen unterbrach eine Art Disputation zwischen dem Fürsten, dem Minister, mehreren Herren des Gefolges und einigen Damen. Seine Durchlaucht stand vor einer der langen Wände des Zimmers und sprach lebhaft. Er begrüßte den Eingetretenen mit freundlichem Aufleuchten seiner kleinen grauen Augen und einem sehr gnädigen Handwinken.

„Mein lieber Herr von Oliveira,“ sagte er in liebenswürdig chevaleresker Weise, „nicht allein das reizvolle Ungebundensein des Landlebens, bei welchem ich gern einmal die strenge Etikette bei Seite lege, sondern auch die Rücksicht für Sie selbst bestimmt mich, Ihnen die erste Audienz gerade hier zu ertheilen. … Aber hüten Sie sich! Das Zimmer übt einen gefährlichen Zauber, und hier“ – er schwieg und zeigte bedeutungsvoll lächelnd auf die neben ihm stehende Damengruppe, zu der nun auch die Baronin getreten war.

„Durchlaucht, ich weiß, daß die Nixen ihre Getreuen zum Wassertode verurtheilen, und bin gewarnt!“ versetzte Oliveira.

Diese mit einem fast finsteren Ernst gegebene Antwort klang überraschend gegenüber der heiteren Stimmung des Fürsten – ja, sie hatte die Wirkung eines Messerstichs für die Baronin – ihr schönes Haupt fuhr jäh herum; sie erblaßte, und scheu lauernd streiften ihre Augen den Portugiesen, allein sein Blick berührte sie nicht, nur das Profil war ihr zugewendet, und das sah aus, wie in Stein gemeißelt.

„Das war so ernst gemeint, mein Herr,“ sagte eine ältere Dame, welche der Portugiese bereits gestern beim Besuch des Hüttenwerkes als Gräfin Schliersen kennen gelernt hatte, „daß ich mich fast versucht fühle, Ihnen den Fehdehandschuh hinzuwerfen, und zwar für meine kleinen Protégées dort“ – sie lächelte und deutete mit dem schlanken, weißen Finger nach der Hofdame und der ätherischen, blassen Blondine, die, angelockt durch den selten schönen Klang der fremden Männerstimme, auf die Schwelle getreten waren. Die zwei graciösen, leicht aufgebauten Mädchengestalten, im hellen, duftigen Morgenkleide und angehaucht von dem grünen Licht, hatten in diesem Augenblick etwas Unirdisches.

„Sie werden mir zugeben, mein Herr von Oliveira,“ fuhr die Gräfin fort, „daß das Seezimmer durch diese Erscheinungen an Charakter gewinnt … wie aber in aller Welt wollen Sie hinter den Kinderstirnen dort mörderische Absichten finden?“

„Ah bah!“ meinte der Fürst heiter, „darüber läßt sich nicht streiten – wer weiß, was für Erfahrungen Herr von Oliveira hinsichtlich böser Nixen an der Laguna dos Patos oder am Mirimsee gemacht hat! … Ich gestatte Ihnen keine Kriegserklärung, beste Gräfin, würde Ihnen aber sehr verbunden sein, wenn Sie Herrn von Oliveira mit den Damen bekannt machen wollten.“

Nun schwirrten eine Menge glänzender Namen an dem Ohr [259] des Portugiesen vorüber, und die reizenden Trägerinnen derselben, die ungeblendet und scheinbar zwanglos den Glanz auf der Menschheit Höhen umflatterten, geriethen fast in Verwirrung den dunklen Augen gegenüber, die sich bei der Vorstellung so ernst und kühl, so völlig unberührt von irgend einem äußeren Eindruck, auf ihr Gesicht hefteten. … Wie unfürstlich erschien Seine Durchlaucht mit der ängstlich gestreckten, militärischen Haltung und der spitzen, jäh zurücklaufenden, ausdruckslosen Stirn neben der machtvollen Erscheinung des Fremden, die fast aussah, als suche sie königliche Abkunft hinter möglichst leichten, ungezwungenen Bewegungen zu verbergen!

Die Baronin hatte wieder rothe Lippen und ein unbefangenes Lächeln, und als ihr Name genannt wurde, berief sie sich auf die neuliche Begegnung im Walde. Ihre biegsame Stimme klang fast melancholisch, als sie des erschossenen Hundes gedachte, – die schöne Excellenz konnte auch barmherzig aussehen. Die vier schwarzen Augen begegneten sich – auf der Stirn des Fremden loderte der rothe Streifen wie ein Feuermaal jäh auf, und die Augen sprühten in wilder Gluth – sie senkte die ihren erschauernd unter dem Ausbruch einer „so gewaltigen, niegesehenen Leidenschaft, die keines Wortes fähig war“.

Die raffinirte Kokette von Geist verbirgt ihre Befriedigung über die ersten Anzeichen eines neuen Sieges beinahe noch sorgfältiger, als das junge, verschämte Mädchen seine erste Liebe. … und so zog sich die schöne Excellenz fast bescheiden mit ihrem Triumph hinter die jüngeren Damen zurück, die ihr bei allem jugendlichen Liebreiz doch nicht mehr gefährlich werden konnten.

„Und nun will ich Ihnen eine Dame vorführen,“ sagte der Fürst zu dem Portugiesen, nachdem die Vorstellung beendet war. Er neigte das Haupt gegen ein Frauenportrait, das einzige an der Wand. „Sie ist und bleibt meine Protégée, obgleich diese wundervollen Formen längst die Erde deckt und mein fürstliches Haus eigentlich alle Ursache hat, mit ihr zu schmollen. … Indeß, sie war eben doch ein himmlisch schönes Weib, diese Gräfin Völdern! … Lorelei, entzückende Lorelei!“

Er hauchte einen Kuß auf Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und warf ihn mit einer graciösen Bewegung nach dem Bilde.

Diese Frau hatte in der That wahrhaft genial die dämonische Gewalt ihrer äußeren Erscheinung aufzufassen gewußt. … Der bestrickende Zauber der Wasserfluth, ihr schmeichelnd geheimnißvoller Zug, hinter welchem die Tücke lauert, der uns reizt, unwiderstehlich hinzieht und doch einen Angstschauer erweckt, er ging auch von dieser blendenden Gestalt aus – das Seezimmer und das Bild fanden ihren Ursprung in diesem Gedanken. … Ja, das war die Lorelei! Himmel und Wasser lösten sich fern, fern in einem grünlichen Duft – die Wogen spielten an das einsame Weib heran, und mit ihnen verschmolzen die Spitzen der gelösten Haarwellen – es sah aus, als ströme der Geist, das schauerlich schöne, ergreifende Element, die heranschwellenden Wasser, durch die goldenen Fäden und concentrire sich in dem Frauenkörper, der auf dem muschelbesäeten Strande im Vordergrund ruhte.

„Ich habe vorhin ein wenig den Hausherrn im weißen Schlosse gespielt und das Bild eigenmächtig hierher schaffen lassen,“ sagte der Fürst. „Diese Gewaltthat stößt auf energischen Widerspruch von Seiten der Damen – sie meinen, an die drapirten Wände gehöre kein Bild. … Mag es sein – ich gehe von der Ansicht aus, die Schöpferin dieses verführerischen Zimmers solle und dürfe im Bild nicht fehlen, und so wie es placirt’ ist, macht es sich auch ganz originell.“

Er trat einige Schritte zurück und betrachtete das Arrangement mit prüfendem Auge. Man hatte das Bild aus dem Rahmen genommen; das festgezauberte Stück Himmel und Wasserfläche umrauschten die grünen Seidenfalten – Seine Durchlaucht hatte Recht – gerade sie ließen die Gestalt des hingesunkenen Weibes, die ganze, köstliche Perspective des Hintergrundes gewaltig- und in wahrhaft, packender Wirkung hervortreten.

Serenissimus wandte sich lächelnd an den Portugiesen, während sein Blick noch an dem Gemälde hing.

„Nicht wahr, da begreift es sich leicht, daß ein Mann selbst in der Sterbestunde seine besten Vorsätze über diesen berückenden Augen vergessen konnte?“ fragte er.

„Ich bin außer Stande, mich in eine solche Lage zu versetzen, Durchlaucht, denn ich pflege meine Vorsätze durchzuführen,“ antwortete Oliveira gelassen.

Die kleinen grauen Augen Seiner Durchlaucht erweiterten sich vor Ueberraschung – diese feste, ungeschminkte Sprache schlug rauh an das verwöhnte Ohr, sie wies förmlich den verfeinerten, mit leiser Frivolität angehauchten Ton des fürstlichen Herrn zurück. Indeß, einem fremdländischen Sonderling, welcher Millionen commandirte, und der in Südamerika Besitzungen hatte, an Terrain zweimal so groß wie das ganze souveraine Fürstenthum – einem solchen Original durfte man schon etwas Nachsehen; auch stand ja der Mann, bei aller stolzen Würde seiner Haltung, doch ehrerbietig dem älteren Herrn und Fürsten gegenüber. Die unliebsame Ueberraschung aus dem Gesicht Seiner Durchlaucht verwandelte sich diesen Erwägungen zufolge in ein schalkhaftes Lächeln.

„Da hören Sie es, meine Damen!“ wandte er sich an seine schöne Umgebung. „Vielleicht machen Sie diese traurige Erfahrung zum ersten Mal– die Macht der schönen Augen ist nicht so unbegrenzt, wie Sie denken mögen. … Ich selbst bekenne mich nicht zu diesen unerbittlichen Herzen von Stahl und Eisen – ja, ich begreife sie nicht einmal – aber für mein fürstliches Haus wäre es doch von Vortheil gewesen, wenn mein Onkel Heinrich auf dem ehernen Standpunkt unseres edlen Portugiesen gestanden hätte – was meinen Sie, Baron Fleury?“

Der Minister, der bis dahin schweigend, mit verschränkten Armen neben dem Fürsten gestanden hatte, verzog die bleichen Lippen.

„Durchlaucht, es ist weltbekannt und bedarf wohl keines Beweises mehr, daß sich die guten Vorsätze des Prinzen Heinrich in seiner Sterbestunde lediglich auf die Versöhnung der Herzen, aber durchaus nicht auf ein Umstoßen seiner testamentarischen Verfügungen bezogen haben,“ versetzte er – eine schneidende Beimischung in seiner Stimme vermochte er nicht ganz zu unterdrücken. „Es ist ebenso weltbekannt, daß die Gräfin Völdern, einzig von einem unerklärlichen Ahnungsgefühl getrieben, in jener Nacht plötzlich den Maskenball verlassen hat, um eine Stunde darauf den fürstlichen Freund in ihren Armen verscheiden zu sehen – wer möchte ihn ganz wegleugnen, jenen geheimnißvollen Zug der Sympathie, der in dem Augenblick, wo sich der Geist losringt von der Erde, noch einmal aufglüht und die verwandte Seele gebieterisch zu sich verlangt! … Und zum Dritten ist es ebenso weltbekannt, daß der Prinz bis zum letzten Athemzug im vollen Besitz aller Geisteskräfte gewesen ist, daß die Gräfin während der letzten halben Stunde an seinem Bette gekniet hat und getreulich auf seine Idee, sich mit dem Hofe in A. aussöhnen zu wollen, eingegangen ist – sie war ja nicht eine Secunde allein mit ihm – Eschebach und Zweiflingen haben unerschütterlich bis zu seinem letzten Hauch neben dem Sterbebett des Prinzen gestanden. Er hat noch mit der Gräfin gesprochen, hat Ausdruck für den Schmerz der Trennung gefunden, aber seine Verfügungen hinsichtlich des Nachlasses hat er mit keiner Silbe berührt. … Ich freilich war in dem Irrthum, als ich nach A. ritt – ich glaubte –“

„Dem fürstlichen Hause die Erbschaft zuzuwenden,“ unterbrach und ergänzte der Fürst die erschöpfende Beweisführung. „Wie mögen Sie einen Scherz so tragisch nehmen, bester Fleury? … Würde ich wohl je der Gräfin den Zutritt an meinem Hofe wieder gestattet haben, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß nur ihre verführerischen Augen, nicht aber böswillige Einflüsterungen ihrerseits den Sieg über unsere Rechte davongetragen haben? … Ach was, lassen wir die alten unerquicklichen Geschichten ruhen! … Wie, Herr von Oliveira, beginnt der Zauber zu wirken? Sie haben während der ganzen vortrefflichen Vertheidigungsrede Seiner Excellenz die Sirene dort mit Ihren brennenden Augen fast verschlungen!“

Wäre Serenissimus minder unbefangen in seiner Beobachtung gewesen, so hätte ihm auch der Farbenwechsel auf dem Bronzegesicht des Portugiesen nicht entgehen können. Alle Nüancen zwischen der geisterhaften Blässe und der jähen Flammengluth der Empörung und des auflodernden Grimmes spielten, so lange der Minister sprach, über die braunen Wangen des Mannes hin.

„Ich erliege allerdings in diesem Augenblick einem Zauber,“ entgegnete er mit leicht vibrirender Stimme. „Haben Durchlaucht nie gehört, wie sich die kleinen Vögel verhalten, wenn sie in das Bereich der Schlange gerathen? … Sie erstarren vor der tödtlichen Feindin, die unter den glatten, schillernden Windungen ihres Leibes den teuflischen Verrath verbirgt.“

O mon Dieu, welch’ ein Vergleich!“ rief die Gräfin Schliersen. [260] „Mein Herr, Sie sind bereits verloren – Sie schmähten die Frau, weil – Sie unterliegen!“

Ein sardonischer Zug bebte um die Lippen des Portugiesen – er antwortete nicht.

„Hm – der Vergleich hat doch Grund und Boden,“ lächelte der Fürst. „Herr von Oliveira will sich um keinen Preis besiegen lassen – ich kann es ihm darum nicht verdenken, wenn er seine Niederlage mit dem unerklärlichen Schlangenzauber des Weibes entschuldigt.“ Er trat wieder an das Bild heran. „Ist es nicht ein wahrer Jammer, daß mit dieser Frau die ganze berühmte Schönheit der Völdern erlöschen mußte? … Eh, was macht denn das gelbe, verkrüppelte Geschöpfchen, die kleine Sturm?“ wandte er sich an den Minister.

„Gisela lebt nach wie vor in Greinsfeld, hat den Veitstanz schlimmer als je und erfüllt uns mit der lebhafteste Besorgniß,“ entgegnete Seine Excellenz. „Die Angst um dieses Kind ist der Schatten, der auf mein Leben fällt.“

„Gott, wie lange braucht doch das arme, unglückselige Wesen, um zu sterben!“ rief die Gräfin Schliersen. „Dies ganze erbärmliche, kleine Dasein ist für mich stets ein Problem gewesen. … Wie kamen die bildschönen Eltern zu diesem non plus ultra von Häßlichkeit? … Das heißt,“ setzte sie nach einem momentanen Nachsinnen hinzu. „ich habe merkwürdigerweise trotz alledem in der kleinen unschönen Physiognomie stets und immer wieder die Grundlinien jenes Kopfes finden müssen.“ Sie zeigte nach dem Bild der Gräfin Völdern.

„Welche Idee!“ rief der Fürst, förmlich beleidigt durch den Vergleich.

