Ferdinand Hiller †
Schroffere Gegensätze, als die Musikgeschichte der letzten siebzig Jahre sie bietet, sind in so kurzem Zeitraume und in so stärkstem Maße wohl in keiner Kunstgeschichte zu finden. Auf der einen Seite das offenbare Streben, in der Oper und in der Instrumentalmusik eine Umkehr wo möglich noch hinter Mozart zu bewirken, ein Festhalten an alten morschen Regeln, ein offenes und geheimes Wirken gegen alles Fortschreiten auf der andern Seite ein immerwährendes Vorwärtsstürmen, ein Verhöhnen und Ueberschreiten aller Gesetze. Und was noch wichtiger: ein Hineinziehen von allgemeinen Angelegenheiten in die Kunst, ein Vermengen der Begriffe, daß zuletzt die eigentliche Kunstfrage, die Bedeutung des Kunstwerkes als solches zurücktritt vor der Frage nach der Tendenz des Künstlers, nach seiner Lebensanschauung. Wir haben bei dieser Betrachtung nicht etwa nur die Schriften und Theorien Richard Wagner’s im Sinne (die wir von den Musikwerken dieses hochgenialen Meisters scharf trennen). Seine Bücher und Artikel sind nur das sichtbare feste Ergebniß einer Bewegung, die lange vorher begonnen hatte. Wir haben einmal in einem Buche[1] durch Citate bewiesen, daß die meisten der Hauptsätze in „Oper und Drama“ von Richard Wagner schon im Anfange des Jahrhunderts von Tieck, Friedrich Schlegel, Wackenroder u. A. ausgesprochen worden waren. Liszt und Berlioz haben lange vor Richard Wagner’s Erscheinen in einzelnen Schriften Principien aufgestellt, die Wagner in ein System brachte. Und vor 60 Jahren hat Zelter (der Dirigent der Berliner Singakademie, der Freund Goethe’s) gegen Weber’s „Freischütz“, hat Spohr gegen Beethoven’s Symphonien noch weit Aergeres geschrieben, als je der edle Hiller gegen Wagner.
Und ein wahrhaft edler Künstler ist mit Hiller dahingeschieden, ein Mann, dem das eigenthümliche Schicksal beschieden war, daß er aus friedlichster Entwickelung in die Kämpfe stürmischester Umschwünge und Neubildungen mitthätig eintrat.
Er war, am 24. Oktober 1811 in Frankfurt a. M. geboren, der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns. Frühzeitig entwickelte sich sein musikalisches Talent; Ludwig Spohr, dem er bei dessen Durchreise vorgeführt ward, äußerte sich beifällig und rieth dem Vater, den talentvollen Knaben unter Hummel’s Leitung zu bringen. Der berühmte Komponist und Pianist lebte als Hofkapellmeister in Weimar, und der alte Herr Hiller scheute die weite unbequeme Reise nicht, um dem Sohne den Unterricht des hochberühmten Meisters zu verschaffen. Der junge Hiller verbrachte mehrere Jahre in Weimar, ward von Goethe protegirt, der ihm ein kleines Gedicht widmete (es steht in der Sammlung „An Personen“), ging 1827 mit dem Meister nach Wien und lernte dort Beethoven und Schubert kennen. Als er in das väterliche Haus zurückkehrte, brauchte er nicht an eine Verwerthung des Gelernten behufs des Erwerbes zu denken; er ging nach Paris und weilte dort, sich immer weiter ausbildend, im regen Verkehre mit den Bedeutendsten und Besten. Paris war in den dreißiger Jahren die tonangebende Stadt für Musik, besonders für die ausübende, wie für Mode; wer nicht dort das Diplom des Rufes erlangt hatte, der war in Europa fast unbekannt. In Paris gewann auch Hiller die ersten Erfolge als Komponist und Pianist. Nach siebenjährigem Aufenthalte in der französischen Hauptstadt verweilte er kurze Zeit in Frankfurt und ging dann nach Italien, um 1838 sein Glück als Opernkomponist zu versuchen, was ihm jedoch nicht gelang. „Romilda“, die er in Mailand vorführte, ward ungünstig aufgenommen.
