Zum Inhalt springen

ADB:Büchner, Ludwig

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Büchner, Ludwig“ von Franz Staudinger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 459–461, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:B%C3%BCchner,_Ludwig&oldid=- (Version vom 1. Dezember 2024, 08:28 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Nächster>>>
Candidus, Carl
Band 55 (1910), S. 459–461 (Quelle).
Ludwig Büchner bei Wikisource
Ludwig Büchner in der Wikipedia
Ludwig Büchner in Wikidata
GND-Nummer 118667939
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|55|459|461|Büchner, Ludwig|Franz Staudinger|ADB:Büchner, Ludwig}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118667939}}    

Büchner *): Ludwig B., geboren am 28. März 1824 in Darmstadt, das fünfte unter den sieben Kindern des aus Reinheim bei Darmstadt stammenden großherzoglich hessischen Medicinalraths Büchner von dessen Gattin Karoline geb. Reuß. Der Vater hatte nach bewegtem Wanderleben, das ihn in Holland in die Armee des Königs Louis Napoleon und mit diesem nach Paris führte, feste Heimath als Arzt an der hessischen Landesirrenanstalt, dann im Medicinalcollegium des Ministeriums gefunden; er starb 80jährig im J. 1862. Von den Kindern haben sich vier einen Namen gemacht, der Aelteste, Georg (geb. 1814, † 1837), der nach politischer Flüchtlingszeit als Privatdocent in Zürich früh verstorbene Verfasser von „Dantons Tod“ (s. A. D. B. III, 488), Luise (geb. 1821, † 1877), besonders durch das Buch „Die Frauen und ihr Beruf“ bekannt, der Litterarhistoriker Alexander (geb. 1827), Professor in Caen, und vor allem Ludwig, der Verfasser von „Kraft und Stoff“.

Ludwig, als Kind der lockige Liebling der Mutter und der Damen, machte, nachdem er eine überstrenge, aber durch nebenhergehende Ungebundenheiten gemilderte Gymnasialzucht mit einem guten Examen als Achtzehnjähriger abgeschlossen hatte, seine Studien als Mediciner in Gießen und Straßburg. Obwohl seine Neigung ihn mehr zur Philosophie hinzog, war er einer der fleißigsten in seinem Beruf, aber er nahm auch an allgemeinen Interessen Theil, förderte freiere Bewegung unter der Studentenschaft und begründete den anfangs großen, nachher wieder in einzelne Corporationen zerfallenden Studentenbund Alemannia. 1848 schrieb er mit August Becker am „Jüngsten Tag“, half Karl Vogt in die Nationalversammlung bringen und exercirte eine Abtheilung der Bürgerwehr, die aber „ihren wichtigen Pflichten mehr in [460] den Wirthshäusern als auf dem Schlachtfeld oblag und die öffentliche Ordnung durch das Mittel der Unordnung aufrecht erhielt“. Das hinderte ihn nicht, im Herbst sein Examen magna cum laude zu machen, wobei er in der Disputation den für die Denkrichtung seines Lebens maßgebenden Satz vertheidigte: „Die persönliche Seele ist ohne ein materielles Substrat undenkbar“. Auf der Heimreise wäre er in Frankfurt beinahe von den gerade dort einziehenden Oesterreichern abgefaßt worden, die, da er sein Gewehr bei sich hatte, wahrscheinlich kurzen Proceß mit ihm gemacht hätten.