„Ich sage ja nur ‚die Grundlinien‘, Durchlaucht! Im Uebrigen fehlt selbstverständlich gerade alles das, was einst die Völdern so bezaubernd machte. Das Kind hatte nur einen einzigen Reiz – ein Paar schöner, ausdrucksvoller Rehaugen –“

„Gott bewahre mich, Frau Gräfin!“ fiel die Hofdame lebhaft, fast wie erschrocken ein – „Diese Augen waren schrecklich! … Ich habe als siebenjähriges Kind viel mit der kleinen Gräfin Sturm verkehren müssen – Mama wünschte gerade diesen Umgang sehr lebhaft für mich.“ Sie wandte sich schelmisch lächelnd an den Minister. „Excellenz, damals bin ich immer mit entschiedenem Widerwillen die Treppe im Ministerhotel hinausgestiegen. Ich alterirte mich stets über die kleine Person, die ängstlich mit den Händen nach mir stieß, wenn ich ihr nahe kam. Sie haßte Alles, was ich liebte, Eleganz, Kinderbälle und Puppenhochzeiten … Verzeihen Euer Excellenz, aber sie war das boshafteste Geschöpf, das mir je vorgekommen ist! … Ich erinnere mich, daß sie eines Tages ein Paar entzückender, kleiner Brillantohrringe, die Sie eben von Paris mitgebracht, an die Ohren ihrer Katze gehangen hatte.“

„Nun, das finde ich weniger boshaft, als originell!“ lachte die Gräfin Schliersen. „Ich vermuthe, sie ist nicht ohne Geist, die Kleine. … Apropos, wie wär’s denn, wenn man auf eine Stunde hinüberführe nach Greinsfeld und ihr einen Besuch machte? – Der Gräfin Sturm gegenüber könnte man sich schon zu einer solchen Artigkeit herbeilassen, und der armen Herbeck wäre es auch zu gönnen, daß sie wieder einmal ein Gesicht aus der Welt zu sehen bekäme.“

Die Baronin Fleury hatte sich bis dahin völlig passiv verhalten. Bei der Frage des Fürsten nach ihrer Stieftochter hatte sie das Bouquet ergriffen und ihr Gesicht in die geruchlosen Blüthen versenkt – jetzt aber fuhr sie empor.

„Um Gotteswillen, Leontine, daran ist nicht zu denken!“ rief sie abwehrend. „Mit diesem Besuch würde dem Medicinalrath ein Streich gespielt, den wir nie verantworten könnten! Er befürchtet gerade in diesen Tagen einen heftigen Ausbruch der Anfälle und bietet Alles auf, um jede, auch die geringste Gemüthsbewegung von der Patientin fern zu halten. … Und dann, Du hast ja eben gehört, wie eigensinnig Gisela schon als Kind war. Sie hat ein, ich möchte sagen, galliges Temperament, das selbstverständlich bei dem einsamen Leben, zu welchem sie verurtheilt ist, unmöglich milder und liebevoller werde konnte – die Herbeck leidet schwer unter dem maßlosen Eigensinn und den raffinirten kleine Bosheiten, in denen sich ein solches durch und durch verbittertes Gemüth bekanntlich sehr gefällt! … Fern sei es von mir, Gisela’s Charakter verdächtigen zu wollen – im Gegentheil – ist ein Mensch geneigt, sie zu entschuldigen, so bin ich’s – sie ist ja zu unglücklich! … Ich darf aber auch nicht zugeben daß meine Gäste unter irgend einer Unart in Greinsfeld zu leiden haben, und schließlich – ist mir doch auch dieses Kind viel zu theuer, als daß ich es mit seinem abstoßenden Leiden neugierigen Augen – entschuldige, liebste Leontine – ausgesetzt sehen möchte.“

Die Gräfin Schliersen biß sich auf die Lippen; Seine Durchlaucht aber schien nach dem sehr scharfen Ton, mit welchem die schöne Excellenz geschlossen hatte, ein Auseinanderplatzen der Geister zu befürchten. Er trat rasch zu Oliveira. In dem Augenblick, wo der Name der jungen Gräfin Sturm zum ersten Mal genannt worden war, hatte sich der Portugiese unbemerkt dem Fenster genähert; seine Augen schweiften unablässig über die Gegend, auch nicht ein einziges Mal wandte er den Kopf nach den Anwesenden zurück – vermuthlich langweilte er sich, und Serenissimus mochte wohl fühlen, daß es nicht gerade sehr aufmerksam sei, in Gegenwart eines Fremden Verhältnisse zum Gegenstand der Conversation zu machen, die auch nicht das allergeringste Interesse für ihn haben konnte.

„Sie fühlen Sehnsucht nach Ihrem kühlen, grünen Wald, nicht wahr, mein bester Herr von Oliveira?“ fragte er gütig. „Auch mir wird es nachgerade ein wenig schwül hier. … Gehen Sie, liebe Sontheim,“ rief er der Hofdame zu, „und holen Sie ihr bezauberndes, malvengeschmücktes Hütchen – wir gehen an den See!“

Die Damen verließen schleunigst das Zimmer, während die Herren im Nebenzimmer ihre Hüte suchten.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Besuch auf dem Kirchhofe zu Kissingen.


Der Kirchhof zu Kissingen, dem berühmte Badeorte in Baiern, welcher im Jahre 1866 der Schauplatz einer blutige Schlacht zwischen der preußischen Main-Armee und den Reichstruppen war, bildet eine der größte geschichtliche Merkwürdigkeiten, die jenes Kriegsjahr unseren Nachkommen hinterlassen hat. Dieser Kirchhof wird daher auch während der Badesaison täglich von den in Kissingen so zahlreich anwesenden Fremden besucht, namentlich schenken die Officiere demselben ihre besondere Aufmerksamkeit.

In der Schlacht bei Kissingen erzwang bekanntlich die preußische Main-Armee am 10. Juli 1866 den Uebergang über den Fluß, die fränkische Saale, welcher hier hartnäckig von einem Theil der bairischen Armee, unter Führung des Generallieutenants von Zoller, vertheidigt wurde. Es war ein unglücklicher Zufall, daß dieser heftige Zusammenstoß der beiden damals feindlichen Armeen in dem so schönen und berühmten Curort Kissingen stattfand, dessen große steinerne Gebäude und starke Brücke den Baiern eine besonders feste Position zur Vertheidigung darboten. Die Baiern hatten ihre Artillerie hinter der Saale aufgestellt und namentlich die über diesen Fluß führende Brücke befestigt, und es entspann sich über die Saale hinüber von beiden Theile mehrere Stunden lang eine heftige Kanonade, deren Spuren noch heute fast an allen Häusern dieser Gegend nur zu deutlich sichtbar sind. Viele der Häuser sind mit Kugeln gleichsam besät, und man hat es absichtlich unterlassen, die entstandenen Spuren wieder auszubessern.

Die Preußen umgingen endlich die Stellung der Baiern, indem sich ein Corps derselben unterhalb der Stadt Kissingen bei der Lindesmühle den Uebergang über die Saale verschaffte und die Baiern von hinten angriff, so daß dieselben, zumal sie die Besetzung einiger wichtiger Anhöhen unterlassen hatten, die Vertheidigung der steinerne Brücke aufgeben mußten. Nach einem hartnäckigen Straßen- und Barricadenkampf, in welchem fast jedes Haus einzeln erstürmt werden mußte und von Seiten der Baiern ebenso viel Hartnäckigkeit und Tapferkeit wie von Seiten der Preußen Geschick und Gewandtheit entwickelt wurde, mußten die Baiern endlich den Besitz der Stadt aufgeben.

[261] Der Kirchhof in Kissingen bildete den letzten festen Punkt der Stadt, welchen die Baiern noch mehrere Stunden lang mit der größten Energie zu vertheidigen suchten. Dieser Kirchhof liegt auf dem Wege nach Nüdlingen hin auf einer kleinen Anhöhe und ist mit hohen, sehr starken Mauern von Sandsteinquadern umgeben, deren Verteidigungsfähigkeit durch einen theilweise herumlaufenden Graben noch verstärkt wird.


Die Germania auf dem Kissinger Friedhofe.
Marmorstatue vom Bildhauer Arnold in Kissingen.


Am Eingang zum Kirchhof nach der Stadt hin befindet sich das starke steinerne Wohnhaus des Todtengräbers und eine ebenfalls starke steinerne Capelle. Der Kirchhofs bildet also eine förmliche kleine Festung. Hier hatte sich eine Compagnie des neunten bairischen Infanterieregiments, unter Führung des Hauptmanns Thoma, etwa vierhundert Mann stark, verschanzt, während auf den hinter dem Kirchhof belegenen Höhen sich der Rest der bairischen Arme mit der bairischen Artillerie aufgestellt hatte. Die Preußen erlitten bei dem Sturm auf diesen Kirchhof ungeheure Verluste, und erst nachdem ein Stück der Kirchhofsmauer eingerissen und die preußische Artillerie den Kirchhof mit Kartätschen und Granaten vollständig zu bestreichen im Stande war, gelang es, die Baiern aus solchem zu vertreiben und die bairische Armee nach Nüdlingen hin zurück zu drängen. Der bairische Hauptmann Thoma welcher mit großer Tapferkeit die Verteidigung geleitet hatte, fiel noch zuletzt, als er die Reste seiner muthigen Schaar bereits vom Kirchhof mittels einer Seitenthür zurückgezogen hatte und nochmals Halt machen ließ, um den Rückzug der anderen Theile der bairischen Armee zu decken. Ein Stein auf freiem Felde in der Nähe des Kirchhofs bezeichnet den Fleck, wo der Held gefallen. ist. Seinem Feldwebel wurde beim Hinaustreten aus dem Kirchhof der Kopf abgerissen. Noch heute sind an der Thür Spuren der betreffenden Kanonenkugel sichtbar. Der bairische General en chef von Zoller blieb nicht weit davon auf einer hinter dem Kirchhof beim Dorf Winkels belegenen Anhöhe durch einen Granatenschuß. Ein schlankes steinernes Kreuz giebt die verhängnisvolle Stelle an. Es führt folgende Umschrift, welche zum Theil durch einen verblaßten Kranz von Eichenblättern verdeckt wird: „Hier starb den Heldentod am 10. Juli 1866 der Generallieutenant Ossian von Zoller.“

Nicht weit davon fiel bei der siebenten Station des Passionsweges, welcher zu dem in jener Gegend belegenen Calvarien-Berge führt, der bairische Major Graf Ysenburg vom siebenten Jäger-Bataillon, als er seine Leute auf dem Streifzuge in einem Hohlwege sammeln wollte. Ein mit Epheu bewachsener Stein bezeichnet die Stätte feines Todes. Er war mit dem Hauptmann Thoma auf dem Kirchhof selbst zusammen in ein und dasselbe Grab gebettet worden, seine Leiche ist aber nach Ausweis des vom Todtengräber geführten amtlichen Journals später ausgegraben und nach München gebracht worden.

Die Preußen mußten an jenem Tage, um den Eingang zum Kirchhof zu erzwingen, namentlich gegen das Wohnhaus des Todtengräbers ihre Angriffe richten, ebenso wurde die Capelle des Friedhofes selbst stark beschossen. Dieses Wohnhaus ist von Tausenden von Kugeln getroffen und wäre wahrscheinlich vollständig zerstört worden, wäre es nicht durch einen großen Baum von seltener Stärke zum Theil gedeckt worden, welcher das Haus mit seinen breiten und dicken Zweigen beschattete und noch heute viele Kugelspuren zeigt. An der Kirchhofsmauer und am Todtengräberhause hat man sowohl im Innern als von Außen alle Spuren der Schlacht unversehrt erhalten und nur solche Ausbesserungen vorgenommen, die dringend notwendig waren. Noch heute sieht man die Bresche, welche die preußischen Füsiliere unter dem stärksten Kugelregen mit ihren Aexten in die Kirchhofsmauer gebrochen haben und vermittels deren die Preußen endlich in den Kirchhof eingedrungen sind. Einzelne Wände und Bilder des Wohnhauses sind noch förmlich mit Kugeln gespickt, viele Theile der Fensterbeschläge durch die Kugeln losgerissen und in die Wände hineingetrieben. Man gewinnt hier ein so lebhaftes Bild von dem stattgehabten Kampf, als wäre derselbe erst gestern geschehen. Eine besonders lebhafte Illustration der Schlacht vermag der Todtengräber selbst in seiner natürlichen ungekünstelten Redeweise zu liefern. Der arme Mann hatte sich bei der Rettung seiner Familie und seiner besten Habseligkeiten auf dem Kirchhof verspätet und wurde, als er sich endlich selbst hinwegbegeben wollte, so sehr mit Granaten und Kartätschen beschossen, daß er sich nur noch in die Capelle auf dem Kirchhof flüchten konnte. [262] Hier wurden bald alle Thüren und Fenster von den Kugeln zerbrochen und das Innere mit Kugeln bedeckt, so daß der geängstigte Mann auf allen Vieren von einem Pfeiler der Kirche zum andern kriechen mußte, um sich zu schützen. Beim endlichen Eindringen der Preußen gerieth er noch in Gefahr, zuletzt niedergehauen zu werden. An zweihundert Leichen bedeckten nach dem Gefecht den Kirchhof und dessen Umgegend, darunter verhältnißmäßig wenige Baiern, da die Preußen beim Angriffe gegen die von den Kirchhofsmauern geschützten Baiern viel mehr Leute verloren hatten als diese.

Die Mehrzahl dieser zahlreichen Leichen ist in drei große Gräber vertheilt worden. Eins derselben liegt auf freiem Felde, außerhalb des Kirchhofes, hart gegenüber der Seitenthür, durch welche sich die Reste der bairischen Besatzung gerettet haben. Es wird durch ein mit frischen Blumen besetztes Beet und durch drei einfache Holzkreuze provisorisch bezeichnet und enthält zweiundsechszig Leichen, darunter sechs Baiern mit zwei Officieren. Hier an dieser Stelle nun wird in nächster Zeit das Denkmal zu stehen kommen, welches zum Andenken an die Schlacht bei Kissingen errichtet wird. Dasselbe besteht aus einer kolossalen, in Marmor vom Bildhauer Arnold in Kissingen gearbeiteten Statue der Germania, die einen Palmzweig zur Erde senkt, dennoch aber durch den festen hoffnungsvollen Ausdruck ihres Antlitzes die Zuversicht ausdrücken soll, daß durch das vergossene Bruderblut Deutschlands Einigkeit und Größe werde begründet werden. Der Griff des Schwertes ist mit der Koppel fest umschlungen, zum Zeichen daß das Schwert in dieser Weise nicht wieder gezogen werden soll.

Ebenso wie hier bairische und preußische Krieger friedlich neben einander im Grabe ruhen, ebenso haben sich unter Leitung der Kissinger Behörden bairische und preußische Bestrebungen vereinigt, um die Kosten für dieses schöne Denkmal zu beschaffen.

Das zweite der gemeinschaftlichen Gräber befindet sich auf dem Kirchhofe selbst an der Mauer linker Hand, dicht bei der Capelle. Es führt die Inschrift: „Unser theurer Sohn August Becker, Musketier des 15. preußischen Infanterie-Regiments, 1. Bataillon, 4. Compagnie, ruht hier, mit ihm 35 Cameraden, welche am 10. Juli 1866 hier gefallen sind.“

Das dritte gemeinschaftliche Grab, ziemlich in der Mitte des Kirchhofs hergerichtet, wird durch einen einfachen Stein mit der Inschrift. „Provisorisches Grabmal der am 10. Juli 1866 Gefallenen“ bezeichnet. Hier ruhen an siebenzig Mann, darunter der Ober-Lieutenant Hoppe vom fünfzehnten bairischen Infanterie-Regiment und der Lieutenant Anton Weichselberger vom eilften bairischen Infanterie-Regiment, für welche noch zwei besondere schöne Denkmale von Sandstein errichtet sind. Namentlich das letztere dieser beiden, das einen umkränzten Baumstamm darstellt, zeichnet sich durch ein schönes Arrangement aus. Außerdem sind noch folgende Einzel-Gräber und Denkmale hervorzuheben: Ein Sarkophag von blauem Marmor, welcher, mit Helm und Schwert geschmückt, zum Andenken des Major Rohdewald errichtet ist. Er fiel an der Spitze des Lippe’schen Füsilier-Bataillons, welches hier verbündet mit den Preuße kämpfte. Eine schlanke vierkantige Bänke von Sandstein bezeichnet das gleichzeitige Grab von vier preußischen Kriegern. Die vier Seiten tragen folgende Inschriften: 1) Seconde-Lieutenant Brzozowski aus Potsdam, 2) Seconde-Lieutenant Rex aus Erfurt, 3) Feldwebel Schmidt aus Aschersleben, 4) Füsilier W. Schümann III., alle Vier vom sechsten westphälischen Infanterie-Regiment Nr. 55. Andere Denksteine haben nachstehende Inschriften. Uthmann, Lieutenant im zweiten Posen’schen Infanterie-Regiment Nr. 19; Georg Metze, Lieutenant August v. Zwehl, Hauptmann; Dewald aus Coblenz, einjähriger Freiwilliger desselben Regiments; Freiherr Reizenstein-Hartungs, Hauptmann im bairischen zwölften Infanterie-Regiment König Otto; Eduard Warnberg, Hauptmann vom eilften bairischen Infanterie-Regiment.