Nun kehrte Hiller nach Deutschland zurück, komponirte das Oratorium „Die Zerstörung Jerusalems“, das bedeutenden Erfolg gewann, und begann seine Laufbahn als Dirigent, in der er unbestritten ganz Ausgezeichnetes leistete. In den verschiedenartigsten Richtungen und in den verschiedensten Städten ward er als ein Führer anerkannt, der mit geistreicher und idealer Auffassung große Energie und jene Sicherheit verband, welche sich den Mitgliedern des Orchesters mittheilt und sie zu feuriger Thätigkeit begeistert. In den Leipziger Gewandhauskoncerten, in Dresdener Abonnementskoncerten, in Düsseldorf als städtischer Kapellmeister, in Köln als Direktor des Konservatoriums und der Gürzenichkoncerte; als oberster Leiter vieler rheinischer Musikfeste und englischer „Festivals“ zeigte er sich ebenso hochbedeutend wie auf dem ganz entgegengesetzten Felde – als Kapellmeister der italienischen Oper in Paris 1850 bis 1852. Ebenso ehrenvolle Anerkennung gewann er als Pianist; er war der Erste, der es wagte, in Paris die letzten Sonaten 109 bis 111 im Jahre 1853 (wir haben sie gehört) vorzutragen. Auch in der Improvisation, in welcher sein Lehrer Hummel einst als der Erste galt, leistete er Bedeutendes. Seit dem Jahre 1850 wirkte er als Direktor des Kölner Konservatoriums, unternahm zwar öftere Ausflüge, widmete aber seine Hauptthätigkeit dem Institute; die letzten 25 Jahre hat er fast immer in Köln zugebracht. Er hob das Institut sowie das ganze Musikleben der Stadt zu glänzender Bedeutung; seine Verdienste werden unvergessen bleiben.
Hiller’s musikalische Natur gehörte entschieden der Mendelssohn’schen Richtung an, er war aber auch Verehrer der Schumann’schen Romantik und versuchte sie in manchen seiner Werke mit der Mendelssohn’schen Formschönheit zu vereinen – und das ging eben nicht.
In diesem inneren Zwiespalte traf ihn die ungeheure durch Richard Wagner hervorgerufene Bewegung. Es ist hier nicht der Ort, die Entwickelung und Bedeutung dieser großartigen Erscheinung darzulegen, wir haben nur deren Wirkung auf Hiller in Betracht zu ziehen. Ihm, dem feinfühligen, künstlerisch gleichmäßig Entwickelten, in Kunst und Leben die feinste Form Anstrebenden, ihm, dem Freunde Mendelssohn’s und Schumann’s, mußte die Bewegung als ein gänzlicher Umsturz erscheinen. Der vulkanische Ausbruch der Polemik, das Hineinziehen politischer, philosophischer und gesellschaftlicher Organisationsfragen in die rein künstlerischen; die unbedingte, als unbestreitbar antretende Entschiedenheit der Grundsätze, die Rücksichtslosigkeit der Angriffe, wie sie bei Richard Wagner und seinen Anhängern vorherrschen, dies Alles mußte gerade eine Natur wie die Hiller’s aufs höchste erregen. Und da er von jeher sich in schriftstellerischen Arbeiten geübt hatte, so lag es ganz nahe, daß er – anstatt als schaffender Künstler in fester, ruhiger abwehrender Stellung zu verharren – mit der Waffe des Schriftstellers in den Kampf eintrat, auch hier Erfolge anstrebte und gewann, wenn sie auch auf die Kunstangelegenheiten selbst nur wenig Einfluß übten.
