Seite:Chemische Briefe Justus von Liebig p 013.jpg

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Aber wenn sie als Träger und Verbreiter von Lehren auftreten, welche nichts für sich haben, als dass man ein halbes Jahrhundert darnach gewirthschaftet hat, denen alle und jede vernunftgemässe und dem Standpunkt der Chemie und den andern Naturwissenschaften entsprechende Begründung ermangelt, Lehren, die im Verlauf der Zeit die Quellen des Wohlstandes der ackerbautreibenden Bevölkerung zum Versiegen bringen müssten, so würde mir eine jede Rücksicht auf ihre Person und Stellung zur Verdeckung der Schwäche und Haltlosigkeit ihrer Gründe und ihrer völligen Unbekanntschaft mit den Anfangsgründen der Chemie und der Naturwissenschaften, ein Verbrechen an dem Gemeinwohl erscheinen.

Aus Mangel an wahrer Einsicht in ihren eignen Betrieb sind sie in ihrer Verblendung die schlimmsten Feinde der Wissenschaft, deren Ziel sie nicht begreifen.

Es sind in ihren Folgen zu ernste Dinge, um die es sich in der Erörterung wissenschaftlicher Fragen in der Landwirthschaft handelt, und es mag sich jeder vorher prüfen, ob er sie richtig versteht, ehe er das Wort ergreift.

Ein Hauptziel des praktischen Mannes ist wirksame Dünger aufzufinden, durch deren Anwendung unfruchtbare Felder fruchtbar und die Erträge des fruchtbaren verdoppelt werden, aber auf dem empirischen Wege mit verbundenen Augen werden sie nicht oder nur durch Zufall gefunden: der praktische Mann weiss nicht, dass man sich Jahre lang mit kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen abmühen muss, ehe man das Grosse begreift.

Der Weg, auf dem die Wissenschaft wirksame Dünger sucht, ist ein anderer, viel mühsamerer aber sicherer; dieser Weg ist doppelt schwierig, weil der Mann der Wissenschaft, der ihn einschlägt, nicht nur die irrigen Lehren in dem Gebiete der Praxis zu bekämpfen hat, sondern auch die Irrthümer in seiner eigenen Wissenschaft, die ihn als Kind seiner Zeit beherrschen und seinen Fuss zum Straucheln bringen; allein er weiss, dass die Erkenntniss eines Irrthums an sich ein Sieg und der Pfad zum Lichte dornenvoll und finster ist.

Die herrschende landwirthschaftliche Literatur hat keine Hülfe für die kleinen Gutsbesitzer, den kleinen Bauer, für den, welcher wenig oder kein Capital, kein gutes Ackerland, keine Wiesen, einen unzureichenden Viehstand und darum wenig oder keinen Stalldünger besitzt, und die, welche Handelsgewächse, Tabak, Hopfen, Flachs, Hanf oder Wein bauen, finden in ihr keine Belehrung, keine Einsicht in das Wesen ihres Betriebes, sondern nur unzureichende für gewisse Oertlichkeiten passende Vorschriften.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite XIV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_p_013.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)