Außer dem bereits eben erwähnten Grafen Ysenburg sind noch andere Leichen, welche auf diesem Kirchhofe bestattet waren später ausgegraben und nach den betreffenden Heimathsorten gebracht worden: Freiherr von Griesenbeck, Hauptmann im ersten bairischen Infanterieregiment; Hauptmann Xalm von der vierten Compagnie des neunzehnten preußischen Infanterieregiments; Fähndrich Moyer von der zweiten Compagnie des fünfzehnten Infanterieregiments. Des Letzteren Stelle im Grabe hat nach Ausweis des Todtengräberjournals einer seiner Gegner, Johann Cast, Soldat vom neunten bairischen Infanterieregiment, der nach der Schlacht an seinen Wunden gestorben ist, eingenommen.

Auch zwei Zivilisten, welche, ohne zum Soldatenstande zu gehören, Opfer der Schlacht bei Kissingen geworden sind, liegen auf dem Kirchhofe begraben. Die Inschriften der einfachen hölzernen Kreuze, welche ihre Gräber bezeichnen, tragen dazu bei, um mit blutigen Zügen die Geschichte jenes Tages zu schreiben: „Der Apotheker Dejohez aus Westphalen wurde am 10. Juli 1866 in der Apotheke zu Kissingen während der Schlacht durch eine eingedrungene Granate getödtet.“ „Der Hausknecht Michael Hergenröther, welcher im Hotel de Russie in Kissingen diente, wurde am 10. Juli 1866 von den Preußen erschossen, als er fliehenden bairischen Soldaten den Weg zeigen wollte.“

Eine Reihe zerschossener Grabsteine, die an einer Mauer des Kirchhofes aufgeschichtet sind, beweist, daß an jenem verhängnißvollen Tage die Kugeln nicht nur unter den Lebenden und den Leichen, sondern auch sogar unter den Leichensteinen gewüthet haben. Eines auffälligen Umstandes müssen wir hier zum Schluß noch erwähnen. Das Andenken aller in der Schlacht bei Kissingen gefallenen Officiere, sowohl der bairischen als der preußischen, wird durch geschmackvolle Denkmäler, mindestens durch Sandsteinplatten mit vergoldeten Buchstaben, gefeiert. Nur eine einzige Ausnahme macht sich bemerklich. Auf einem halbverfallenen, mit einigen rohen Feldsteinen begrenzten Grabhügel findet sich ein einfaches von zwei rohen Holzstreifen gebildetes Kreuz mit folgender Inschrift: „v. Lüders, Hauptmann der siebenten Compagnie fünfundfünfzigsten preußischen Infanterieregiments.“ Unwillkürlich drängte sich beim Anblick dieser Stätte die Frage auf: Sollte es nicht möglich sein, ein besseres Denkmal für den Führer einer preußischen Compagnie, der hier an der Spitze seiner braven Soldaten den Heldentod fand, zu beschaffen? Hatte dieser Hauptmann von Lüders keinen Angehörigen hinterlassen, welcher sich berufen fand, sein Grab in einer würdigen Weise zu schmücken? Der Todtengräber versicherte uns, daß nach diesem Hauptmann von Lüders Niemand bei ihm geforscht habe. Nähere Recherchen, welche wir in Kissingen angestellt haben, ergaben, daß dem Hauptmann Lüders in der Schlacht bei Kissingen der Fuß zerschossen wurde. Er lag mehrere Wochen dort im Lazareth; sein Fuß wurde zwei Mal vergeblich amputirt, und er starb am 9. August 1866. An seiner Identität ist also nicht zu zweifeln. Kein Angehöriger folgte seinem Sarge. Mildthätige preußische Badegäste, die sich vereinzelt nach der Schlacht eingefunden hatten, schossen die geringen Kosten zusammen, welche entstanden waren, um den Grabhügel in seiner jetzigen prunklosen Gestalt herzustellen. Die Cameraden des Verstorbenen waren längst von Kissingen hinweg weiter in das Gewühl der Schlachten gezogen, ohne daß sie die Kunde von dem Begräbniß des gefallenen Führers erreicht hat. Vielleicht gelangen diese Zeilen zur Kenntniß des Truppentheils, welchem der Hauptmann von Lüders angehört hat. Ein Einwohner von Kissingen, der Zeuge der letzten Stunden des Verstorbenen war, berichtet uns, derselbe habe den Besuch seiner Braut erwartet, es ist aber Niemand gekommen, das frische Grab zu schmücken.

Wir verlassen hiermit den Kirchhof von Kissingen und drücken ein kleines Geldstück in die rauhe Hand des Todtengräbers, der so viele unserer tapferen Landsleute hat beerdigen müssen, die ihm die Beerdigungsgebühren lediglich mit den Kugeln bezahlt haben, welche von ihnen in sein stilles, friedliches Wohnhaus gesendet worden sind. Ehe wir aber schließen, müssen wir unsere Leser noch nach einem zweiten, weit entfernt vom Schlachtfelde in Kissingen belegenen Kirchhof, nach dem Friedhof der jüdischen Gemeinde daselbst führen. Dieser liegt in einem ganz anderen Thal, am Fuß der Bodenlauber Ruine, in jener Gegend, wo am 10. Juli 1866 eine preußische Heeresabtheilung sich heimlich einen Uebergang über die Saale bahnte und, indem sie die Unachtsamkeit und Unerfahrenheit des Feindes geschickt benutzte, die feste Stellung der bairischen Armee umschlich und solche zum Weichen brachte. Jüdische Gräber sollen nach den Gebräuche des mosaischen Cultus mit Gras bewachsen und mit einfachen Steinen ohne Unterschied des Standes und Vermögens der Gestorbenen versehen sein. Während der christliche Kirchhof in Kissingen mit kostbaren und schönen Denkmälern fast überladen ist, liegt der Juden-Kirchhof öde und prunklos, anscheinend der Vergessenheit preisgegeben. Kaum unterscheidet eine dürftige Mauer die Grenzen des Kirchhofs von den umliegenden Hopfenfeldern, welche das bairische Bier [263] jener Gegend so reichlich würzen. Nur ein einziges Denkmal ragt unter den niedrigen, gleichförmigen Grabsteinen hervor, die mit unlesbarer hebräischer Schrift versehen sind. Dasselbe besteht aus einem mächtigen Felsblock, welcher mit einem Helm gekrönt und von einem Kriegermantel zum Theil eingehüllt wird. Hier ruht der einzige jüdische Officier, welcher in der Schlacht bei Kissingen gefallen ist und auch im Tode den Gebräuchen seiner Kirche treu blieb, so daß ihm hier eine von seinen Helden-Cameraden weit entfernte einsame Ruhestätte bereitet wurde. Folgende deutsche Inschrift bietet einen beredten Commentar zu den traurigen Ereignissen jenes Tages und erfüllt uns mit traurigen Gedanken, so daß wir still und nachdenkend diese Stätte des Friedens verlassen, von welcher sich uns noch einmal ein überraschend schöner Anblick auf die Stadt Kissingen selbst und das ganze Schlachtfeld vom 10. Juli 1866 darbietet:

„Jakob Michälis, Lieutenant im fünfzehnten und fünfundfünfzigsten preußischen Infanterie-Regiment, geboren den 13. Februar 1842 in Niehein in Westphalen, kämpfte mit Auszeichnung im Schleswig-Holsteinischen Kriege vor Düppel und Alsen. Er wurde am 10. Juli 1866 tödtlich verwundet, als er nach Einnahme der Stadt Kissingen edelmüthig die Lazarethe vor Feindes und Freundes Wuth schützte. Ehre seinem Andenken! Friede seiner Asche!“

St.     




Der Leopard von Orleans.
Von L. Lungershausen.

Bekanntlich machte die Jacobinerpartei, im Verein mit den sogenannten Orleanisten am 10. März 1793 einen Versuch, sich der verhaßten Girondisten durch Meuchelmord zu entledigen. Dieses Attentat auf die Volksvertretung scheiterte an der Festigkeit des Kriegsministers Beurnonville und einem inzwischen hereingebrochenen Platzregen, und da vorauszusetzen war, daß das nichtswürdige Treiben der Septembermörder, Fournier und Genossen, namentlich in den größeren, durch gemäßigte Magistrate verwalteten Provinzialstädten einen gerechtem Unwillen hervorrufen würde, so beeilte sich die Bergpartei des Convents, dem wachsenden Einfluß der Girondisten daselbst entgegenzuarbeiten. Hauptsächlich dienten ihren Zwecken die meist aus ihrer Mitte gewählten Conventscommissare, welche man in die entfernten Provinzen sandte, um dort die Ausführung gegebener Gesetze zu überwachen. Während sich die Girondisten mit ihren Triumphen auf der Tribüne begnügten und in argloser Verblendung fast immer unterließen, durch Männer ihrer Partei im übrigen Frankreich sich mehr und mehr Anhänger zu erwerben, entwickelte jene eine rastlose Thätigkeit, den jacobinischen Eifer wachzurufen und „den Schrecken an die Tagesordnung“ zu bringen.

Mit solcher Sendung nach dem Jura wurden Mitte März auch die beiden Conventsdeputirten Prost und Léonard Bourdon betraut, die – am 15. März – auf der Durchreise in Orleans eintrafen.

Léonard Bourdon, aus Orleans gebürtig und vordem Leiter eines Knabeninstituts, begann, mit Leib und Seele Jacobiner, seine politische Laufbahn als Municipalofficier von Paris, in welcher Eigenschaft er durch stille Theilnahme und Begünstigung der Versailler Mordscene sich mit Schmach bedeckte, und trat, vom Loiret gewählt, in den Convent, wo er auf der „Spitze des Berges“ seinen Platz nahm.

Die Ankunft dieses bekannten Conventsmitgliedes in seiner Vaterstadt wurde natürlich von den dortigen Anhängern seiner Partei mit Freude begrüßt, und am anderen Tage vereinigte ein Mittagsessen alle tonangebenden Mitglieder der Jacobinergesellschaft von Orleans. Der reichliche Genuß der feinsten Weine konnte nicht verfehlen, bald alle Gäste in erregte Stimmung zu versetzen, die noch erhöht wurde durch stürmische Toaste auf die einige untheilbare Republik und den Convent. Nach beendigtem Mahle begab sich die mehr oder weniger berauschte Tischgesellschaft in ein Kaffeehaus, das den gewöhnlichen Sammelplatz der reichen, girondistisch gesinnten Bürgerschaft bildete. Schon hier entspann sich ein Streit, der zwar beigelegt wurde, aber doch auf die folgenden Ereignisse nicht ohne Einfluß blieb. Nachdem Bourdon von da aus noch der „Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit“ einen Besuch gemacht und eine Rede, gewürzt mit Ausfällen gegen die politische Lauheit der „reichen Bürger“, gehalten hatte, führte ihn der Heimweg spät am Abend an der im Stadthause befindlichen Hauptwache der Nationalgarde vorüber, die gerade von einer Anzahl „reicher Bürger“ besetzt war.

Einer seiner Begleiter, die aus den exaltirtesten Jacobinern bestanden, beleidigte die Schildwache, woraus durch das Herzueilen der übrigen Wachtmannschaft ein Tumult entstand, in dessen Wirren der Volksrepräsentant sieben Bajonnetstiche erhielt, von denen nur einer ihm eine leichte Wunde am Arme verursachte.

Ein zu Rathe gezogener Chirurg erklärte die Verletzung für ungefährlich und legte einen Verband an, bei welcher Manipulation der Verwundete in die Worte ausbrach: „Du siehst diesen kleinen Aderlaß, er kann nur durch einen großen geheilt werden; ich werde fünfundzwanzig orleanische Köpfe auf’s Schaffot rollen lassen oder ich will meinen Namen verlieren, so wahr ich Léonard Bourdon heiße.“ Und was er da im heftigen Zorn ausgesprochen, hat er annähernd gehalten!

Während die über solchen Vorfall höchst erschrockenen Behörden von Orleans sofort – am 17. März – die Untersuchung einleiteten, erließ Bourdon ein Sendschreiben an den Convent, aus welchem das Bemühen ersichtlich wird, der an sich unbedeutenden Sache ein möglichst großes Gewicht beizulegen.

Es heißt darin: „Neue Pâris“ – ein Mann Namens Pâris hatte kurz vorher den Conventsdeputirten Lepelletier ermordet – „dreißig an der Zahl, mit Bajonneten und Pistolen bewaffnet, haben mich in der Halle des Stadthauses mit dem Rufe ‚folge Lepelletier nach!‘ verwundet. Keine meiner Wunden ist gefährlich, mein bis an’s Kinn geknöpfter Ueberrock und mein Hut, den ich in die Stirn gedrückt hatte, verhinderten die Bajonnete tief einzudringen … Es ist süß, Märtyrer der Freiheit zu sein, ich bin stolz auf die Wunden, die ich in ihrem Dienste empfangen habe.“

Der Convent, der diese einem seiner Mitglieder zugefügte Beleidigung als gegen sich selbst gerichtet betrachtete, ergriff auf Andrängen der Bergpartei sofort die strengsten Maßregeln gegen die anscheinend aufrührerische Stadt. Die der gemäßigten Partei angehörenden Behörden wurden ihrer Pflicht enthoben, Bürgermeister und Staatsanwalt sogar in Haft gesetzt, die Nationalgarde, welche am Tage des Attentats die Wache hatte, entwaffnet, während der Justizminister den Befehl erhielt, die Schuldigen aufzusuchen, um sie dem Revolutionstribunal zu überliefern. Die ganze Stadt wurde in Belagerungszustand erklärt und einem Jacobinercomité die Verwaltung derselben übertragen. Sechsundzwanzig Einwohner Orleans’, sämmtlich Tags vorher als Nationalgarden im Dienst, wurden als des Attentats verdächtig bezeichnet, doch fanden dreizehn derselben vorher Gelegenheit, sich noch rechtzeitig durch die Flucht dem Arme der Gerechtigkeit zu entziehen.

Am 26. Juni desselben Jahres erschienen die dreizehn Angeklagten vor dem Revolutionstribunal. Präsident desselben war Montané, als Richter fungirten Roussillon und Foucault nebst zwei Beisitzern, Staatsanwalt war Fouquier–Tinville. Die Anklage, wonach Orleans schon seit Mitte des vorigen Jahres der Heerd einer gegen die Sicherheit der Republik gerichteten Verschwörung sein sollte, fußt im Uebrigen ganz auf den übertriebenen Angaben Bourdon’s. Da man, so lange Montané das Gerichtsverfahren leitete, noch auf Aufrechthaltung der gesetzlichen Form bedacht war und über Tod und Leben von fünfzig Angeklagten noch nicht in einer Stunde entschied, so nahmen die Verhandlungen über diese Sache vierzehn Sitzungen in Anspruch, wobei man nahe an zweihundert Zeugen abhörte. Durch die Aussagen der letzteren stellte sich ziemlich klar heraus, daß gerade der Theil der Beschuldigten, welcher vor dem Revolutionstribunal erschienen war, der am meisten schuldlose sei. Einige davon behaupteten sogar, weder am verhängnißvollen Abende, noch früher jemals Bourdon gesehen zu haben, ohne daß es den Richtern möglich war, ihnen durch Zeugen das Gegentheil zu beweisen. Trotzdem hielt Fouquier gegen Alle die Anklage aufrecht.