Hiller’s schriftstellerische Thätigkeit bietet eine in ihrer Art merkwürdige Erscheinung. Er war unbestreitbar ein höchst gediegener, durch und durch gebildeter Musiker; er war auch ein sehr geistreicher Schriftsteller, sein Stil kann zu den elegantesten gerechnet werden. Und er hat sehr viel geschrieben. Wird man nun begreifen, daß solch ein Musiker, solch ein Schriftsteller kaum einen einzigen wahrhaft gründlichen Artikel, keine umfassende Studie über künstlerische Angelegenheiten der Musik veröffentlicht, daß er all seine Fachkenntniß, all seine Geschicklichkeit in geistreichen Feuilleton-Artikeln zersplittert hat? Nur so läßt es sich erklären, daß seine Schriften überall mit großem Vergnügen gelesen wurden, daß aber seine Urtheile über ernste Angelegenheiten nicht den Einfluß übten, der einem Manne wie Hiller wohl gebührte. Seine Artikel gegen Wagner, gegen die neudeutsche Schule, gegen Liszt’sche Komposition waren glänzend; sie sind Muster geistreicher Momentartikel (der Franzose nennt sie „causeries“, wir finden das deutsche Wort „Plauderei“ zu schwerfällig). Aber sie [368] bieten keine Grundlage für wissenschaftliche Betrachtung und Forschung. Hiller’s große Verdienste als Musiker sind bei seinen Lebzeiten nicht immer voll gewürdigt worden, aber wir sind fest überzeugt, sie werden am Rhein unvergeßlich bleiben; seine schriftstellerischen Arbeiten dagegen, die Sammlung seiner Artikel „Aus dem Tonleben“, „Briefe an eine Ungenannte“, „Künstlerleben“ haben immer die günstigste Aufnahme gefunden – Nachwirkung werden sie nicht üben.
Als Mensch war Hiller ein liebenswürdiger Ehrenmann. Sein Gemüth kannte kein Falsch; er war ein verläßlicher Freund; wo seine künstlerischen Ueberzeugungen nicht verletzt waren, konnte jeder tüchtige Musiker auf seine Unterstützung, auf sein Wohlwollen rechnen. Er hatte Schwächen – wer hat sie nicht? die starken Leute, denen keine Schwächen vorzuwerfen sind, haben gefährliche Fehler. Hiller war kein Genie, aber ein edler Künstler und ein guter Mensch. Und so wollen wir sein Andenken in Ehren halten! H. Ehrlich.
[368] Willkommen den Freunden und Verehrern des Verstorbenen und für alle unsere Leser sicher von großem Interesse wird der nachstehend abgedruckte Brief sein, den Hiller an Emil Rittershaus richtete, als dieser dem Meister in Köln am Ende des vorigen Jahres seine jüngste Gedichtsammlung „Am Rhein und beim Wein“ mit einer poetischen Widmung zusandte:
Liebster Freund! Das haben Sie gut gemacht, aber es war fast des Schönen zu viel! Die Sonne vergoldet den Rhein, als habe sie auf der ganzen großen weiten Welt nichts Anderes zu thun als ihm zu schmeicheln! Ich vergaß mich in dem Anblicke (sich zu vergessen, gehört bekanntlich zu den besten Dingen) und da kommt Ihr holdseliges Büchlein ‚Am Rhein und beim Wein‘ mit der Aufschrift ‚Respekt! Es kommt der Jubilar, der Wein von 84‘. Sie sind der Jubilar, lieber Rittershaus; ich weiß nicht, von welchem Jahrgang, aber sicherlich von jedem, der uns am Rhein etwas Gutes und Schönes gebracht hat. Die gepriesensten Weine sind nicht erfrischender, belebender, männlich stärkender als die Lieder, die Sie mit zauberhafter Schnelle Ihrem Geiste entschlagen, wie der Stahl dem Kiesel seine Funken. Wieviel Herrliches enthält Ihr