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Gnade

Christus selbst stellt die Gnade seines Vaters im neuen Testament öfters und zwar sehr bestimmt der Gerechtigkeit entgegen, die im alten Testament das Vorwaltende ist, wenn vom Verhältniss Gottes zu den Menschen die Rede ist. Daher auch im neuen Testament überall mehr die Gottesminne, im alten mehr die Gottesfurcht eingeschärft wird. Das fünfte Kapitel des Evangeliums Matthäus ist hier massgebend. Der alte Bund verlangt: Aug' um Auge, Zahn um Zahn; der neue verlangt: Wenn man dich auf einen Backen schlägt, so reiche auch den andern hin. Der alte Bund befiehlt: Liebe deinen Nächsten; der neue befiehlt: Liebet eure Feinde. Daher auch das Gebet: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Allerdings offenbart sich auch schon im alten Testament Gott in sanftem Säuseln, und bei Hiob und Tobias in der liebevollsten Milde. Doch ist das zürnende Donnern noch bei Jehovah vorherrschend, und erst im neuen Testament entfaltet sich die ganze Fülle göttlicher Gnade in dem Opfertod des Sohnes. Schon bei Ezechiel 33, 11. heisst es: „Gott hat kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre.“ Aber erst in den Evangelien sehen wir den Menschen den Trost und die Mittel gewährt, sich auch ohne eignes Verdienst durch göttliche Huld vom Falle zu erheben. Dennoch verlangt die christliche Lehre, dass keineswegs die Gnade allein im Sohne, die Gerechtigkeit allein im Vater solle gesucht werden, sondern der Sohn ist es, der am Weltende richten wird. Daher tritt dem strengen Christus wieder die heilige Jungfrau als milde Fürbitterin und Mutter der Gnaden zur Seite.

Der heilige Augustinus brachte in seiner tiefsten Zerknirschung die demüthige Ansicht auf: der Mensch sey durch und durch Sünder, sein innerstes Wesen sey Sünde und er könne aus eigner Macht, eignem guten Willen lediglich nichts ausrichten ohne die Gnade Gottes. Mithin sey der Glaube

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Erster Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_I_344.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)