[264] Wider alle Gesetze der Gerechtigkeit und Humanität lautete der Ausspruch der Geschworenen mit einer Stimme Majorität auf schuldig bezüglich der Bürger Couet, Buiffot, Duvivier, Jacquet, Poussot Quenel, Nonneville, Montcourt und de la Salle; die Bürger Johanneton, Grenon, Thomain und Gomboult wurden freigesprochen.

Bei der Verlesung des Verdicts warfen sich die Verurtheilten auf die Kniee und hoben die Hände gen Himmel, nochmals laut ihre Unschuld betheuernd. Diese herzzerreißende Scene verfehlte nicht, eine große Wirkung auf das Publicum zu äußern, der Schmerz malte sich auf allen Gesichtern und selbst ein Theil der Richter, die nun in Thätigkeit zu treten hatten, blieb von der allgemeinen Bewegung nicht frei.

Als zwei Jahre später das Personal des Revolutionstribunals selbst vor den Schranken stand und es galt, gegen Fouquier-Tinville, Foucault und Genossen Beweise ihrer barbarischen Handlungsweise vorzubringen, fand auch die Geschichte der Verurtheilung der neun Einwohner von Orleans in der Anklageacte ihren Platz. Montané, als Zeuge in diesem Processe, enthüllt uns dabei, was nach der oben erzählten rührenden Scene im Sessionszimmer der Richter vorging. Er sagt darüber:

„Wir zogen uns in’s Berathungszimmer der Richter zurück. Wir schmolzen in Thränen und wußten nicht, welcher Weg hier einzuschlagen sei. ‚Sollen wir‘ – sagten wir untereinander – ‚in den Convent gehen und vor seinen Augen das schreckliche Gemälde entrollen, dessen Zeugen wir so eben gewesen sind?‘ Masson, ein Hilfsrichter, sagte: ‚Deportiren wir sie!‘ (Bis zum 22. Prairial II gab es noch Deportationsstrafe, von da ab nur Todesstrafe.) Foucault sprach: ‚Sie haben einen Mordversuch gemacht, sie sind des Todes schuldig!‘ Wir gingen in den Sitzungssaal zurück, die Zuhörer fanden wir gleich uns in Thränen. Ich stellte dem Publicum vor, daß die Erklärung der Jury bejahend gewesen sei und daß wir nicht anders gekonnt hätten, als die Todesstrafe auszusprechen. So starben die Opfer Léonard Bourdon’s, die in seinen Augen sehr schuldig sein mußten, weil sie sehr reich waren.“ Soweit Montané.

Das Urtheil lautete auf Todesstrafe und zwar sollten sie dieselbe mit dem rothen Hemd der Mörder bekleidet erdulden. Die Execution wurde auf den folgenden Tag festgesetzt. Am Morgen desselben thaten die Verwandten der Verurtheilten einen letzten Schritt, um das Fürchterliche abzuwenden. Durch den derzeitigen Präsidenten Jean-Bon St. André ließen sie den Convent bitten, eine Petition von ihnen entgegenzunehmen. Nachdem man solches zugestanden, erschien eine Anzahl weinender, tiefgebeugter Frauen, von einem Manne begleitet, vor „den Schranken der Bittsteller“. Die Rufe: „Gnade, Gnade!“ tönten durch den Saal, und der Begleiter der Frauen, der den Sprecher machte, wandte sich mit folgenden Worten an die Versammlung:

„Man führt unsere Väter, Brüder und Kinder zum Schaffot. Einer der Verurtheilten ist Vater von neunzehn Kindern, von denen vier bei den Armeen sind. Léonard Bourdon selbst“ – sagte er, sich gegen denselben hinwendend – „wird edelmüthig genug sein und sich mit uns vereinigen, um die Unschuld unserer unglücklichen Verwandten darzuthun.“

Da indessen Léonard Bourdon die armen Bittsteller keiner Antwort würdigte und die Girondisten, die einzigen, welche vielleicht für die Unglücklichen in die Schranken getreten wären, sich entweder auf der Flucht oder im Gefängniß befanden, so trug man auf „Tagesordnung“ an, während die letzten Rufe um Gnade ungehört verhallten. Als das Wort „Uebergang zur Tagesordnung“ zu den Ohren der Bittsteller drang, stürzten sie zur Erde nieder und stammelten unverständliche Worte (Moniteur 15. Juli 1793!). Der oben erwähnte Sprecher bat den Convent, sich dann wenigstens für seinen Vetter, einen ehrwürdigen Familienvater, opfern zu dürfen.

Ein Conventsmitglied – der Moniteur nennt seinen Namen nicht – machte der peinlichen Scene mit folgenden Worten ein Ende: „Wir dürfen nicht vergessen, was wir der Volksvertretung und der Gerechtigkeit schuldig sind, beide gleich stark verletzt in der Person eines unserer Mitglieder, welches das erhabene Amt eines Volksvertreters ausübte. Ich trage nochmals auf ‚Tagesordnung‘ an.“

Der Präsident ließ die Frauen und ihren Begleiter durch die Saaldiener hinausführen.

Spät am Nachmittag wurde das Urtheil an den mit rothen Hemden angetanen neun Opfern vollstreckt. Kaum hatte sich die Menge verlaufen, die solchem Schauspiele gern beizuwohnen pflegte, als Paris durch die Nachricht eines neuen, aber diesmal tragischen Mordanfalls auf einen Volksrepräsentanten in Aufregung versetzt wurde. Es war ja der 13. Juli 1793, an welchem Tage, Abends siebenundeinhalb Uhr, Charlotte Corday den „Volksfreund“ Marat mittels eines gutgeführten Messerstichs vom Leben zum Tode beförderte.

Léonard Bourdon hatte recht prophezeit: er verlor seinen Namen nicht, ja, er bekam seit der Zeit einen neuen, indem er wegen seiner Grausamkeit „Léopard Bourdon“ oder gewöhnlich „der Leopard von Orleans“ genannt wurde.

Im Convent vertrat er förderhin die exaltirtesten Ideen, ohne eigentlich zu den Leitern der Partei zu gehören. Bis kurz vor dem 9. Thermidor Robespierre blind ergeben, stellte er sich nur deshalb auf die Seite der Gegenpartei und entwickelte beim Sturz des „Unbestechlichen“ eine eines Feldherrn würdige Energie, weil er in Erfahrung gebracht hatte, daß er von Jenem mit der Bezeichnung „verachteter Mensch von unanständigen Sitten und rohem Betragen“ auf die Proscriptionsliste gesetzt worden sei. Daß die Sieger vom 9. Thermidor gezwungen wurden, in mildere Bahnen einzulenken, betrübte unseren Schreckensmann sehr und ließ ihn mehrfach an Versuchen theilnehmen, die Verfassung von 1793 wiederherzustellen, was zu einem Deportationsdecret nach Cayenne gegen ihn Veranlassung gab, dem er nur durch die Amnestie vom 4. Brumaire III entging.

Später kam „der Leopard“ in den Rath der Fünfhundert, verlor jedoch nun, als die „bezahlten Schnurrbärte der Schlachtfelder“, wie Schlosser in der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts sagt, die Geschicke Frankreichs entschieden, viel von seiner alten Wildheit, ließ sich sogar von den Directoren zu wenig ehrenvollen Spionsdiensten gegen die Emigranten in Hamburg gebrauchen. Unter Napoleon wurde er politisch völlig bedeutungslos und übernahm sein Erziehungsinstitut wieder. Hierbei führte er ein so stilles Leben, daß ihn einige seiner Biographen schon vor 1805 sterben lassen. Dem war aber nicht so.

Nach der Uebergabe von Breslau an die Franzosen – den 7. Januar 1807 – wurde daselbst ein französisches Lazareth errichtet, und eins der ersten Opfer, welche das damals herrschende Nervenfieber forderte, war ein Unterbeamter desselben. Die französische Verlustliste nennt uns seinen Namen: Léonard Bourdon, Lazarethbeamter. Dieser Posten war die einzige Gunstbezeigung, die er vom allgewaltigen Corsen hatte erlangen können und die ihm dieser gewiß nicht ohne einen Anflug von Ironie verliehen hatte.

Ob man seiner letzten Ruhestätte auf einem der Breslauer Kirchhöfe dieselbe Aufmerksamkeit erwiesen, wie der seines gleichfalls in deutscher Erde (in Magdeburg) ruhenden alten Conventscollegen Carnot, weiß ich nicht. Höchst wahrscheinlich kennt Niemand unter den „Breslauer Franzosengräbern“ dasjenige, welches die sterblichen Reste des blutdürstigen Volkstribunen birgt.




Oesterreichische Berühmtheiten.
Von Sigmund Kolisch.
3.0 Ein Minister ohne Portefeuille.

Bevor der Windstoß von 1848 die Verhältnisse bis zur Unkenntlichkeit durch einander geschüttelt, gab es zwei literarische Kaffeehäuser in Wien, das eine bei „Renner“ in der „Seilergasse“, das andere bei „Geringer“ auf dem „Bauernmarkt“. Dort kamen die gemachten Dichter und Schriftsteller zusammen. Lenau und Wittauer, der Redacteur der „Wiener Zeitschrift“, spielten Billard, Bauernfeld und Castelli spielten Karten; noch Andere rauchten, plauderten und tranken Kaffee. Hier versammelten sich

[265] die Emporstrebenden, Neulinge auf der dornenvollen Bahn, die, von jugendlichen Träumen und Hoffnungen gewiegt, weder um das Gestern noch um das Morgen sich kümmerten: Moritz Hartmann, Joseph Rank, Isidor Heller, Johannes Nordmann, der Verfasser dieser Skizzen, und noch viele Andere. Hier ging es lebendiger und geräuschvoller zu, als in der vornehmen Gesellschaft bei Neuner. Schnurren und Witze aller Art wurden zum Besten gegeben. Man lachte, man besprach mit Eifer die Vorgänge des Tages, von denen man durch die Augsburger Allgemeine Zeitung in Kenntniß gesetzt wurde, man hörte, man pries; die verschiedenen Meinungen und Ansichten geriethen oft heftig an einander, ohne daß jedoch durch den Streit die Annehmlichkeit des persönlichen Verkehrs beeinträchtigt worden wäre.

Zu diesem letztern Kreise zählte auch der gegenwärtige österreichische Minister Johann Nepomuk Berger, der, obgleich mit seinen juristischen Studien und Arbeiten beschäftigt, unschuldige Schriftstellerei in Versen und in Prosa trieb, wie sie unter der mütterlichen Fürsorge der österreichischen Censur möglich war. Kleine und größere Aufsätze, Sinngedichte und sogar lyrische Ergüsse für Saphir’s Humoristen und für Frankl’s Sonntagsblätter verfaßte der nachmalige Redner, dessen Hauptvorzug in der schneidenden Schärfe seiner Dialektik, in der ätzenden Kraft seiner Witze und Sarkasmen besteht. Ja, bissig und sarkastisch ist Dr. Berger von jeher gewesen bis zur Härte, bis zur Schroffheit, und der arme Isidor Heller mit seinen Citaten und Denksprüchen hatte damals bei Geringer von dem kaustischen Cameraden gerade so viel zu leiden, wie später Herr von Schmerling, der Minister ohne Thatkraft, ohne einen politischen Gedanken, der, zum Aufbau eines freien Staates berufen, nichts grimmiger haßte und verfolgte, als den unabhängigen Sinn, die männliche Würde, die Selbstständigkeit des Bürgers. Ich erinnere mich, daß Berger einmal dem bestürzten Isidor, der die üble Gewohnheit hatte, bei jeder Gelegenheit Stellen aus Börne’s Schriften anzuführen, halb zornig und halb höhnisch die Worte zurief: „So lange werden Sie Börne citiren, bis Sie werden sein selber börnirt“, und schallendes Gelächter brach in der Kaffeehausgesellschaft aus, wie nachmals bei ähnlichen Ausfällen im Reichsrath. Es ist viel Galle in Berger’s Humor, die frühen Kämpfe mit den Erdengeschicken, die Sorge und Arbeit des Knaben um das tägliche Brod haben eine Bitterkeit erzeugt, welche alle Befriedigungen durch die Gunst des Schicksals überdauert.

Der Sohn eines Liechtenstein’schen Beamten in Nieder-Oesterreich, der frühzeitig starb und seine Familie in großer Bedrängniß zurückließ, verlebte Berger eine sehr traurige und entbehrungsreiche Jugend. Nachdem er in Folge seines Fleißes und seiner Fortschritte eine Hauslehrerstelle in Olmütz bekleidet, die ihm indeß sehr wenig zusagte, gelang es ihm endlich zur Fortsetzung seiner Studien nach Wien gehen zu können. Obgleich Neigung und Talent ihn auf das Gebiet der mathematischen Wissenschaften wiesen, drängten Nützlichkeitsrücksichten und praktische Gründe schwerwiegender Art ihn in die juridische Laufbahn. Der bekannte Astronom Littrow gab durch eine Bemerkung den Ausschlag, die er dem Verlangen des jungen Mathematikers nach einer Verwendung entgegensetzte. „Es giebt nur wenige Sternwarten und sehr viele Gerichtssäle in der Welt,“ lautete die wohlmeinende Ermahnung, und Berger ließ sich’s gesagt sein. Zu seinem Vortheil, wenn auch mit Widerstreben, nahm er Dienste bei der verrufenen Frau mit den verbundenen Augen, mit der Wage in der Hand. Und die Patronin hat sich seiner gnädig angenommen, ihn mit Ruhm und Gütern gesegnet und zuletzt zur Stellung eines Ministers emporgetragen. Was kann der Ehrgeiz des Herrn Berger Höheres suchen? Doch halt! einen Orden hat er auch, der Demokrat einen Orden, der ihm das Recht auf den Adelstand giebt. Es kostet ihn ein Wort, und er kann rufen, wie der Bankier in der Komödie: „Ich bin geadelt!“

Von den literarischen Anfängen des Ministers ohne Portefeuille läßt sich nicht viel Schmeichelhaftes sagen. Die Aufsätze, welche vor der Märzbewegung mit dem angenommenen Namen „Sternau“ unterzeichnet waren, lassen auch nicht einen Zug des Parlaments- und Gerichtsredners von Bedeutung errathen. Kindisches Geschwätz, ohne Stil, ohne Geschmack, ohne Klarheit – Floskeln, die anmaßend auftreten und ihre Sinnlosigkeit hinter dem prunkenden Getöne zu verbergen suchen – Anhäufung von Redefiguren, die man in Oesterreich von jeher als die Grundbedingung einer schönen Schreibart angesehen und von der sich auch jetzt noch nicht alle hiesigen Schriftsteller befreit haben. Um die schöngeistige Fähigkeit unseres Ministers zu charakterisiren, wollen wir einen einzigen Satz aus dem Artikel „Wahrheit, Schönheit, Freiheit“ anführen, den Sedlnitzky’s Polizei gestrichen hatte und der trotzig mit dem Zeugniß seines Märtyrerthums der Oeffentlichkeit sich vorstellte, als die alte Regierungsmaschine unter dem Fußtritt der akademischen Legion zerbrach.

„Wahrheit, Schönheit, Freiheit,“ schrieb Berger, „die göttlichen Gaben der Menschheit, das Angebinde ihrer rosigen Wiege, sie gingen unter“ etc. etc. Dergleichen findet sich fast in jeder Zeile der wunderlichen Auslassung. Da es nicht vorkommt, daß aus einem Flaum über Nacht ein Bart wird, so leuchtet ein, daß Berger seine Phrasenseligkeit in den neuen Zeitabschnitt mit hinüber nahm. Alles, was er in den ersten Tagen nach dem Ausbruch der Bewegung schrieb, wie: Die zehn Gebote des constitutionellen Staatsbürgers, die Zeitungsartikel und Flugblätter, tragen unverkennbar das Gepräge der Unmündigkeit an sich, in welcher eine väterliche Regierung den beschränkten Unterthanenverstand zu erhalten gewußt hatte. Ein umnachtetes Auge muß sich an’s Licht gewöhnen, um zu sehen; eine gebundene Kraft muß sich an die Freiheit gewöhnen, um zu wirken.

