Seite:Alban Berg Was ist atonal 09.jpg

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eine Epoche mit vorwiegend polyphonem Charakter. Mit diesem Hinweis auf die Polyphonie ist in der sogenannt atonalen Musik ein weiteres Merkmal jeder echten Musik aufgezeigt, das nicht dadurch hinfällig gemacht werden kann, daß ihm der Spitzname „Linearität“ beigelegt wird.

Opp.: Da sind wir, glaube ich, bei einem springenden Punkt.

Berg: Ja, beim Kontrapunkt.

Opp.: Ganz richtig. Das Wesen der Vielstimmigkeit besteht ja in der Bei- und Unterordnung der Stimmen, solcher Stimmen nämlich, die ein Eigenleben haben. Die Gesichtspunkte dabei sind wohl auch harmonischer Natur; ich meine: das Eigenleben aller Stimmen ergibt ein zweites, ein neues Leben, das des Zusammenklangs. ...

Berg: ... das natürlich kein zufälliges, sondern ein bewußt Gestaltetes und Gehörtes ist.

Opponent: Nun, eben dieser Einwurf wundert mich eigentlich. Ist denn jenes elementar wirkende Zusammenströmen der atonalen Stimmen, die mir alle innere Gegensätzlichkeit zu entbehren scheinen, von der ein großes Innenleben bewegt ist, auch eine Angelegenheit des bewußten Gestaltens oder das Spiel eines von, zugegeben höchster Inspiration beschworenen Zufalls?

Berg: Auf diese Frage kann ich Ihnen – will ich nicht zu weitschweifig und theoretisch werden – nur mit einer aus der Erfahrung gewonnenen Wahrheit antworten. Aus einer Erfahrung, die ich nicht nur aus dem eigenen Schaffen schöpfe, sondern auch aus dem von Künstlern, denen die Kunst so heilig ist wie mir (so unzeitmäßig sind wir von der Wiener „atonalen“ Schule nämlich!): Kein Takt – und sei er von der kompliziertesten harmonischen, rhythmischen und kontrapunktischen Faktur – steht in dieser, unserer Musik, der nicht der schärfsten Kontrolle des Gehörs, des äußeren und des inneren Gehörs, unterworfen wäre, und für dessen Sinn, an sich sowohl als in der Stellung zum Ganzen, nicht ebenso die künstlerische Verantwortung übernommen wird, wie für die auch dem Laien sofort einleuchtende Logik eines ganz primitiven Gebildes, etwa eines einfachen Motivs oder einer simplen Harmoniefolge.

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Alban Berg: Was ist atonal?. 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Wien 1936, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alban_Berg_Was_ist_atonal_09.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)