neues Büchlein! Was es Schönes, Gutes und Großes in dem Leben von uns gemeineren Sterblichen giebt, kommt an die Reihe. Freilich keine Descendenztheorie, keine Komma-Bacillen, keine ägyptische Weisheit, weder alte noch moderne, keine chinesische Diplomatie! Aber alle die alten und doch nie veraltenden Neigungen, Wünsche, Freuden, welche das Menschengeschlecht gewohnt ist mit einem Worte Glück zu nennen: der trauliche Freundeskreis, das Erwachen des Frühlings und der Liebe, das Athmen im Freien, die Treue den Genossen, die Brüderschaft in seinem Volke – und durch dies Alles windet sich die herrliche deutsche Rebe – ein Symbol begeisterter Einigkeit! Ich gestehe es, als mein Blick auf Ihr Büchlein fiel und ich ihn dann wendete auf die vorüberströmenden Wogen des Rheins, da mußte ich mir eine Thräne im Auge zerdrücken, – ich griff jedoch zur Homöopathie und ein Becher alten Weines machte wieder gut, was der Anblick des guten alten Vaters zu verderben im Begriff gewesen war. Nun aber macht Euch auf, Freunde und Genossen, und legt die Hand auf die neue Spende Emil’s. Schwört auch Mancher von Euch auf andere Farben, als auf die, die der goldenen Rebe entsprießen, in der Hauptsache sind wir einig: der Rheinberger und der Reinthaler und der Reinecke und der Bruch und der Brahms und der Brambach und so viele Andere innerhalb und außerhalb unserer ‚sogenannten‘ Grenze – sie Alle werden sich einstellen, wie ihre Namen auch klingen mögen, ihre Töne klingen ja gut und das ist die Hauptsache.
Werde ich aber noch mitthun dürfen? Der Himmel weiß es. Aber etwas Besseres will ich thun, was ich eigentlich nicht thun dürfte, doch wenn der Zweck ein guter und das Mittel ein unschuldig-unerlaubtes, so wird mir wohl Absolution gewährt werden, und derjenige, der mich strafen oder mir verzeihen kann – vor dem ängstige ich mich nicht, es ist mein vortrefflicher Freund Rittershaus! Zu stolz machen mich die Verse, die er mir gewidmet, zu viele Freude werden sie Anderen machen, als daß ich sie nicht dem ‚offenen Briefe‘ zugesellen sollte. Mag man mich darum beneiden oder schelten – im Grunde des Herzens wird man mir Recht geben.
Was beim Wein mir in den Sinn
Kam in manchen Jahren,
Was ich von der Winzerin
Beim Pokal erfahren,
Was in duft’ger Frühlingspracht
Aufging in der Seele,
Was in froh durchschwärmter Nacht
Klang aus meiner Kehle,
Was mir an des Rheines Strand
Sagten luft’ge Geister,
Leg’ ich heut in Deine Hand,
Theurer, würd’ger Meister!
Bist ja selbst des Weinlands Kind,
Stammst aus Rebengauen!
Wolle freundlich, mild gesinnt
Auf die Verslein schauen,
Die gesungen frisch und keck
Hinter’m Glas der Zecher! –
Philosophisch’ schwer’ Gepäck
Paßt nicht zu dem Becher,
Paßt nicht, wenn zur Weinlandsfahrt
Wir das Ränzel schnüren –
Doch ich denk’, die Rheinlandsart
Wirst Du drin verspüren! –
Aber willst Du recht erfreu’n
Den, der sang die Reime,
Eh’ die Wolken Flocken streu’n,
Komm’ zu meinem Heime,
Setz’ Dich auf den Ehrenplatz,
Freund, an meinem Tische!
Meines Kellers schönster Schatz,
Meister, Dich erfrische!
Fröhlich soll dann sonnenwärts
Unser Sinn sich kehren –
Und empfinden soll’s Dein Herz,
Wie wir Dich verehren!
Köln, den 27. November 1884.
- ↑ Die Musik-Aesthetik in ihrer Entwickelung von Kant bis auf die Gegenwart.