Berger ist ein schlagender Beweis, wie viel der systematisch durchgeführte Geistesdruck an einem Menschen niederhält und zerstört und welchen Vandalismus eine Metternich’sche Regierungsweise im geistigen Leben einer Nation verübt. Wenige Monate der freien Bewegung haben in Berger Anlagen und Fähigkeiten geweckt, die sicher fortgeschlummert hätten in der Spitalluft, wie sie in Oesterreich vor 1848 wehte. So kam es, daß er, von Schönberg zum Reichstagsabgeordneten gewählt, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main seine Mann stellte und sich bei allen Parteien eine gewisse Geltung erwarb. Laube, der in seinem Buche über „das erste deutsche Parlament“ Alle, die zur Linken gehören, ohne Unterschied des Alters, der Abstammung, der Aufrichtigkeit, mit seinem kritischen Krummsäbel niedermacht oder wenigstes bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, vergleicht Berger, „den magern jungen Oesterreicher, den cynischen trockenen Logiker, den logischen Fanatiker“, mit Saint Just. Nun, ich gestehe, daß der Widersacher dem Opfer zu viel Ehre erweist. Die unbeugsame Mannheit des Franzosen überragt um viele, viele Kopflängen die des österreichischen Advocaten. Berger hätte schwerlich, wie Saint Just dem Nationalheer bei Charleroi und Fleurus, die Fahnen zum Siege vorangetragen. Und Saint Just hätte sich schwerlich zum Minister ohne Portefeuille von Herrn von Beust neben Herrn von Taaffe ernennen lassen und würde schwerlich, wenn er den 9. Thermidor, den 4. Prairial und andere Unglückstage der Freiheit überlebt hätte, von Napoleon oder Ludwig dem Achtzehnten einen Orden angeommen haben. Dies im Vorbeigehen zur Herstellung der Richtigkeit in einem unglücklichen Vergleich.

Dem Club angehörend, der im Donnersberg sich versammelte, stimmte und sprach Berger für durchgreifende Maßregeln, vor welchen die gemäßigte Mehrheit der deutschen Nationalversammlung wie vor dem Entsetzlichsten zurückschreckte. Zu den Entschiedensten und Radicalsten stand Berger in dem Streite, ob man den deutschen Staat von Grund auf neu bauen, oder ob man blos das alte Gemäuer übertünchen, schwarz-roth-golden aufputzen solle. Nachdem aber die Unentschlossenheit gesiegt hatte und als das baufällige Werk des Frankfurter Parlaments den Einsturz drohte, wurde Berger, wie so viele Andere seiner Meinung, an den Scheideweg gestellt, wo er zu wählen hatte zwischen der kühnen That und dem eigenen Wohlergehen und der blasse Hercules von Proßnitz schlug den sicheren Pfad ein, der zu einer ergiebigen Advocatur, zu Ansehen und Einfluß, und endlich empor zur Höhe führte, von wo man mit olympischem Behagen herab auf das Leiden und Ringen der armen Menschheit blicken kann. O, der Glückliche! Berger war nicht von den Hundert Einer, die bei den Thermopylen zu Stuttgart den äußersten, den verzweifelten Kampf für die Freiheit gekämpft. Man hat sogar behaupten wollen, er habe nachmals in nicht zu billigender Weise um Verzeihung seiner früher in Wien und Frankfurt a. M. begangenen Sünden gebeten; doch ist diese Behauptung völlig unerwiesen.

Am meisten ausgezeichnet hat sich Berger als Rechtsanwalt beim „mündlichen Verfahren“, wie man dies hier zu Lande nennt. Im Gerichtssaal war seine Beredsamkeit an ihrem Platz, [266] und Niemand, selbst nicht der gewaltige Mühlfeld, war gefürchteter von dem Widerpart, als Berger. Kein anderer Advocat besaß in dem Maße die Kunst, die Blößen des Gegners zu entdecken und die verwundbarsten Stellen mit den Pfeilen ätzenden Spottes zu treffen. Mancher Staatsanwalt krümmte sich unter den Schmerzen der erhaltenen Verletzungen und zahlte den Sieg, den ihm die Zeitverhältnisse verschafften, mit einem Stück moralischen Lebens. Während der zehn Jahre schweren Drucks, welche dem kurzen Freiheitsrausche der Völker auf dem europäischen Festlande folgten, war in Oesterreich der Gerichtssaal die einzige Zuflucht des geächteten Wortes, und Berger benutzte das Privilegium des Ortes und seines Berufes zu mancher freiheitlichen Auslassung. Daher seine zunehmende Popularität. So weit zurückgedrängt war in Oesterreich alles freiheitliche Trachten und Streben, und so heißes Verlangen trug die öffentliche Meinung nach einem erleichterten Athemzug, daß selbst ein gefahrloses Lispeln von einem menschlichen Recht gegenüber der sinnlosen Gewalt die Gemüther mit Genugthuung erfüllte und wie eine kostbare Gewährung angesehen wurde. Ein Lichtfunken in langer, banger Nacht wird leicht wie eine Sonne begrüßt.

Als das mittelalterliche Regierungssystem bei Solferino von Napoleon’s des Dritten Zuaven zu Boden geworfen wurde und die Gedanken der Neuzeit, triumphirend über das Besiegte hinwegbrausend, die verlorene Geltung forderten, mußte bei der Spärlichkeit hervorragender Persönlichkeiten nothwendig Berger die Aufmerksamkeit seiner Landsleute auf sich lenken und sich als einen der geeignetsten Volksvertreter in einem Parlament empfehlen. Wer in dem weiten Oesterreich wäre besser im Stande gewesen, die parlamentarischen Schlachten zwischen Dummheit und Einsicht, zwischen starrer Satzung und freiem Urtheil mitzukämpfen, als Berger, der ehemalige Abgeordnete in der Paulskirche, dem die Versammlung der größten Gelehrten von Deutschland ihre Achtung nicht versagen konnte? Sie hatten auch keinen Grund, ihre Neigung und Wahl zu bereuen, die Liberalen, welche in Berger ihr Vertrauen gesetzt. So lange er seinen Sitz als Abgeordneter einnahm, erhob sich seine Stimme stets für das Recht gegen die Gewalt, für die Freiheit gegen den Zwang, für den gesunden Menschenverstand gegen das Vorurtheil, und der Neid kann es ihm nicht absprechen, daß er der Sache des Fortschrittes wesentliche Dienste geleistet. Seitdem jedoch der Doctor auf der Ministerbank sitzt, haben sein Standpunkt, seine Haltung, seine Anschauungsweise, sein Wollen und Wünschen sich geändert. So eine Ministerbank, wo sie auch stehen mag, übt auf Alle, die ihr nahe kommen, einen Einfluß, den kein Physiolog zu berechnen und zu erklären vermag. Die Wirkung ist unausbleiblich, verhängnißvoll.

Oefters haben wir Gelegenheit gehabt, diese Metamorphose zu beobachten, die wohl auch in der antiken Welt vorgekommen sein muß, wenn auch Ovid in seinem berühmten Werk sie nicht anführt, und immer hat sie uns den Eindruck des Wunderbaren gemacht. Wie ein Zauber, rasch, überwältigend, vollzog die neue Atmosphäre die Umwandlung. Von Zugeständniß zu Zugeständniß drängen die neuen Nothwendigkeiten den politischen Grundsatz, und ehe man sich’s versieht, haben sie einen Eiferer in einen füg- und dehnbaren Unterhändler umgewandelt, der mit seinem Gewissen diplomatische Noten wechselt.

Den Anhängern und Gesinnungsgenossen Berger’s ist es schmerzlich, daß der demokratische Vorkämpfer sich zum fünften Rad am Staatswagen habe machen lassen und ein Ministerium ohne Portefeuille angenommen habe, das nicht einmal eine bestimmte Thätigkeit in Anspruch nimmt und auch nicht einmal den Vorwand gestattet, daß man seine Kraft dem Dienste des Vaterlandes zu widmen sich verpflichtet glaubt. Weil Herr von Beust es darauf abgesehen, meinen diese Freunde von ehemals, die Opposition im Reichsrath durch Entziehung der besten Kräfte zu vernichten, und die Ernennung eines Ministers ohne Portefeuille diese Absicht deutlich genug verrieth, hätte Berger seinen Ruhm darein setzen sollen, auf seinem Platz zur Linken im Reichsrath zu bleiben. Für den Ehrgeiz eines Menschen sei es mindestens eine eben so große Genugthuung, einen hohen Posten auszuschlagen als anzunehmen, der Erste in einer Partei als der Letzte in einem Cabinet zu sein. Dem verständigen Doctor könne es nicht unbekannt sein, daß er weder bei Hofe, noch auch bei seinen Collegen eine beliebte Persönlichkeit war und daß, wenn diese auf seiner Ernennung zum Minister ohne bestimmtes Fach bestanden, ihnen kein anderer Zweck vorschwebte, als die Beseitigung eines lästigen Gegners. War es nicht eben so recht als klug und im Interesse der Freiheit, diesen Gefallen zu verweigern und auf den Titel „Excellenz“ freiwillig zu verzichten?

Durch ihre Haltung in der Wehrfrage haben die Minister im Allgemeinen und Berger in’s Besondere bei der öffentlichen Meinung sich viel vergeben. Das Capital, welches auf militärischen Aufwand verwendet wird, hat sich als so schlecht angelegt erwiesen, daß man geneigt ist, die Sicherheit des Reiches in jeder anderen Entwickelung eher als in der Heeresmacht zu suchen. Man mußte also die Ueberspannung der Wehrkraft des Landes als einen Fehlgriff ansehen. Zur Entschuldigung der Minister konnte man nicht einmal denken, daß sie, ihrer Ueberzeugung folgend, sich irrten. Im Gegentheil, man wußte sehr wohl, daß Niemand mehr von der Fruchtlosigkeit dieser Ueberlastung des Landes durchdrungen sei, als eben die Herren am Ruder.

Durch die Annahme des Ordens hat Bergcr wohl für immer mit der Partei gebrochen, die trotz mancher Fehltritte seinerseits nicht aufgehört hat, auf ihn zu zählen. Wenn ein Umschwung der Verhältnisse Herrn Berger von der Gewalt entfernt, wird er vielleicht zu seinem Verdruß gewahr werden, daß er trotz Rang, Titel und Auszeichnung in der Gesellschaft wie ein Verlassener dasteht, zwischen dem aufgebrachten und dem unversöhnten Elemente. Berger zählt nun dreiundfünfzig Jahre, und wenn nicht ein hartnäckiges Halsleiden seine Thätigkeit hinderte, so wäre es keine Frage, daß von seinem geistigen Vermögen und seiner rednerischen Begabung noch Erhebliches zu erwarten stände; in welchem Sinne, mag freilich dahingestellt bleiben.

Die Revolution von 1848 hat ihn auf einem Lehrstuhl der adeligen Anstalt „Theresianum“ gefunden, wo er Natur- und Criminalrecht vortrug; sie hat ihn liebevoll emporgetragen zum Capitol. Schade, daß er nicht immer dankbar ist! Der Besitz eines beträchtlichen Vermögens hat Berger die vollkommenste Unabhängigkeit gesichert; in Momenten körperlicher Erschlaffung spricht er von seinem Entschlusse, sich aus dem Getriebe der Welt in ein abgesondertes beschauliches Leben auf einem Landgute zurückzuziehen. Indessen die Lockungen des Einflusses, des regen Verkehrs, der glänzenden Laufbahn bringen ihn wieder auf andere Gedanken. Er bleibt und fährt fort, den Duft der Hofsphäre, die Süßigkeiten der Gewalt zu trinken. Ob dieser Doppelgenuß der Gesundheit des Ministers zuträglich, muß ärztlicher Entscheidung überlassen bleiben; daß aber Berger in seiner amtlichen Stellung zu keiner nützlichen Thätigkeit kommt, ist eben so ausgemacht wie die Abnahme seiner Popularität. Wir bedauern aufrichtig, daß eine so tüchtige Kraft von der rechten Bahn sich hat ablenken lassen.

Zur Ergänzung dieser Umrisse des emporgekommenen Mannes müssen wir eines Vorfalls erwähnen, der vor einigen Jahren großes Geräusch verursacht hat. Bei der Wahl der Abgeordneten für den Reichsrath in den Landtagen standen Berger und Schuselka als Bewerber um die Auszeichnung einander gegenüber; die größere Aussicht auf Erfolg hatte der Publicist, dessen Name damals ein hochgefeierter war, obgleich er an geistiger Bedeutung in keiner Weise mit dem Rivalen sich messen konnte noch kann. Unter diesen Umständen ist es geschehen, daß Berger in seiner Eigenschaft als Advocat die Einlösung von Wechseln, welche von Schuselka unterzeichnet waren, zu betreiben hatte und, da die Deckung unterblieb, gerichtlich auf Schuldenhaft antrug. Nun brach der öffentliche Unwille gegen den armen Berger los. Wer eine Kehle hatte, schrie Zeter ob solcher Unthat; wer nur eine Galle hatte, der wüthete gegen den Verfolger. Die Jugend der hohen Schule benutzte den schüchternen Anbruch der Freiheit zu einer Katzenmusik, mit welcher sie zur allgemeinen Genugthuung den Gegner des Herrn Schuselka bewirthete. Berger war seit damals eine mißliebige Persönlichkeit in Wien, allein Herr Schuselka vermochte nicht, sich auf der Höhe des Ruhmes zu erhalten, zu der ihn ein aufflackernder Volksenthusiasmus emporgehoben, und je mehr sein Glanz erlosch, desto leichter wurde es dem Advocaten Berger, das verlorene Ansehen wieder zu gewinnen. Wer weiß übrigens nicht, wie rasch die Menge vergißt, wie gern sie verzeiht! Auch geben wir die Hoffnung nicht auf, daß Berger Gelegenheit finden werde, von der öffentlichen Meinung Ablaß für kleine Sünden zu erlangen und seine Liebe zur Freiheit und zum Fortschritt trotz alledem und alledem zu bewähren.




[267]

Aus der Wandermappe der Gartenlaube.[1]

Nr. 1. Auf dem Zillerthaler Eismeere.
I.

Wenn ich so die Berge sehe,
Wie sie kühn und frei sich heben,
Zu der dunkelblauen Höhe
Stolz und sturmverachtend streben,

Möcht’ ich oft die Wolken fragen,
Die ihr eisig Haupt umspielen,
Was die Thäler unten sagen,
Ob sie auch so frei sich fühlen.


Dort, wo im Süden Innsbruck’s der Sillfluß einen tiefen Einschnitt in die gewaltige Schiefermasse des mittleren Tirols bildet, erhebt sich im Osten, aus breiter Basis aufsteigend, die mächtige, in sich abgeschlossene eisgekrönte Zillerthaler Gebirgsgruppe, eine herrliche ungeahnte Welt mitten zwischen reichbevölkerten und bebauten Culturlanden. Ueppige weiche Formen, in Wiese, Wald und Ackerland wechselnd, umrahmen das schimmernde Bild, und mächtige Felskämme und Grate in wunderbaren Verzweigungen vermitteln den Uebergang von einem zum andern. Ein eigenthümlicher Duft und unnennbarer Reiz ist über dieses Eldorado der tirolischen Hochgebirgswelt ausgegossen, und wem es einmal gegönnt ist, von der Höhe aus einen Blick zu thun hinunter in das friedliche Thal des Zillers mit seinen Wiesen, Wäldern, Auen und Feldern, seinen schmucken Dörfern, Häusern und Kirchlein, und dann hinauf zu den schimmernden Gehängen und blinkenden Eisspitzen, die in ewig gleicher Reinheit und Größe ihr stolzes Haupt in die blauen Lüfte erheben, dem schwillt das Herz vor unendlicher Wonne; ein neuer Geist, ein neues Gefühl, ein Gefühl der unendlichen Erhabenheit und Majestät durchströmt sein inneres und fesselt ihn mit Zaubermacht an jene luftigen Höhen. Möge der Leser mich jetzt auf einem Gange in diese majestätische Hochgebirgswelt freundlich begleiten!

