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Seite:Brentano Romanzen vom Rosenkranz A 026.jpg

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„Das Kindlein, das aus unseren Augen blicket,
Es wächst empor und schaut in unsere Augen
So mild, so wild, als wir es ausgeschicket“ –

daß Brentano in der Anmerkung zu dieser Stelle sagt, „es ist dies ein schöner Wahn, ja eine moralische Mythe von der tiefsten Bedeutung, die ich aus dem Glaubensbekenntnis meiner Amme habe“, – erinnern wir uns endlich, daß er das Bild vom „Kindlein im Auge“ auch in Briefen gebraucht, um eine unbefangene Unmittelbarkeit der Schauenden auszudrücken (Bf. an Steinle v. 3. I. 1838, Edw. v. Steinles Briefwechsel II. 12), so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Agnuskastus die symbolische Verkörperung einer Seeleneigenschaft darstellt, die dem Dichter selbst in seinem Leben häufig Anlaß zum Nachdenken gegeben, weil er ihre Wirkung fühlte. Diese Eigenschaft der Seele nun, die ganz besonders in Brentanos Leben hervortrat, ist die Wahrhaftigkeit des Gewissens, die tiefen Seelen eingegebene Kraft des Erkennens der Wahrheit durch alle Schleier der Leidenschaft und Trübsal, die Eigenschaft, welche theologisch mit den Worten: „anima naturaliter christiana“ ausgedrückt wird. Und nun verstehen wir auch, weshalb der Heiland seinem kleinen Lebensretter für das Geschlecht, dem dieser entstammte, diese Aufgabe auflud, und wir verstehen das Auftreten des Kindes in den Romanzen.

Dichterisch ist die Einführung dieses Kindes als handelnde Person ein überaus feiner Zug. Es erspart, gleich dem Chor in den Tragödien der Alten, dem Dichter alles Reflektieren, Monologisieren, hält den Gang der Ereignisse im Flusse und vermehrt das bunte Bild, das vor unseren Augen vorüberzieht, um eine liebliche, anmutende Erscheinung.

Die in den Notizen vorkommende Bezeichnung „Agnuskastus = Gegenchristus“ erklärt Morris (Romanzen LIII.) ganz richtig mit „eine von der Gestalt des Jesusknaben, wie ihn die Evangelien, Legende und die kirchliche Kunst zeigen, abgelöste selbständige Schöpfung“ – und gibt damit

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Petrus-Verlag G.m.b.H., Trier 1912, Seite XXVI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_A_026.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)