Gefesselte Regierung
[1] Gefesselte Regierung von Hellmut v. Gerlach
Vor ein paar Wochen war es, in einer großen Provinzialstadt Preußens. Nach dem Diner saßen die Herren zusammen im politischen Gespräch, lauter bessere Leute, Deutschnationale oder so ähnlich. Nur ein Jude war unter ihnen, noch vor kurzem sehr reich und darum selbst für diesen exklusiven Kreis gesellschaftsfähig. Die deutschnationalen Herren hatten sämtlich starke Bedenken gegen die Regierung Papen, natürlich nicht gegen ihre Gesinnung, aber gegen ihre Fähigkeiten. Der jüdische Exmillionär war der Einzige, der Papen verteidigte: „Was wollen Sie, meine Herren, der Mann ist doch der letzte Schutzwall gegen den Bolschewismus.“
Diesem Papenfreund hätte ich gewünscht, am 29. Juni in dem Zuge der U-Bahn zu sitzen, der um Mitternacht Bahnhof Nollendorfplatz einlief, Wagen für Wagen bis auf den letzten Stehplatz mit jugendlichen Hakenkreuzlern gefüllt, die, offenbar stark alkoholisiert, mit hervorquellenden Augen ununterbrochen brüllten: „Juda verrecke! Juda verrecke!“ Ein paar gewöhnliche Sterbliche, die keine Fahrkarte ins Dritte Reich gelöst hatten, saßen mitten zwischen den Horden. Wäre einer dieser Sterblichen Freiherr von Gayl gewesen, wären ihm vielleicht doch Bedenken über die Auswirkungen seiner Nazipolitik gekommen.
Sofort als die Regierung Papen-Schleicher ernannt worden war, wurde sie an dieser Stelle als gleich katastrophal in innen- wie außenpolitischer Beziehung bezeichnet.
Zu den Zeiten des Kaisertums gab es einen Augenblick, wo man von der Reichsverdrossenheit der Süddeutschen sprach.
Für das, was die Regierung Papen-Schleicher in den wenigen Wochen ihrer Existenz in Süddeutschland erzeugt hat, ist der Ausdruck „Reichsverdrossenheit“ ganz unangemessen. Gewiß, verdrossen ist man, mehr als das, verärgert, mißtrauisch, beunruhigt gegenüber dem, was aus Berlin von den Herren ohne Volk diktiert wird. Aber zum Reich steht man in unverbrüchlicher Treue. Man sieht nur schwerste Gefahren über das Reich heraufziehen, wenn ihm weiter ein ostelbischer Kurs aufgezwungen werden soll.
Man fügt sich auch der neuesten Notverordnung, obwohl sie den Süddeutschen ihren Ordnungskurs außerordentlich erschwert. Steht es doch so, daß sie, wie das halbamtliche Organ der bayrischen Regierung feststellt, „sich in der Hauptsache gegen die Länder richtet, in denen die blutigen Krawalle nicht vorgekommen sind, unter denen seit langem das ganze norddeutsche Reichsgebiet leidet“. Man warnt:
Um im Rahmen des Möglichen wenigstens vom bayerischen Staatsgebiet die Krawallpolitik der Straße einigermaßen fernzuhalten, erwächst nun für die bayerischen verantwortlichen Stellen die selbstverständliche Pflicht, die Bestimmungen dieser Notverordnung, solange sie nicht zu beseitigen ist, so auszuschöpfen, daß die Staatsautorität nicht noch weiteren Schaden leidet als den, der ihr von oben her schon zugefügt worden ist. Das tun, ist keine Bekundung einer Obstruktion, des passiven Widerstandes oder sonst einer Oppositionsstellung [2] gegen das Reich. Das ist einzig eine aus den kommenden Zuständen ganz von selbst erwachsende Separation der Ordnungliebenden, für die auch das Reichskabinett von Papen Bayern noch Dank wissen wird.