An einem schönen Septembernachmittage verließ ich das freundliche Dorf Zell im Zillerthale, gelangte schnell nach Mayrhofen im Oberzillerthal, dem prachtvollen Stationsplatze für alle Touren in das benachbarte Hochgebirge, und wandte mich sogleich südwestwärts dem Dornauberge zu, um noch Abends nach Ginzling zu gelangen. Der Dornauberg, vom Zemmbache durchströmt, ist ein tiefer, von den Wänden des Tristenspitzes und Grünberges gebildeter Felseneinschnitt, dessen wildromantische, großartige Scenerie den Wanderer mächtig überrascht. Vielleicht nirgends findet sich ein ähnlicher Tummelplatz heroischer Kräfte, ein solches Durcheinander wild zerrissener Felsen und Wuhrsteine, die im Donner der Lawinen beben, vielleicht nirgends hat die Natur mit größerem Aufwande von reizenden gigantischen Mitteln gezeichnet, als hier. Etwa dreiviertel Stunde hinter Hochstegen, einer kleinen, aber kühn gespannten Brücke über den Zemmbach, beginnt die eigentliche Schlucht, die ein und eine viertel Stunde lang bis über den Carlsteg hinaus sich erstreckt. Gewaltige senkrecht abfallende Felswände mit spärlichen Waldansätzen dämmen den wüthend schäumenden Bach gegen Osten ab, während gegen Westen ungeheure Felsblöcke, halb liegend, halb aufgerichtet und den Einsturz drohend, in die ohnedem schon gelichteten Wälder verderbliche Bahnen gebrochen haben und nun in chaotischem Durcheinander den Boden übersäen. Ueber und unter ihnen führt der Weg theils auf-, theils abwärts über Stiegen, Felsen und Gerölle bis zu jenem Carlstege, dem ersten Ruhepunkte in dieser grausen Enge. Hier wendet sich das Thal etwas gegen Süden und behält diese Richtung bis Ginzling. Tief auf athmet die von den geschauten Schrecknissen beengte Seele, und leicht beschwingt eilt sie der grünen Thalbucht und dem freieren Hochgebirge zu.

Aber auch in dieser friedlichen, von verschiedenen Alphütten, sogenannten Asten, belebten Gegend haben die Naturkräfte ihr gewaltig Spiel getrieben und schonungslos in die grünen Matten Verderben und Zerstörung gebracht. Die stolzen Häupter der Thalberge, der Grünberg und Jaun, schütteln alljährlich im Frühjahr die wuchtigen Schneemassen von ihren Schultern, und donnernde Lawinen durchbrausen Fels und Alp. Stundenlange graubraune Streifen und Schuttlinien bezeichnen die Stellen, wo sausend die gewaltige Bergfee zu Thal fuhr, und kirchthurmhohe festgeballte und geknetete Lawinenreste wölben sich über Thal und Bach, ein ernster trauriger Gruß, welchen die stolzen Bergriesen den Thalkindern zusandten. Noch im Hochsommer liegen die Schnee- und Eisfragmente hochaufgethürmt auf verwüsteter Sohle, während rund herum Alpenrosen, Azaleen, Soldanellen, Genzianen etc., von den Schwingen der Windsbraut herabgetragen, ihre duftenden Blüthen dem eisigen Hauche zuwenden, gleichsam ein Sinnbild, wie selbst aus der Zerstörung sich neues Leben ringt.

Nach ein und einer halben Stunde endlich erreichte ich sechs Uhr Abends die letzte Ansiedelung in Dornauberg, das Dörfchen Ginzling, dreitausendeinundachtzig Fuß über dem Meer, das auf traulichem Wiesenplane, rings von erhabenem Hochgebirge umrahmt, zur Rast und Einkehr freundlich einlud. Es war einer jener seltenen Abende, die in voller Klarheit Ruhe und Befriedigung über Thal und Berge ausgießen; nicht ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel, und ein frischer Ostwind, der von den Stillupper und Floitenthaler Gletschern herabwehte, versprach anhaltend gutes Wetter. Und wahrhaftig ich bedurfte auch des guten Wetters, da mein Reiseplan, so klein er auch in Beziehung auf Distanz schien, sich doch auf ein Terrain erstreckte, das jahrelang von keinem Menschen, kaum von dem Fuße einer flüchtigen Gemse berührt wurde, auf ein Terrain, wo man nur auf sich und die eigene Körperkraft angewiesen ist und ein unglücklicher Zufall den tollkühnen Wanderer in ein kaltes, tiefes Grab bettet.

Ich hatte nämlich im Sinne, zuerst die zehntausend siebenhundertundzehn Fuß hohe Löffel- oder Trippachspitze im Floitenthal zu besteigen, sodann quer über das Eis steuernd die Einsattelung zwischen dem großen Mörchenspitz und dem Schwarzensteinspitz zu erreichen, dort absteigend zur berühmten Schwarzensteinalpe zu gelangen und von da aus den höchst selten gemachten Uebergang über den berüchtigten Schwarzensteingletscher nach dem Pusterthal zu wagen. Damit verband ich die Absicht, das ganze Gebiet so genau wie möglich zu durchforschen, zu zeichnen und am Schwarzenstein Messungen und Gletscherbeobachtungen vorzunehmen.

In dem den kühnern Bergsteigern bekannten Wirtshause beim „pfiffigen Anderl“ nahm ich Quartier und fand Küche und Nachtlager so gut bestellt, wie es in solcher Bergeinsamkeit nur der Fall sein kann. Neugestärkt erwachte ich am nächsten Morgen und schickte mich an, meine Vorbereitungen zu treffen. Der Himmel war klar und spiegelrein, und die mächtigen Ketten des Floitenthales und der Zemm ragten duftumflossen mit wahrem Selbstgefühl in die blauen Lüfte. Auf zwei Uhr Nachmittags waren die beiden besten Führer des Thales, Bartlmä und Jacob G., bestellt. Nachdem ich noch ein kleines Mittagsessen eingenommen, wurden die Mundvorräthe und anderweitigen Utensilien verpackt, die Stricke, Beile und Fußeisen unter die Führer vertheilt, und fort ging es unter vielen Glückwünschen und Grüßen der ersehnten Höhe zu, die ein wahrer Gemsenweidegrund ist. Die Jagd im Zillergrund, Floitenthal und Gungl ist von dem Fürsten Vincent Carl v. Auersperg gepachtet, und die Anzahl der dort gehegten Gemsen mag sich auf acht- bis neunhundert Stück belaufen.

Gleich hinter dem Gasthause betritt man den Thalgrund der Floiten, das östlichste Thal des Dornauberges oder Zemmgrundes. Dasselbe zieht sich mit einer mittleren Erhebung von viertausendeinhundertsechszig Fuß streng südlich und endet am nördlichen Abfall des Löfflers. Wir wanderten, zuerst mäßig ansteigend, durch Wald und Unterholz und gelangten bald zur kleinen Alpe Tristenbach, mitten zwischen riesigen Felsblöcken gelegen, die reich mit einem veilchenduftenden Moose überkleidet sind. Hier gewinnt das Thal an Ausdehnung und Großartigkeit. Links (nordöstlich) entsendet der Tristenspitz und Floitenthurm seine gewaltigen Felsbauten; namentlich aber ist es die südliche Abdachung des Floitenthurms, welche alles Andere an Wildheit und Großartigkeit übertrifft. In [268] einer Flucht stürzt derselbe von achttausendachthunderteinundsiebenzig Fuß bis sechstausendachthunderteinundsiebenzig Fuß hinab und endet unten in bröckelnden, morschen Schieferlagen und traurigen Schuttfeldern. Kein Baum, kein Strauch, höchstens eine verwegene Saxifraga oder Silene schlingt ihre Wurzeln um das kalte Gestein, Schutz und Nahrung in den wenigen Verwitterungsproducten suchend. Im Süden ragen sporadisch Waldbestände bis zu den obersten grünen Terrassen und Grasbändern, die endlich wieder dem zackigen, zerrissenen und verwitterten Schiefergrate weichen.

Passage über den Schwarzensteingletscher.
Nach der Natur aufgenommen von J. v. T.

Doch trotz dieses interessanten Naturschauspiels ist das Auge nicht zufriedengestellt; es ahnt hinter den ungeheuren Bauten und Vorwerken noch etwas Großartigeres, eine neue Welt, eine Welt voll erhabenen Ernstes, still, klar und schimmernd, eine Welt überreich an den seltensten Naturscenen. Wir täuschten uns nicht; bereits leuchtete im fernen Hintergrunde ein blendender Firngrat entgegen – noch einige Schritte, und die majestätische Kuppe des Löfflers stieg empor, wie der helle Vollmond am nächtlichen Himmel. Ein lauter Jauchzer drang zu seinen Höhen, und lustig ging es nun theils neben dem Bache, theils über Wiesen und kleine Schuttfelder, an den Hechenbergsalphütten vorbei, der Alpe Pokach zu. Die Scenerie hat sich wenig geändert; nur die Wälder sind zurückgeblieben und alte, vom Blitz getroffene oder abgestorbene Riesenstämme erinnern an den einstigen Bestand herrlicher Forste. Allein Wind und Wetter, Schnee und Eis, Lawinen und Schlammströme haben arg gehaust in diesen einst blühenden Revieren, wo früher das Reh und die Gemse nachbarlich weideten, wo der Fuchs auf seinen nächtlichen Streifzügen ein Hasel- oder Steinhühnchen erhaschte, wo Amsel, Drossel und andere Sänger die stille Waldeinsamkeit unterbrachen und in tausendstimmigem Jubel das Morgen- und Abendroth begrüßten. Jetzt ist es anders geworden; ein düsteres Schweigen lagert auf Thal und Berg, nur der Bach tobt und braust wie ehedem durch die einst grünenden Fluren. Seine Ufer sind klafterhoch mit Schutt und Trümmerhaufen bedeckt, und blos den angestrengtesten Bemühungen der Aelpler gelingt es, die alljährlich neu mit Steinen und Felstrümmern sich füllenden Alpgründe zu reinigen und theilweise für das Vieh wieder nutzbar zu machen.

Uebergang über die Löfflerkluft.
Nach der Natur aufgenommen von J. v. T.

In kurzer Zeit erreichten wir die Alpe Baumgarten, viertausendachthundertsechsundzwanzig Fuß über dem Meeresspiegel, eine traurig ironische Benennung für diese Steinwüste. Bescheiden lehnt sich die kleine schmutzige Alphütte an eine hohe Felswand, [269] gleichsam Schutz suchend an der warmen Muttererde. Beim Eintritt in dieses primitive Alpenhôtel präsentirte sich uns, aus einem Rauchqualme auftauchend, der Altsenne, ein gekrümmter, alter, hypochondrischer Bursche mit langem Bart und wettergebräuntem Gesicht. Ohne sich weiter um uns zu bekümmern, ließ er uns ruhig eintreten und unser Gepäck niederlegen. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht und mir’s bequem gemacht hatte, trat die Frage über Nachtquartier und Abendessen in den Vordergrund, und ich wandte mich deshalb in aller Güte und Höflichkeit an den rauhen Alpenhirten, der es jedoch vorzog, alle meine Interpellationen mit einem „Weil i’s nit woas“ („Weil ich’s nicht weiß“, soviel wie: „Ich mag Euch keine Antwort geben“) abzufertigen. Da nahm sich denn der Führer Bartl meiner an und eröffnete folgenden Dialog:

Die Löfflerspitz in Tirol.
Nach der Natur aufgenommen von J. v. T.

[270] „Wie, Seppl, thu die Schnauz’n auf, der Herr möcht’ da bleib’n.“

„So,“ sagte der verwegene Hirt, „dobleib’n mog’ er scho, aber hob’n thue i nix, und Heu kriegt er a koans.“

Aha! dachte ich mir, da heißt es einen milderen Ton anschlagen, um aus dieser starren, seinen Felsen gleichenden Natur etwas herauszubringen; ich näherte mich ihm daher mit der Feldflasche (dem gewöhnlichen Talisman in diesen abgelegenen Orten), doch ehe ich ein Wort gesprochen, war dieselbe schon in seiner Hand und an seinem Munde, und in langen Zügen schlürfte er den langersehnten und langentbehrten Trank in sich hinein. Die darauf erfolgte Metamorphose des alten Sünders war komisch; er zog sein Gesicht, so gut es ging, in grinsende Falten und bot mir nicht nur ein Abendessen, sondern für die Nacht sogar ein „Zimmer“ an, obgleich ich nicht absehen konnte, wo dieses Zimmer sich befinden dürfte. Das Souper war sehr einfach: Milch, ein fettes Mus, etwas Brod und Branntwein, von welch’ letzterem am meisten der metamorphosirte Wirth profitirte. Da wir schon um zwei Uhr Morgens aufzubrechen gedachten, so wurden vorerst noch sogenannte „Pucheln“ (Fackeln aus harzigem Holze) verfertigt und sodann das Schlafgemach, das sogenannte „Zimmer“, aufgesucht. Dasselbe befand sich zwanzig Schritte von der Hütte entfernt; rechts lagerte, dem behäbigen Grunzen nach zu schließen, eine nicht unansehnliche Familie von Schweinen, während man unten die Glöcklein der unruhigen Ziegen vernahm. Eine schwankende Leiter führte zum „Zimmer“. Böse Ahnungen beschlichen mich, und ich sehnte mich jetzt schon, bevor ich alle Genüsse eines solchen Bivouacs durchgemacht, nach dem Morgen. Eine weitere Beschreibung dieser qualvoll durchlebten Nacht scheint überflüssig. Ringsum durch handbreite Spalten pfiff lustig der eisige Nachtwind, im Heu fand sich auch einiges Leben, und unter mir veranstaltete die ehrsame Ferkelfamilie ein höllisches Concert, während die liebenswürdigen Ziegen gerade mein Dach, das auf der einen Seite am Boden anfing, zum Tummelplatz ihrer verwünschten nächtlichen Zweikämpfe auserkoren hatten.

Erwähnung verdient noch der eigenthümliche Gruß, mit dem mich der alte Senne zum „Zimmer“ geleitete. Er äußerte sich nämlich sehr naiv: „Das Heu da drinnen sei frisch und thue schrecklich dampfen (gähren); vor zwei Jahren habe ein junger, starker Bursche auch in einem solchen Heu geschlafen und seitdem keine gesunde Stunde mehr gehabt. Güate Nacht, sö!“ (so), und damit säuselte er von dannen.

Ich wußte nicht, sollte ich lachen oder mich ärgern, doch that ich das Erstere und hüllte mich tief in meinen Plaid. Obgleich ich mich umsonst abquälte, Alles auf der Welt vergänglich und auch die gegenwärtige Situation alpin-poetisch und romantisch zu finden, so konnte ich doch nicht schlafen und erwartete sehnlichst meine Führer, die sich denn endlich etwas nach zwei Uhr Morgens einfanden. Ich wollte noch etwas warme Milch zu mir nehmen, allein unser wackerer Wirth war nirgends zu finden. Warum – wird sich später aufklären. Nachdem wir uns zum heutigen Tagesmarsch und längerer Gletscherwanderung vorbereitet und ausgerüstet und unsere Requisiten und Vorräthe gehörig versichert hatten, zündeten wir die Fackeln an, und nun ging es still und schweigsam den Felsen und Schuttwällen des Floitengletschers entgegen.

