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Man sieht, dass der tiefpoetische Gedanke des ersten Erwachens der schönen Welt aus der Nacht des Nichts, das Feierliche des ersten Morgenwehens der Schöpfung nur in unserer Genesis erfasst ist, während alle andern Kosmogonieen ihn haben fallen lassen. Man sieht ferner, dass die mosaische Lehre allein es ist, die in jenem ersten Erwachen das Unschuldige, die jungfräuliche Reinheit der Natur anerkennt, in der unbefangenen Weise, in welcher jede reine und gesunde Seele die Schönheit der Schöpfung anerkennen und bewundern muss. Gegen diese so natürliche und liebenswürdige Auffassung erscheinen die erwähnten heidnischen Auffassungen alle roh, oder durch finstere Nebengedanken getrübt. Anstatt der Erde ihren schönen Morgen, den Menschen ihr erstes kindliches Erstaunen über das wundervolle Werk der Schöpfung zu gönnen, beginnen sie schon mit dem vollen Bewusstseyn alles Weltelends, nicht mit kindlichen, sondern mit Greisesgefühlen.

Schon aus diesem innern Grunde macht die Genesis darauf Anspruch, die ältere und reinere Tradition zu bewahren, während alle andern Schöpfungslehren erst späteren Ursprungs und durch spätere Erfahrungen getrübt erscheinen, und keineswegs mehr das kindliche Bewusstsein der ersten Erdenbewohner bewahren.

Der ästhetische Grundcharakter der Genesis ist auch in andern biblischen Büchern festgehalten. Jeder neugeborne Mensch soll, dem ersterschaffenen gleich, kindlich das Wunder der Welt anstaunen und kindlich dem gütigen Schöpfer eines so schönen Werkes danken. So heisst es im 8ten Psalm: „Was ist der Mensch, dass du an ihn dachtest, und ihn erschufest und in diese schöne Welt setztest?“ Wie grell sticht dagegen die Lehre der Inder ab, die statt dieser demüthigen Gottesfurcht und kindlichen Freude eine greisenhafte Weltverachtung und ihr nil admirari voranstellen!

Im Stufengang der mosaischen Schöpfungslehre durch die sechs Tage, denen die Sabbathsruhe des siebenten folgt, ist mit weiser Oekonomie Alles ausgedrückt, was der kindliche

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Zweiter Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_II_343.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2022)