Konflikte von unübersehbarer Konsequenz künden sich an: Die neue Notverordnung verfügt:
I. Allgemeine Demonstrationsverbote treten außer Kraft.
II. Die Landesbehörden können in Einzelfällen Verbote veranlassen.
III. Hat der Reichsinnenminister gegen ein solches Verbot Bedenken, kann er die Landesbehörde um Aufhebung ersuchen.
IV. Entspricht die Landesbehörde diesem Ersuchen nicht, so kann er das Verbot aufheben.
Was ist der langen Rede kurzer Sinn? Freiherr von Gayl wird in Demonstrationssachen Polizeidiktator über ganz Deutschland.
Freiherr von Gayl ist stockreaktionär, aber immerhin der beste politische Kopf im Kabinett. Wenn ein Mann mit Urteilsvermögen wie er die Dinge in Süddeutschland auf die Spitze treibt, die juristische Verantwortung für die Übertragung der norddeutschen Unordnungszustände auf Süddeutschland übernimmt, das Verbot der führenden Blätter der beiden größten Oppositionsparteien (‚Vorwärts‘ und ‚Kölnische Volkszeitung‘) fordert, der SA in einer Weise die Straße freigibt, daß sie heute kein ordentlicher Familienvater mehr zu betreten wagt, wenn er sich nicht im Besitz einer Lebensversicherung befindet, so fragt man sich, was ihn dazu veranlaßte.
Die Antwort hat Ministerpräsident Doktor Bolz, ein sehr weit rechtsstehender Zentrumsmann, im württembergischen Landtag gegeben, als er erklärte, „man habe den Eindruck gehabt, daß die Reichsregierung Bedingungen eingegangen sei, die man der württembergischen Regierung auf schriftliche Anfrage nicht habe mitteilen wollen“.
Sehr begreiflich! Man genierte sich, weil man sich zu genieren allen Grund hatte. Die Geheimdiplomatie des Kaiserreichs ist abgelöst worden durch die innere Geheimpolitik der sozusagen republikanischen Regierung Papen-Schleicher.
Die Geheimakten aus der Kriegs- und Vorkriegszeit sind veröffentlicht worden. Wann werden die Geheimakten über den Vertrag veröffentlicht werden, den Hitler oder seine Beauftragten mit den Herren von Papen und von Schleicher oder ihren Vertrauensmännern abgeschlossen haben?
Daß eine Abmachung vorliegt, hat ein Mann von dem amtlichen Gewicht des Ministerpräsidenten Bolz erklärt. Läge sie nicht vor, hätte die Reichsregierung auf die schriftliche Anfrage aus Stuttgart nur zu erwidern brauchen, daß sie keine Bedingungen eingegangen sei.
Die Bedingungen, die Hitler eingegangen ist, sind ungefähr bekannt. In dem vertraulichen Rundschreiben des Reichspropagandaleiters der NSDAP Doktor Goebbels hieß es:
Jede Diskussion über das Kabinett von Papen hat seitens aller Parteistellen in diesem Wahlkampf zu unterbleiben, um jedem derartigen Versuch unsrer Gegner von vornherein die Spitze abzubrechen.
Die Verpflichtungen der Reichsregierung Herrn Hitler gegenüber sind unbekannt. Ausdrücklich hat sie sich geweigert, sie nach Stuttgart mitzuteilen.
[3] Die Auswirkungen der Verpflichtungen sieht man. Sie sprechen dafür, daß die Verpflichtungen sehr schwerer und unerbittlich bindender Natur sind.
Unsre innern Zustände sind katastrophal. Mit jedem Tage, der uns dem Wahltermin näher rückt, werden sie katastrophaler werden. Mit einer gewissen hochmütigen Verachtung sprach man vor dem Kriege bei uns von den „blutigen“ Wahlen in Galizien und Ungarn. Die blutigen Opfer, die schon bis jetzt der deutsche Wahlkampf infolge der Freilassung der SA gefordert hat, übersteigen die gesamte Verlustliste irgend eines Wahlkampfes in irgend einem östlichen Lande.
Und wie steht es außenpolitisch? Sind da wenigstens Kompensationen gegenüber den innern Niederlagen erreicht worden? Ich hoffe, daß es gestattet ist, in diesem Zusammenhang wenigstens den Herrn von Papen sonst so unlieb gewordenen Ausdruck „Kompensationen“ ohne üble Folgen gebrauchen zu können.