Es war noch fast Nacht; die Sterne glänzten in seltener Pracht, und vor und neben uns hoben sich die gewaltigen Eis- und Firnkuppen vom dunklen Nachthimmel ab. Das ganze Bild – die großartige, noch in geheimnißvolles Dunkel gehüllte Umgebung, die kolossalen Wälle und Dämme und die wuchtigen Felstrümmer, die beim grellen Fackellicht allerhand Gesichter und fast dämonische Gestalten darstellten, dazu wir drei kleinen Gestalten in dieser weiten, erhabenen Welt der Oede und des Todes, die mit verwegenem Muth die nie entweihten Kronen dieser Eisriesen zu stürmen drohten – das Bild hatte etwas Feierliches, fast Geisterhaftes. Da der Floitengletscher an seiner Stirnmoräne wegen der gewaltigen Schutt- und Trümmeranhäufungen und der ungeheuren Zerklüftung nicht erreichbar schien, so wendeten wir uns etwas östlich, um das höhere Plateau zu gewinnen. Nach etwa dreiviertel Stunden hatten wir das Ende des Alpbodens erreicht und somit für viele, viele Stunden der Vegetation Lebewohl gesagt. Immer gewaltiger und massenhafter thürmten sich vor uns Geschiebe und Felsbauten auf, und es erforderte alle Umsicht und Gewandtheit, um bei dem trügerischen Fackellicht und der eintretenden Morgendämmerung nicht einen verderblichen Fehltritt zu thun.

Der Hauptführer Bartl, ein verwegener Steiger, steuerte consequent auf dem nächsten Wege dem Ziel zu und kümmerte sich nicht viel, ob Gefahr dabei war oder nicht, und ob sein Schützling die Schwierigkeiten allein zu überwinden im Stande sein werde oder nicht, – ihm schien es eben nicht, gefährlich zu sein, und das Terrain war ihm ja bekannt; überdies bedurfte ich als alter Bekannter und Vertrauter der Berge und Gletscher auch keiner sonderlichen Nachhülfe. Ein fünfviertelstündiges, mühevolles und angestrengtes Klettern brachte uns auf die Höhe des Gletschers und mit ihm das erste Grauen des Morgens. Noch lag ein fahles Weißgrau auf allen Bergen und die ganze Natur harrte schweigsam des feierlichen Momentes, wo die Allbeherrscherin Sonne mit ihren goldenen Strahlen an die höchsten Kuppen anschlagen würde.

Mittlerweile war es bereits fünf Uhr geworden und wir sahen uns am eigentlichen Floitengletscher und zugleich am ewigen Eise angelangt. Derselbe, ein Gletscher erster Ordnung, erreicht eine Länge von nahezu vierzehntausend Fuß und füllt jene gewaltige Mulde aus, die sich vom Fuß des Löfflers bis zum Schwarzenstein in einer Breite von neun- bis zehntausend Fuß ausdehnt. Ungeheure Schutt- und Moränenhaufen umlagern seine Stirn, und gewaltige Brüche, Klüfte und Schründe durchziehen seinen Körper. Manche derselben sind kaum handbreit, manche dagegen so enorm, daß sie ganze Häuser verschlingen könnten. Trügerische schmale Eisbrücken verbinden im buntesten Wirrwarr die beiderseitigen Ufer, während bei anderen spiegelglatte, oft überhängende Wände vom Rande in die grause Tiefe stürzen. Manche dieser Klüfte, die ich gemessen, hatten eine Tiefe von drei- bis vierhundert Fuß und darüber.

Wir lagerten nun auf einem gewaltigen Felsblock, um hier unser Dejeuner einzunehmen und unsere Vorbereitungen zur Ueberschreitung des Eises zu treffen. Die aufgehende Sonne hatte zugleich einen schneidend kalten Wind mitgebracht, der uns durch Mark und Bein drang und einen Schluck feurigen Cognacs sehr erwünscht erscheinen ließ. Wir packten unsere Vorräthe aus, die in ziemlichen Quantitäten von kaltem Braten, Brod, Käse, Cognac und kaltem Thee bestanden, einem der besten Präservativmittel gegen den grimmigsten Feind im Hochgebirge, den Durst. Zuerst wollte ich mich jedoch innerlich erwärmen und setzte daher meine Flasche an den Mund. Doch, o Schreck! ich sog und sog, allein die kalte Flasche spendete keinen Tropfen. Verdutzt sahen mich meine Führer an, und noch verdutzter blickte ich sie an. Wer konnte der Verwegene sein, der mich des jetzt so nothwendigen Trankes beraubt hatte? Wuth und Ingrimm erfaßten mich, doch was half es? Bartl, der den Zorn in meinen Mienen las, löste das Räthsel und sagte beschwichtigend: „Den hat der Spitzbub, der Seppl, unten in der Nacht ausg’soffen.“

Diese Bestätigung meines Verdachtes war mir ein schlechter Trost und half mir wenig; ich mußte mich in das Unvermeidliche fügen, obgleich es, in Anbetracht der noch zu machenden großen Touren, sehr deprimirend auf mich einwirkte. Jetzt war mir auch klar, warum der graue, schuldbewußte Sünder Morgens beim Aufbruch nirgends zu finden war. Doch half kein weiteres Argumentiren, weg war weg! Wir nahmen unseren Imbiß ein, schnallten uns die Steigeisen fest an die Füße, banden uns an die Stricke, und nun ging es, nachdem ich meinen Führern noch Vorsicht und Ruhe an’s Herz gelegt hatte, langsam das Eis hinan. Anfangs bot dasselbe, da es mäßig anstieg und nur von wenigen Klüften durchzogen war, keinerlei Schwierigkeiten. Allein bald mehrten sich dieselben. Der trockene Sommer hatte den Eiskörper stark angegriffen und die Klüfte alle bloßgelegt. Es galt nun dieselben entweder zu umgehen oder zu überspringen. So weit es die Breite derselben gestattete, geschah das letztere, als jedoch dieselbe zunahm und Schründe mit zwanzig bis dreißig Fuß Breite sich präsentirten, die nicht übersprungen und nicht recht umgangen werden konnten, da mußte ein anderer Ausweg gefunden werden.

Der erste Führer, Bartl, mit den nöthigen Vorsichtsmaßregeln vom zweiten Führer und mir fest am Seile gehalten, stieg verwegenen Muthes auf schmalem Eisbande in das dunkle Grab, und als er eine Tiefe von neun bis zehn Fuß erreicht, dort, wo ein scharfer Eisgrat in vielfach gewundener Linie, bald auf- bald [271] absteigend, theilweise zerrissen und geborsten, zum jenseitigen Ufer führte, begann er mit dem Beile die Eisschneide wegzuhauen und so eine ein bis anderthalb Fuß breite Basis herzustellen. Der zweite Führer löste sich vom Seile los und hielt mit mir, der ich mich auch abband, an dem nun verlängerten Seile den kühnen Mann, der mit seltener Ruhe, halb knieend, halb sitzend, über den dachfirstähnlichen Eisgrat hinüberkroch, stets das Eis vor sich weghauend.

In einer halben Stunde war das Werk vollendet; ich schürzte mir neuerdings das Seil um die Mitte, und so von beiden Ufern aus gehalten, trat ich die gefährliche Wanderung an, die, abgesehen von einigen Stillständen und etwas beklemmenden Momenten, gut von Statten ging. Dem zurückgebliebenen zweiten Führer wurde das Seil hinübergeworfen, und auch er folgte, von uns gehalten, bald nach; so konnten wir, wieder vereint, weiter steuern. Als wir eine Zeitlang gewandert, d. h. vielmehr geklettert und über Klüfte gesetzt waren, eröffnete sich uns plötzlich ein anderes Schauspiel. Gerade am südöstlichen Fuße des Löfflers dehnte sich von Süden nach Norden ein ungeheurer, gewiß dreißig bis vierzig Fuß breiter und hundert bis hundertzehn Fuß langer Firnschrund aus, der oben in eine unübersteigliche Eisrinne und unten in eine Unzahl kleinerer unnahbarer Klüfte auslief. Bartl, der sich vom Stricke losgebunden, um leichter recognosciren zu können, äußerte sich: „Wenn wir da nicht hinüberkommen, so kommen wir auch nicht auf die Spitze, und der Schrund ist ein Teufelsschrund.“ Da diese Kluft bei den früheren Besteigungen nicht existirte und sich erst heuer gebildet haben mußte, so machte das dem wackeren Bartl viel zu schaffen. Er stieg hinauf, er stieg herab, er schaute, forschte und überlegte – endlich kam er zurück. Mit entschlossener Miene sagte er: „Ein Eisgrat führt hinüber, aber grausig ist er; wenn ös es derwagt’s (wenn Ihr es wagen wollt), gut, nachher geht’s.“ Ohne ein Wort weiter zu sprechen, banden wir uns vom Seile los und wollten das Ding versuchen; der alte Spaß ging nun von Neuem los.

Bartl stieg hinab, kroch und wand sich, von uns gehalten, über eine abschüssige Eisterrasse, und wir glaubten schon, daß er nach einigen Schritten das jenseitige, steil abfallende Ufer erreichen würde. Doch dem war nicht so. Der Strick begann sich allmählich zu spannen, und mit Schrecken sahen wir, daß er nicht mehr zureiche. Wir schrieen dem Bartl zu, zu halten, und nachdem wir ihn von dem mißlichen Umstande in Kenntniß gesetzt hatten, stutzte er einen Augenblick, aber nur einen Augenblick; entschlossen erwiderte er: „Gehe es, wie es geht, jetzt kehren wir nicht mehr um; ich haue drei bis vier breite Stufen unter dem bereits zugehauenen Grate, und dann folgt ihr Beide bis hierher nach; so wird der Strick schon reichen.“ So richtig und einzig auch dieses Mittel schien, so wollte es mir dennoch nicht recht einleuchten, denn wenn wir alle Drei auf dem schmalen, trügerischen Eisbande ständen ohne sicheren Tritt, ohne Anhaltspunkt, und Einer von uns würde auch nur einen kleinen Fehltritt thun, so mußten wir Alle unaufhaltbar in die Tiefe stürzen, – und aus diesem Grabe gab es keine Erlösung. Ich hätte es fast vorgezogen, den Bartl umkehren zu machen und allein am Strick gebunden vorauszugehen und mit dem Beil mir einen Weg auszuhauen, da ich den beiden Führern mehr Kraft zutraute, mich im Falle eines Sturzes zu halten, als mir, einen der Führer zu retten. Allein dies hätte viel zu viel Umstände und Zeit gekostet, und ich entschloß mich daher, im Vertrauen auf meine Schwindelfreiheit und meine starken sechszackigen Fußeisen, den gefährlichen Gang zu wagen, die einzige Möglichkeit, auf die Spitze zu gelangen. Bartl hieb mit dem Eisen drei breite, tiefe Löcher in das Eis, und setzte sich selbst so in Positur, daß er mich im Falle eines Ausgleitens zu halten vermochte. Theils reitend, theils kriechend erreichte ich die erste Haltstation und verblieb, da ich mich nicht umzukehren wagte, in dieser Stellung. Der zweite Führer setzte sich zwar etwas kopfschüttelnd, doch als Gemsjäger sich seines Bedenkens schämend, in Reiterstellung auf den Grat und kam wohl sehr langsam, aber glücklich bei mir an.

Nachdem wir nun nach dieser höchst eigenthümlichen Cavalcade unter gegenseitiger Hülfeleistung in den früher ausgehauenen drei breiten Stufen Posto gefaßt, rückte Bartl, des Erfolges sicher und mit schwachem Kopfnicken unserem Muthe Beifall zollend, mit erneuter Kraft vorwärts. Der Strick reichte vollends aus, und schon wollte er, jauchzend, in kühnem Satze einer etwas abschüssigen Eisplatte zuspringen, als er plötzlich mit lautem Aufschrei stürzte und einen Augenblick unseren Blicken entschwand. Der gewaltige Ruck riß mich nach vorwärts, so daß ich auf den Bauch zu liegen kam.

Im ersten Moment vergingen mir fast die Sinne, und ich wußte nicht, wie ich mich in meiner gefährlichen Stellung erhalten konnte. Mein Führer hinter mir hatte mich fest am Rocke gefaßt und half mir zu meiner früheren Stellung. Mit wahrer Todesverachtung und ehe ich mich versah, war er neben oder vielmehr über mir vorgeklettert und zog nun an dem Seile, um den Bartl wieder an’s Tageslicht zu schaffen. Das Seil knarrte, Eistrümmer rasselten in die Tiefe, und plötzlich tauchte drüben der Bartl aus dem nächtlichen Schlunde empor. Er hatte sich während des Falles wie durch ein Wunder mit seinem linken Fußeisen an eine vorspringende Eiskante stemmen und so sich und uns vor dem unvermeidlichen Untergange retten können. Denn wäre er wirklich gestürzt, so hätte er uns Beide von unserem luftigen Sitze herab und mit in die Tiefe gerissen, und kein Zeichen, keine Spur hätte die etwa Suchenden zu unserer kalten Ruhestätte geleitet! So jedoch freuten wir uns, wenn auch mit hochklopfenden Herzen und etwas aschfarbenen Gesichtern, des neugeschenkten Lebens und schritten nun muthig über den hier steil abfallenden Firn. Die soeben überstandene Gefahr ließ die jetzt folgenden nur gering erscheinen, machte uns jedoch vorsichtiger.




Blätter und Blüthen.

Telegraphenleger. Daß der Amerikaner ein praktischer Mensch ist, und besonders alle seine Arbeiten rasch – mit so wenig Verlust an Zeit wie möglich – verrichtet, wird ihm Niemand abstreiten. Wir sehen das auch in allen Gewerken, in allen Beschäftigungen. Ein deutscher Arbeiter braucht durchschnittlich die doppelte Zeit für eine Arbeit, wie ein Amerikaner (Schriftsetzer vielleicht ausgenommen), und bei jeder Beschäftigung ist es dort drüben das Streben der Leute, diese so rasch wie möglich zu erledigen, um dann gleich wieder an etwas Anderes zu gehen.

Man braucht nur in den Städten die Straßenpflasterer mit einander zu vergleichen. In Deutschland sieht es aus, als ob die Leute eine lebenslängliche Anstellung bekommen hätten, wenn sie an das Neupflastern einer Straße gehen – in Amerika treibt ein Arbeiter den anderen, weil fast Alles in Accord ist. Maurer, Zimmerleute, Schmiede, Schlosser arbeiten nicht um zu arbeiten, sondern um fertig zu werden, während bei unseren Leuten daheim nur der einzige Wunsch die Oberhand zu haben scheint, daß bald Feierabend wird.

Oft habe ich hier bei uns zugesehen, wie schauderhaft langsam z. B. das Ausbessern oder Hinzufügen eines neuen Telegraphendrahtes von den damit beauftragten Leuten betrieben wird. Zuerst wird der Draht ausgelegt, dann fangen sie an ihn zu befestigen. Einer trägt eine Leiter, der Andere schlendert hinterher. Jetzt kommen sie an eine Stange; die Leiter wird angelegt, der Eine steigt langsam und vorsichtig hinauf – der Andere hält die Leiter unten, damit kein Unglück passirt. Jetzt ist der Erste oben und hält sich fest, nun nimmt der Zweite den Draht, hebt ihn hinauf und steigt dann wieder hinab, um so lange unten zu warten, bis der Erste fertig ist. Im günstigsten Fall brauchen sie zu jeder Stange eine gute Viertelstunde. Ich sah in Cincinnati einem solchen Arbeiter zu, der das Nämliche allein, und etwa in dem vierten Theil der Zeit verrichtete.

Der Draht war ausgelegt, und ich wurde erst auf den Mann aufmerksam, als ich bemerkte, daß er eine ganz merkwürdige Fußbekleidung trug. Er hatte nämlich, fast wie die Eisengefangenen, vom Knöchel bis zum Knie hinauf, ein starkes Lederschnürwerk um den unteren Theil der Beine, während sich unter den beiden inneren Knöcheln ein dicker eiserner, etwas nach unten gekrümmter Stachel befand, der in der Form Aehnlichkeit mit dem Sporn eines starken Hahnes zeigte und fest in einem ledernen Bund oder Riemen stak. Da er aber die Erde nicht berührte, hinderte er den Mann auch gar nicht am raschen Gehen, und eigenthümlich war es zu sehen, wie er seine Arbeit ganz allein und mitten in der belebtesten Straße Cincinnati’s (in Mainstreet) bewerkstelligte.

