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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

den niedersteigenden Theil der Aorta, an einem der Kunsthülfe völlig unzugänglichen Orte, durchbohrt hatte, bei der am folgenden Tage unternommenen gerichtlichen Section, so wie in dem darüber ausgefertigten Physikatsgutachten (den 2. Juli 1821), für unbedingt und absolut tödtlich erachtet wurde.

Der Mörder wurde gleich nach vollbrachter That ergriffen, bekannte selbige sofort unumwunden, recognoscirte vor dem Anfange der gerichtlichen Section, sowohl das bei ihm gefundene Mordinstrument, als den Leichnam der Ermordeten, und bestätigte die Aussagen der abgehörten Zeugen, so wie seine eigenen, nach allen Umständen bei den summarischen Vernehmungen und im artikulirten Verhöre.

Nachdem bereits die erste Vertheidigungsschrift eingereicht worden war (den 16. August 1821), fand sich der Vertheidiger, durch eine in auswärtigen öffentlichen Blättern verbreitete Nachricht, daß Woyzeck früher mit periodischem Wahnsinn behaftet gewesen, bewogen, auf eine gerichtsärztliche Untersuchung seines Gemüthszustandes anzutragen (am 23. August 1821).

In den dieserhalb mit dem Inquisiten gepflogenen fünf Unterredungen (am 26., 28. und 29. August; und am 3. und 14. September), führte derselbe zwar an, daß er sich schon seit seinem dreißigsten Jahre zuweilen in einem Zustande von Gedankenlosigkeit befunden, und daß ihm, bei einer solchen Gelegenheit einmal Jemand gesagt habe: du bist verrückt und weißt es nicht, zeigte aber in seinen Reden und Antworten, ohne alle Ausnahme, Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Ueberlegung, schnelles Auffassen, richtiges Urtheil und ein sehr treues Gedächtniß, dabei aber weder Tücke und Bosheit, noch leidenschaftliche Reizbarkeit oder Vorherrschen irgend einer Leidenschaft oder Einbildung, desto mehr aber moralische Verwilderung, Abstumpfung gegen natürliche Gefühle, und rohe Gleichgültigkeit, in Rücksicht auf Gegenwart und Zukunft. – Mangel an äußerer und innerer Haltung, kalter Mismuth, Verdruß über sich selbst, Scheu vor dem Blick in sein Inneres, Mangel an Kraft und Willen sich zu erheben, Bewußtseyn der Schuld, ohne die Regung, sie durch Darstellung seiner Bewegungsgründe, oder durch irgend einen Vorwand zu vermindern und zu beschönigen, aber auch ohne sonderliche Reue, ohne Unruhe und Gewissensangst, und gefühlloses Erwarten des Ausganges seines Schicksals waren die Züge, welche seinen damaligen Gemüthszustand bezeichneten. – Unter diesen Umständen fiel das von mir abgefaßte gerichtsärztliche Gutachten (den 16. Sept. 1821) dahin aus, daß:

1) der von dem Inquisiten (rücksichtlich seiner Gedankenlosigkeit u. s. w.) angeführte Umstand, obgleich zur gesetzmäßigen Vollständigkeit der Untersuchung gehörend, dennoch, weil er vor der Hand noch blos auf der eigenen Aussage des Inquisiten beruhe, bei der gegenwärtigen

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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_491.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)