Seite:Christliche Symbolik (Menzel) II 231.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Stunde nahet, ist ihm vergönnt, in’s Paradies zu fliegen; vom Baum des Lebens und vom Erkenntnissbaum bricht er sich dort die dürren, alten Zweige, in deren Flamme sich seine Glieder lösen. Die Zweige vom Baume der Weisheit bringen ihm Tod, die Flamme vom Baume des Lebens neue Jugend. Dann zieht er wieder in seine Wüste zurück, und trauert um das Paradies; der schöne, einzige, selten gesehene, noch seltener befolgte Vogel unsterblicher Wahrheit.“


Pilatus,

der berühmte römische Statthalter in Jerusalem, der bei völliger Gleichgültigkeit gegen die Händel, welche die Juden unter sich hatten, und trotz der Ueberzeugung, dass Christus unschuldig sey, denselben doch aus politischen Rücksichten dem Hasse des jüdischen Volkes aufopferte und kreuzigen liess. Das Vorbild aller weltlichen Herren, die sich indifferent gegen das Heilige verhalten. Die christliche Legende von Pilatus erhielt eine dreifache Ausbildung, indem sie zuerst von Römern, dann von Galliern, endlich von Deutschen aufgenommen wurde. Vgl. Mone, Anzeiger 1835, S. 421. 1838, S. 526.

Was zuerst die biblische Auffassung betrifft, so ist der Contrast des gefangenen Erlösers vor dem weltklugen Römer von hoher Schönheit. Dem Stellvertreter der römischen Weltherrschaft gegenüber sagt Christus auf die Frage, ob er der Juden König sey: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Ev. Joh. 18, 26 f. Nach den andern Evangelien spricht Christus: „Ich bin in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll.“ Da fragt Pilatus blasirt: „Was ist Wahrheit?“ – aber der Sinn ist derselbe. Pilatus erkennt seine Unschuld und Reinheit, will die Verantwortung seiner Hinopferung nicht übernehmen, mag aber auch die Juden nicht allzusehr reizen und überlässt daher ihnen selbst die Sache in der Art, dass er, indem er der Ostersitte gemäss, an der ein Verbrecher begnadet zu werden pflegt, ihnen die Wahl zwischen

Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_231.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2023)