Der Draht lag, wie gesagt, ausgestreckt an den Stangen hin, den hob er sich über den Kopf, daß er ihm bis zum Gürtel zurückfiel und dort durch einen Haken aufgehalten wurde. Zu gleicher Zeit erfaßte er die Telegraphenstange selber, die wie bei uns aus weichem Holz bestand, mit beiden Händen, hieb etwa einen Fuß von der Erde erst den rechten, dann weiter oben, indem er sich in die Höhe hob, den linken Fuß ein und lief so mehr als er stieg, und anscheinend mit der größten Leichtigkeit, an der Stange hinauf. Oben aber angelangt, blieb er stehen, schlang den linken Arm um die Stange, hob den Draht herauf, zog ihn mit beiden Händen an, wickelte ihn fest und war in kürzerer Zeit wieder unten, als ich gebraucht habe, die wenigen Worte niederzuschreiben.

[272] Ohne sich aber auch nur einen Moment aufzuhalten, war er bei der zweiten Stange – dort die nämliche Manipulation in eben derselben kurzen Zeit wiederholend, und als ich meinen eigenen Geschäften nachging und nach etwa drei Viertelstunden Mainstreet vom Flusse aus wieder heraufging, hatte er schon fast die ganze Linie, allein und ohne irgend eine andere Hülfe, beendet.

Später sollte ich Zeuge sein, wie in noch viel rascherer Art „das geflügelte Wort“ den Schritten der Menschen folgt; an der Pacific-Bahn nämlich, wo das kecke amerikanische Volk, trotz allen Hindernissen, seine eiserne Bahn voll in die Wildniß hineinlegt und allen Gefahren trotzt, die ihm dabei entgegenstehen könnten. Wie die Bahn vorwärts schreitet, Meile nach Meile in die weite, bahnlose Ebene hinein, folgt ihr auch der elektrische Draht. Zwei Waggons, der eine mit dem Apparat und dem nöthigen Draht versehen, der andere als Schlaf- und Wohnplatz für die vortrefflich bewaffneten Beamten dienend, gehen mit dem Train bis zu den letzten ausgelegten Schienen. Telegraphenstangen werden schon mit der Bahn errichtet, und damit die Wagen auf dem einfachen Gleis nicht dem Zuge im Wege sind, auf der offenen Prairie ein paar Schienen seitwärts hinausgelegt, auf denen man die beiden Waggons bei Seite schiebt, um sie ihre Arbeiten beenden zu lassen. Haben sie den Draht nun an den letzten Stangen befestigt und sich dadurch selbst mit dem militärischen Hauptquartier zu Washington in unmittelbare Verbindung gesetzt, so bringt der nächste Zug die Beamten wieder auf das Gleis zurück, hängt sie hinten an und führt sie eine Strecke weiter auf den neugelegten Schienen. Wieder beginnt dann ihre Arbeit, und keine englische Meile wird solcher Art auf dem neuen Schienenweg der Pacific-Bahn gelegt, ohne daß dieselbe auch in directer Verbindung mit dem Telegraphen bliebe. Fr. Gerstäcker.     




Das größte Kriegsschiff der Erde ein deutsches. Als vor zwei Decennien der deutsche Geist mächtig zur Einigung des Vaterlandes drängte, legte man auch mit frohester Hoffnung den Grund zu einer deutschen Flotte. Wie diese Hoffnung realisirt und wie die wenigen angeschafften Materialien und Fahrzeuge des jungen Unternehmens auf schmähliche Weise verschachert und zersplittert wurden, ist allbekannt. Um so mehr muß es jeden Deutschen, welcher Partei er auch angehören mag, erfreuen, in den bedeutsamen Anfängen einer jungen norddeutschen Flotte endlich für die Erfüllung des langgehegten Wunsches zuverlässige Garantieen zu finden. Nicht bloß sanguinische Patrioten, nein, auch fremde, durchaus competente Fachleute erkennen die Lebenskraft des neuen Schmerzenskindes deutscher Nation an.

So äußerte ein schwedischer Admiral, welcher vor einigen Monaten die norddeutsche Flotte in Augenschein nahm: dieselbe bestehe zwar aus nicht vielen, aber durchaus mustergültigen Fahrzeugen und sei im Besitz des gar nicht hoch genug anzuschlagenden Vortheils, nicht, wie viele andere, in Arsenalen und Docks eine Masse halb oder gar nicht tüchtigen Materials aufbewahren zu müssen. Ueberdies habe sie in der unvergleichlich tüchtigen Bemannung der norddeutschen Handelsflotte den Stoff zu einer trefflichen Equipirung zur Hand.

In neuester Zeit hat das junge Unternehmen eine mächtige neue Grundlage durch Erwerb eines überaus gewaltigen Kriegsschiffes „“König Wilhelm“ gewonnen. Die folgenden Notizen, welche dem hervorragendsten technischen Journale Englands, „The Engineer“, entnommen sind (das sich seinerseits der directen Mittheilungen der Erbauer der Maschinen des „König Wilhelm“, der Herren Mandslay und Field, erfreute), mögen dem Leser ein Bild von den Dimensionen dieses Kolosses geben. Am 15. Februar fand die Probefahrt des „König Wilhelm“ vor der Commission preußischer Officiere auf der abgemessenen Wegmeile bei den Maplin-Sands in der Themse statt, wo seine außerordentliche Leistungsfähigkeit erkannt und das neue Schiff als das Meisterstück seines Erbauers, des Ober-Constructors der englischen Flotte, Herrn E. T. Reed, gekennzeichnet wurde. Der „König Wilhelm“ ist dem berühmten englischen Panzerschiff „Hercules“ an Schnelligkeit zum mindesten gleich, übertrifft ihn aber bedeutend an Vollkommenheit der Maschinerien und Größe der Kohlenräume.

Hier seine Dimensionen: ganze Länge dreihundertfünfundfünfzig Fuß zehn Zoll; größte Breite sechszig Fuß; Tiefe des Schiffraumes achtzehn Fuß zehn und einen halben Zoll; Tiefgang vorn vierundzwanzig Fuß sechs Zoll, hinten sechsundzwanzig Fuß sechs Zoll. Bei der Probefahrt stellten sich beide Angaben um anderthalb Fuß tiefer bei voller Ladung, denn der „König Wilhelm“ hatte achthundertundsiebenzig Tonnen Kohlen und so viel Eisenballast an Bord, wie die Armirung und Munition betragen werden. Höhe vom Wasserspiegel bis zu den Lukenschwellen zehn Fuß. Die Angaben sind alle nach englischem Maß. Die Panzerplatten sind auf der Batterie acht Zoll stark und mit zehnzölligen Balken von dem sehr festen Rigaer Kiefernholz hinterfüttert. Nach dem Wasserspiegel zu werden die Platten dünner, so daß sie unter demselben blos noch sechs Zoll acht Linien stark sind. Der „König Wilhelm“ wird mit zweiundzwanzig Stück dreihundertpfündigen Gußstahlkanonen von Krupp im Hauptdeck und vier leichteren Geschützen auf dem Oberdeck, welche in bombenfesten Casematten stehen, armirt werden. Außerdem sollen noch am Spiegel und am Stern (vorn und hinten) je zwei Geschütze zu stehen kommen. Die Geschütze im Hauptdeck werden aller Wahrscheinlichkeit nach auf Scott’sche Lafetten gelegt werden. Der zur Bewegung der Maschine nöthige Dampf wird in acht Kesseln erzeugt, deren je vier nebeneinander an den Schiffswänden stehen, so daß der zwischenliegende Raum als sehr bequemer Heizraum benutzt wird. Unter jedem Kessel befinden sich fünf Feuerungen, im Ganzen also vierzig im Schiffe.

Die Schraube, welche das Schiff durch das Wasser treibt, ist vierflügelig und hat einen Durchmesser von dreiundzwanzig bei einer Steigung von zweiundzwanzig Fuß sechs Zoll. Die Cylinder haben fünfundneunzig Zoll im Durchmesser bei einem Kohlenhub von vier Fuß sechs Zoll und sind auf einen Druck von fünfundzwanzig bis dreißig Pfund pro Quadratzoll berechnet. Das Gesammtgewicht der Maschine einschließlich der Reservetheile beträgt bei gefüllten Kesseln 1057 Tonnen gleich 21140 Centnern. Der Tag, an welchem der „König Wilhelm“ von der preußischen Commission in Bezug auf seine Schnelligkeit und Steuerbarkeit geprüft wurde, war nicht sehr günstig, außerdem das Schiff sehr schwer berüstet und die Themse voller Fahrzeuge, welche zu fortwährendem Ausweichen nöthigten. Trotzdem ergab sich eine mittlere Geschwindigkeit von fünfzehn Knoten, ungefähr drei deutsche Meilen, pro Stunde, zu deren Erzeugung durchschnittlich 8344 Pferdekräfte nöthig waren (nominell besitzen die Maschinen nur 1150 Pferdekräfte, also siebenundeinviertel mal weniger als sie geäußert haben). Doch wurden bei einer der Probefahrten sogar 8663 Pferdekräfte bei einer Schnelligkeit von 15,6 Knoten erreicht. An dieser sonderbaren Anomalie ist der Umstand schuld, daß die Engländer die nominelle Kraft der Maschine immer noch nach den alten Formeln berechnen, die James Watt gegeben hat und die auf die neuen Constructionen, wie unser Beispiel zeigt, in keiner Weise mehr passen.

Dieses Schiff ist das größte Kriegsschiff der Erde, auf welches die englischen Ingenieure, als auf ihr Werk, mit Stolz, die englische Nation, weil es nicht ihre Flotte bereichern soll, mit Bedauern, wir Deutschen, als auf ein neues Werkzeug unserer Machtentwickelung, mit großer Genugthuung blicken. M. v. Weber.     




Ein zweiter Mäusezug. Beim Durchlesen Ihrer trefflichen „Blätter und Blüthen“ finde ich soeben den interessanten Bericht des Herrn Lehrer T. aus Hfd. über einen sogenannten Mäusezug und frene mich, nur das bestätigt zu finden, was ich vor etwa drei Jahren meinen Freunden öfters erzählte, von diesen aber für „Jägerlatein“ gehalten sehen mußte. Ich verfehle daher nicht, Ihnen über das Erlebte gewissenhaft zu berichten:

Ein hiesiger Müller hatte wiederholt unterlassen, mir als Fischpächter vorher anzuzeigen, daß er seinen Mühlteich ausschöpfen wolle. Hierdurch wurde ich veranlaßt, dem betreffenden Herrn Oberförster A. davon Anzeige zu machen, um mit diesem den Thatbestand an Ort und Stelle zu constatiren. Als wir in die Nähe des Mühlteichs kamen, fanden wir Arbeiter damit beschäftigt, die Sohle desselben und namentlich das eingerutschte Ufer auszuheben. In demselben Augenblick bemerkten wir eine geschlossene Mäusegesellschaft eiligst das bedrohte Ufer verlassen, um unter einem etwa zwölf Schritte entfernten hohen Steinhaufen Schutz zu suchen. Es mochten etwa ein Dutzend Mäuse gewesen sein, von gleicher Größe und aschgrauer Farbe, die ebenso schnell dahinliefen, wie dies die gewöhnlichen Hausmäuse zu thun pflegen.

Wir glauben deutlich gesehen zu haben, daß immer eine Maus sich an der Schwanzwurzel der andern vermittels ihrer Zähne festhielt, und zwar so, daß hierdurch sämmtliche Schwänze verdeckt wurden mit Ausnahme des Schwanzes am letzten Gliede. Offenbar hatte die hinterste Maus das leichteste Spiel, während dem Zugführer jedenfalls die schwierigste Rolle zugetheilt worden war; dagegen hatte dieser wohl auch das stolze Bewußtsein für sich, ganz nach eigenem Ermessen die Gesellschaft aus der ihr drohenden Gefahr geführt, ohne dabei ein theures Familienglied verloren zu haben. Ehe die Mäuse eine geschlossene Kette bilden konnten, mußten sie vorher versammelt gewesen sein. Bei dem überaus unruhigen Lebenswandel dieser Nager nun ist nicht anzunehmen, daß sie zufällig vor ihrem Auszug alle beisammen in einem Loche etwa auf der Bärenhaut lagen, vielmehr wird man zu dem Schlusse gelangen, daß vielleicht einige Mäuse die drohende Gefahr bemerkten, dann sofort Generalmarsch schlugen oder pfiffen, worauf sich die ganze Gemeinde schnell versammelte und nun überlegte, ob Einzelflucht vorzuziehen, oder ob man in geschlossenem Gliede sich der Führerschaft eines Mäuseritters anvertrauen solle.

Katzenelnbogen, im März. C. Caesar.     




Berichtigung. In Nr. 6. der diesjährigen Gartenlaube ist unter „Polytechnicum der Gartenlaube“ auch der Trüffelplantagen in Frankreich gedacht, und der Herr Verfasser jenes Aufsatzes scheint das Geheimniß über den Trüffelbau als gelöst betrachten zu können. Da von den Hunderttausenden von Lesern der Gartenlaube sich gewiß der größte Theil gern durch ihre Aufnahmen belehren läßt, so sehen wir uns veranlaßt, eine Unrichtigkeit, die hier in Betreff des Trüffelbaues auftaucht, in die richtige Bahn zu lenken, zumal da auch die geehrte Redaction zu dergleichen Berichtigungen stets ein freundliches Entgegenkommen zeigt.

Bei der Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 hatte ein sehr angesehener Herr, Namens Rousseau, Eichen aus Carpentras (dem Orte der größten Trüffelzucht) nach Paris versetzen lassen, um der Welt zu zeigen, daß es nur der Eichen oder deren Früchte bedürfe, um sich seine Trüffeln selbst erzeugen zu können. Die Trüffeln wurden wirklich gefunden – und mancher Besucher mag sich zu Gunsten des großen Trüffelzüchters einen Plan für eine solche Trüffelplantage in seiner Heimath schon in Paris zurechtgelegt haben. Die Jury entdeckte jedoch bei näherer Untersuchung, daß das Ganze ein Blendwerk, ein Betrug war, der, um ihn einigermaßen zu entschuldigen, vielleicht nur eine Reclame, ein Hinweis auf die Trüffelzucht in Carpentras sein sollte. Die Trüffeln waren, nachdem man mit einem runden, spitzen Holz Löcher gebohrt, in diese hineingelegt und mit Erde überfüllt worden. – Da es eben ein wirklich angesehener Mann war, der sich diesen Betrug hatte zu Schulden kommen lassen, so haben die meisten Ausstellungsberichte darüber geschwiegen, und nur einige französische, aber fast alle deutschen Gartenzeitungen hatten sich’s zur Aufgabe gemacht, die ganze Trüffelaffaire in das wahre Licht zu stellen. Allein auch abgesehen von allen schriftlichen Erörterungen wird Jeder, der einigermaßen einen tiefern Blick in die große Werkstätte der Natur hat thun können, gefunden haben, daß jedwede Pflanze an gewisse klimatische und noch mehr an bestimmte Bodenverhältnisse gebunden ist, und daß mit einem Samenkorn nicht auch zugleich die Bedingungen für das Wachsthum zwei verschiedenartiger Pflanzen (wie hier Eiche und Trüffel) translocirt werden können.

Der Gärtnerverein zu Leipzig.     



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unter diesem Titel wird die Gartenlaube von sachkundigen Händen eine Reihe trefflicher Schilderungen und Abbildungen veröffentlichen, die zunächst den Zweck haben, Hinweisungen für Sommerreisen und Touristenausflüge zu ertheilen, wobei namentlich noch minder bekannte Zielpunkte in’s Auge gefaßt werden sollen. Die Redaction.