In Darmstadt half er seinem Vater in der Praxis, setzte aber seine wissenschaftlichen Studien fort, die ihn bald weiterhin bekannt machten, u. a. bewirkten, daß er zum Ehrenmitglied und Correspondenten des badischen Aerztevereins gewählt und dann als Assistent von Professor Rapp mit der Berechtigung, Vorlesungen zu halten, für 400 Gulden Gehalt nach Tübingen berufen wurde. Die Lectüre der Werke verschiedener moderner Gelehrten, besonders Moleschott’s, und die 1854[1] in Tübingen abgehaltene Naturforscherversammlung regten ihn zu der Abfassung seines Buches „Kraft und Stoff“ an, und durch dies ward er mit einem Schlage eine europäische Berühmtheit. Aber – Wechsel der Zeit! – dieselbe Tendenz, auf die hin er 1848 mit Lob hatte disputiren können, brachte ihm nunmehr Entlassung von seiner Stelle. Er mußte wieder nach Darmstadt zurückkehren und sich durch ärztliche Praxis erhalten. Das hinderte ihn jedoch nicht, wissenschaftlich weiter thätig zu sein und auch seiner zweiten Seele, der künstlerisch-litterarischen, die besonders sein ehemaliger Lehrer Georg Zimmermann in ihm geweckt hatte, zu huldigen. Ein später (1885) bei Schäbelitz[2] in Zürich erschienenes Buch „Der neue Hamlet“ und einige Trauerspielfragmente legen davon Zeugniß ab.

Im J. 1860 vermählte er sich mit Sophie Thomas, der Tochter eines Frankfurter Gelehrten, die ihm vier Kinder schenkte, sein Haus zu einem behaglichen Mittelpunkte edler Geselligkeit zu machen wußte und ihm bei seiner Arbeit helfend zur Seite stand. Diese Arbeit war nicht gering. Neben seinem Berufe hatte er ein gelehrtes Studium und eine riesenhafte Correspondenz, sowie umfassende gemeinnützige Thätigkeit zu bewältigen. Er war Gründer und Vorsitzender eines Arbeitervereins, als welcher er 1863 der berühmten Frankfurter Versammlung präsidirte, in der Lassalle sprach; ihn schätzte er als Freund der Unterdrückten und als Geist hoch, meinte jedoch, er wolle „mit einem Schlage erreichen, was erst in langer Zeit sich entwickeln könne“. Er war sodann dreißig Jahre lang erster Sprecher des Turnvereins, einige Zeit auch Stadtverordneter und Landtagsabgeordneter, legte diese Stellungen aber später wegen Zeitmangels nieder. 1878 ging er, einem Rufe von amerikanischen Freunden folgend, nach Amerika zu einer großen Vortragstour, die ihm viel Beifall brachte und zugleich die materiellen Grundlagen zu einem sorgenfreieren Leben legen half. 1880 war er in Paris Redner bei der Diderot-Feier, 1881 Begründer und Vorsitzender des deutschen Freidenkerbundes, 1887 Mitbegründer des Bundes für Bodenreform. Dabei war er stets mit Fortbildung seiner wissenschaftlichen Lehren beschäftigt. Die Vorgänge in der Naturwissenschaft und Philosophie hat er bis an sein Ende – 1. Mai 1899 – verfolgt.