Herr von Papen hatte es unvergleichlich leichter in Lausanne, als es jemals Brüning bei seinen Verhandlungen mit Frankreich gehabt hat. Sein Gegenspieler ist nicht Laval sondern Herriot. Laval war Nationalist und stützte sich auf eine nationalistische Kammermehrheit. Herriot ist Pazifist und hat die bei den letzten Wahlen siegreiche Linksmehrheit hinter sich. Niemals wird ein deutscher Kanzler mit einer bessern französischen Mehrheit und mit einem friedenswilligern Ministerpräsidenten rechnen können.
Erst klangen die Nachrichten aus Lausanne auch gar nicht übel. Was Papen in gewissen Interviews gesagt haben sollte, schien ein bißchen links von Brüning zu liegen, also recht vernünftig zu sein.
Die Presse der Rechten drohte. Papen reiste nach Berlin. Papen dementierte. Natürlich ist sein Dementi lautere Wahrheit. Der Franzose hat ihn mißverstanden. Kein Mensch guten Willens und guten Glaubens darf mehr Herrn von Papen in dem Verdacht haben, daß er zu Stéphane Lauzanne so staatsmännisch gesprochen habe, wie dieser zu melden gewußt hatte.
Mit wem und über was mag Papen während seines Weekends in Berlin gesprochen haben?
Geheimpolitik!
Kaum war er wieder in Lausanne, so gewitterte es. Herr von Papen sprach jetzt bestimmt anders, als Stéphane Lauzanne ihn sprechen zu hören geglaubt hatte. Deutsche Rechtsblätter meldeten beglückt, er habe sich gegen Versailles und für deutsche Rüstungsgleichheit ins Zeug gelegt. Was er wirklich gesagt hat, ist authentisch nicht bekannt geworden. An authentischem Material liegt nur ein deutsches offiziöses Communiqué vor, dessen Verfasser offenbar in direkter Linie von der Pythia abstammt.
Nur ein Erfolg der berliner Papenreise liegt klar zutage: England und Frankreich, die vorher keineswegs besonders einig schienen, hatten mit einem Male wieder engste Tuchfühlung.
Das heißt, noch einen zweiten Erfolg kann Herr Papen für sich verbuchen: Deutschland wird in Zukunft keine Reparationen [4] mehr bezahlen, sondern nur noch einen „Beitrag zum Wiederaufbau Europas“, der allerdings in erster Linie Frankreich zugute kommen soll.
Hurra! Es ist geschafft. Das Kind hat einen andern Namen bekommen. Alle Kinder freuen sich.
Die Steuerzahler freilich werden sich sagen: Unter welchem Namen wir noch etliche Milliarden zur Wiedergutmachung der Schäden des von Wilhelm II. entfesselten Krieges zu zahlen haben, ist für unser Portemonnaie ziemlich belanglos. Lohnte es sich, die Brüningregierung zu stürzen, um eine von den Nazis abhängige Papenregierung zu bekommen, nur damit die deutschen Zukunftszahlungen unter ein andres Rubrum eingereiht würden?
Herr von Papen steht vor einer peinlichen Entscheidung. Entweder schluckt er den Hauptteil der Bedingungen, auf die seine Vertragsgegner sich geeinigt haben. Dann werden ihm zwar die vernünftigen Deutschen zustimmen, aber nicht die Leute, denen er seine Kanzlerschaft verdankt.
Oder er lehnt ab, bringt damit die Konferenz zum Scheitern (in der Diplomatensprache wird man es „vertagen“ nennen). Dann streuen ihm Schwarz-weiß-rote und Braune Palmen. Aber die deutsche Wirtschaft ist schlechter dran als vor Lausanne.
Stresemann befand sich wiederholt in ähnlicher Lage. Dann entschied er sich nicht für das leere Prestige, sondern für die realpolitische Notwendigkeit und Nützlichkeit, auch wenn er wußte, daß seine eigne Partei zunächst aufschreien würde.
Allerdings – Stresemann fühlte sich als freier Mann, obwohl er Minister war.