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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

welchen Herzklopfen, Angst, Schlagen in den Adern und Hitze im Kopfe gefolgt sey. Während dieses Zustandes sey es ihm einmal vom Herzen ins Genicke und von da in den Kopf gefahren, wobei es ihm gedäucht, als ob es in der Gegend des Hinterkopfes sitzen bliebe, und wobei er in demselben Augenblicke ein Prasseln, Schnurren oder Brummen im Genicke verspürt habe. Dergleichen Anfälle habe er seitdem öfters und auch jetzt noch, zuweilen alle Tage, wobei ihn anfänglich, ohne alle äußere Veranlaßung, ein allgemeines Zittern anwandle. Durch Bewegung des Körpers und durch Richtung der Gedanken auf einen andern Gegenstand verliere sich dieser Zufall, und es sey ihm nachher ordentlich wohl. Um sich seinen Zustand nicht merken zu lassen, habe er meistens wenig gesprochen, auch zuweilen das, was andere mit ihm gesprochen hätten, nicht recht gehört, weil es ihm immer vor dem rechten Ohre gesaust und gebraust habe. Zuweilen sey ihm auch dunkel vor den Augen geworden und ihm gewesen, als ob er seinen Kopf nicht fühle. Zuweilen habe ihm dabei das Herz, unter einem Gefühl von krampfhafter Zusammenziehung, wie still gestanden, sich nachher gleichsam aufgeblasen und dabei sey ihm wohler geworden. Bei dergleichen Zufällen sey er manchmal sehr ärgerlich gewesen; auch könne er nicht läugnen, daß er überhaupt und besonders während seiner Dienstzeit oft zu viel Branntwein getrunken habe. Der Anfang dieser Zufälle habe sich gerade zu der Zeit ereignet, wo er zu Stralsund mit der Wienbergin Umgang gehabt, und seine Gedanken immer auf die Vollziehung seiner Verbindung mit ihr gerichtet habe. Da er nun deßhalb häufig zerstreut gewesen, so habe ihm dieses allerhand Neckereien von seinen Kameraden zugezogen, weßhalb er sich von ihnen entfernt habe, und gleichgültig gegen alles und menschenscheu geworden sey. Bei dieser Verstimmung hätten sich die vorhin gedachten Beängstigungen am Herzen und die Benommenheit des Kopfes vermehrt, so daß er zuweilen, wenn er lange die Gedanken auf etwas gerichtet, zuletzt gar nichts mehr gedacht habe.

Da er nun immer mehr vexirt worden sey, da er auch von den Officiers mancherlei unverdiente Kränkungen habe erfahren müssen, und sich zugleich seiner beabsichtigten Heirath immer mehr Schwierigkeiten in den Weg gestellt hätten, so habe sich Groll, Bitterkeit und Mißtrauen gegen die Menschen überhaupt eingefunden. Er habe sich immer zwingen müssen, freundlich gegen die Menschen zu seyn, und es sey ihm gewesen, als ob ihn alle für den Narren halten wollten. Daher sey er sehr empfindlich geworden, so daß ihn das Geringste habe aufbringen können. Bei geringeren Veranlaßungen zum Unwillen habe er am ganzen Körper gezittert, aber dabei noch immer an sich halten können; bei stärkern Anreizungen aber sey ihm der Zorn in den Kopf und vor die Stirne gefahren, und habe ihn dergestalt überwältigt, daß er seiner nicht

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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_508.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)