Als Philosoph bekannte er sich zur „materialistischen Weltanschauung“, die er außer in „Kraft und Stoff“, das 21 Auflagen und 15 Uebersetzungen erlebt hat, in einer ganzen Reihe von Werken und Aufsätzen mit umfassenden naturwissenschaftlichen Erkenntnißmitteln vertrat. Wenn er auch Kant und seine Nachfolger, wie auch F. A. Lange nicht in ihren methodischen Grundlagen zu würdigen vermochte, so muß doch gesagt werden, daß der so oft von [461] spiritualistischen Dogmatikern erhobene Vorwurf, als wolle sein Materialismus das Geistige aus todter Natur erzeugen und erklären, absolut aus der Luft gegriffen ist. Wieder und wieder hat er sich gegen diese Unterstellung gewehrt und betont, daß man ebensowenig erklären könne, wie die Gehirnzellen es machen, um geistige Vorgänge zu erzeugen, als wie der elektrische Funke in einer Secunde 60 000 Meilen zurücklegen könne. Er sagt sogar später, daß man den Materialismus, den er auch gelegentlich Monismus nennt, vielleicht besser anders bezeichne und meint, der Freidenker könne sich dieser oder jener Lehrmeinung zuwenden, aber „die Anerkennung einer in sich ruhenden, nach Ursache und Wirkung verknüpften Weltordnung“ und einer „auf den Resultaten der Wissenschaft beruhenden“ Weltanschauung müsse zu Grunde liegen. Er wendet sich stets nur gegen die Versuche, „extra- oder transmundane“ Erklärungen hereinbringen zu wollen, ist also nicht, wie man ihm vorwirft, materialistischer Dogmatiker, sondern naturwissenschaftlicher Methodiker. Das zeigt sich auch darin, daß er zwar gegen den dogmatischen Agnosticismus des „Unknowable“ ankämpft, selbst aber betont, daß wir vieles wahrscheinlich nie wissen können. Wenn er sich nicht auf den erkenntnißkritischen Gesichtspunkt, der übrigens auch nach Kant für die Naturbetrachtung genau auf dasselbe hinauskommen muß, zu versetzen vermag, so mag man dass einen Mangel nennen. Die Energie aber, mit der er sich gegen die methodischen Verfälschungsversuche in der Naturwissenschaft wehrt, wird stets alle Achtung verdienen, und die Geringschätzung seitens aller der Dogmatiker, welche ihren Beruf für Philosophie, um mit F. A. Lange zu reden, nur durch grenzenlose Verachtung des Materialismus documentiren zu können meinen, wird ihm den Ruhm nicht streitig machen können, daß er in einer Zeit der finstersten Reaction den Muth fand, die Strahlen klareren und besseren Erkennens in das Volk zu werfen.

Von Schriften L. Büchner’s führen wir die folgenden an: 1. „Das Od“, Darmstadt 1854; 2. „Kraft und Stoff, oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung“, Frankfurt 1855; 3. „Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde“, ebenda 1857; 4. „Physiologische Bilder“, 2 Bde., 1861–75; 5. „Aus Natur und Wissenschaft“, 2 Bde., ebenda 1862–84; 6. „Herr Lassalle und die Arbeiter“, Vortrag, Frankfurt 1863; 7. „Das Alter des Menschengeschlechts“ etc. Nach dem Englischen von Sir Charles Lyell, Leipzig; 8. „Die Darwin’sche Theorie“ etc., ebenda 1868; 9. „Der Mensch und seine Stellung in Natur und Gesellschaft“, ebenda 1869; 10. „Gott und die Wissenschaft“, ebenda; 11. „Aus dem Geistesleben der Thiere“, Berlin 1876; 12. „Liebe und Liebesleben in der Thierwelt“, Leipzig; 13. „Licht und Leben“, 3 Vorträge, ebenda 1882; 14. „Die Macht der Vererbung“, Leipzig 1882; 15. „Der Fortschritt in Natur und Geschichte“, Vortrag, Stuttgart; 16. „Thatsachen und Theorien aus dem naturwissenschaftlichen Leben der Gegenwart“, Berlin 1887; 17. „Ueber religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung“, Leipzig; 18. „Das künftige Leben und die moderne Wissenschaft“, Leipzig 1889; 19. „Zwei gekrönte Freidenker“, Leipzig 1890; 20. „Freunde und Gegner aus dem geistigen Leben der Gegenwart“, Leipzig 1890; 21. „Das goldne Zeitalter oder das Leben vor der Geschichte“, Berlin 1891; 22. „Das Buch vom langen Leben“, Leipzig 1892; 23. „Darwinismus und Socialismus“, Leipzig; 24. „Meine Begegnung mit Ferd. Lassalle“, nebst 5 Briefen Lassalle’s, Leipzig; 25. „Am Sterbelager des Jahrhunderts“, Gießen; 26. (posthum) „Im Dienste der Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze aus Natur und Wissenschaft“ mit biographischem Vorwort von Prof. Alexander Büchner. Gießen. Dies Vorwort nimmt auf eine unvollendete Selbstbiographie Ludw. Büchner’s Bezug.


[459] *) Zu Bd. XLVII, S. 329.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 460, Z. 15 v. o. lies: 1853 (statt 1854). [Bd. 55, S. 904]
  2. S. 460, Z. 24 v. o. lies: Schabelitz. [Bd. 55, S. 904]