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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

Malen, nämlich am 12., 26., 29. und 31. Januar und am 21. Februar 1823, und zwar das letztemal vorzüglich in der Absicht, um die wichtigsten Resultate der frühern Unterredungen einer nochmaligen Prüfung zu unterwerfen, jedesmal anderthalb bis 2 Stunden lang, aufs genaueste exploriret, und dabei nachstehendes ersehen und beobachtet.


I. Bei Durchsicht der Akten


Der Inquisit Woyzeck stammt von durchaus rechtschaffenen Eltern, die ihren gesunden Verstand bis an ihr Ende behalten, und nie eine Spur von Tiefsinn oder Verstandeszerrüttung gezeigt haben. (Vol. I. Fol. etc.)[1] Nachdem er in seinem achten Jahre seiner Mutter, und im dreizehnten Jahre seines Vaters, der sich zwar um seine Erziehung wenig bekümmert, ihn aber nicht hart behandelt, und für seinen Unterricht in der Freischule auf eine, seinem Stande und seinem Vermögen angemessene Weise gesorgt hatte, durch den Tod beraubt worden, hat er die Perückenmacherprofession erlernt, und hierbei zwar seinen ersten Lehrherrn aus eigenem Antriebe verlassen, sich aber nach dem Zeugnisse von Personen, welche ihn damals gekannt haben, bis zu seinem achtzehnten Jahre, wo er sich auf die Wanderschaft begeben, jederzeit sehr gut, ruhig und verständig betragen, und niemals eine Spur von Verstandesverwirrung oder Tiefsinn an sich blicken lassen. Nach sechsjährigen Reisen, auf denen er in Wurzen, Berlin, Breslau, Teplitz und Wittenberg bald als Friseur, bald als Bedienter, conditioniert hat, von welchem Zeitraume aber über seine Aufführung und Gemüthsverfassung keine Nachrichten bei den Akten befindlich sind, ist er nach Leipzig zurückgekehrt und hat hier, in Ermanglung anderer Beschäftigung, eine Zeitlang Kupferstiche illuminiert, hierauf im Magazine gearbeitet, und zuletzt wieder eine Bedientenstelle bei dem Kammerrath Honig in Barneck angenommen. Während dieser Zeit hat er sich, nach dem Zeugnisse des damaligen Kutschers Heuß, der mit ihm täglich zusammen gewesen ist, sehr gut, gesetzt und fleißig betragen, keine Veranlassung zu Klagen gegeben, und keine Spur von Tiefsinn oder Verstandesverrückung an sich bemerken lassen. Ebenso bezeugt die Traugottin, damals Schindelin, mit der er bei dem Wattenmacher Richter zusammengewohnt und Umgang gehabt hat, daß er heitern Gemüths, nicht zänkisch und streitsüchtig, sondern vielmehr recht ruhig, bescheiden und verständig gewesen sey. Da aber diese


  1. Die im Originale bei jedem einzelnen Punkte angeführten Seitenzahlen der Akten sind beim Abdrucke weggelassen worden. – Der gedrängte, juristische Styl der Relation, welche die Thatsachen und Aussagen aus zwei ansehnlichen Aktenbänden zusammenfaßt, bedarf bei Kennern solcher Arbeiten keine Entschuldigung.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_494.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)