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Und er blieb, zur Höhe eilend
Bittend vor dem Ewgen stehn,

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„Herr!“ sprach er, „hör Gnad erteilend

Schonend an der Erde Flehn!

Ich hab sie im Sonnenkleide
Also schuldlos schlummern sehn,
Aller Tränen Augenweide

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Unter meines Fittichs Wehn.


Als ich meine Flügel breitend
Sie mit meinem Flug erweckt,
Ihre Schmerzen tief mitleidend,
Hat mich ihr Geschrei erschreckt!“

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Und der Ewge sprach: „So steige

Zu der Jungfrau, Raphael,
Daß sie dir des Staubes reiche,
Bringe ihr des Herrn Befehl!“

Und der Seraph niederschweifet

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Überm blauen Wogenmeer,

Und die Erde lag umreifet
Von dem Abendglanz umher.

In dem roten Sonnenscheine
War sie so in Trauer schön,

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Stille lauschend, wie sie weine,

Blieb er auf den Wogen stehn.

Und von ihrem heißen Weinen
Wurden seine Flügel schwer,
Und er mußte mit ihr weinen

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Nieder in das dunkle Meer.


Da er in die Wogen weinet,
Da erbitterte das Meer,

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_131.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)