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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

sind im Wahnsinn und in der Verrücktheit auch Einbildungen und Vorurtheile herrschend, aber umgekehrt ist nicht jeder Eingebildete oder von Irrthum und Vorurtheil Verblendete verrückt! Beide, das Vorurtheil und die Verrücktheit, unterscheiden sich dadurch, daß jenes blos aus einer Beschränktheit der Mittel, seine Vorstellungen zu berichtigen und sich Kenntniß und Erfahrung zu verschaffen, oder aus Trägheit im Gebrauche derselben herrührt, ohne in allen übrigen Dingen die Thätigkeit der Seele überhaupt und die Möglichkeit, sich durch Unterricht und Nachdenken zu besserer Ueberzeugung zu verhelfen, aufzuheben; der Wahnsinn aber, oder die Verrücktheit, ihrem Wesen nach, keineswegs darin bestehen, daß man etwas, was nicht wirklich ist, fälschlich als wirklich voraussetzt, und aus diesen Voraussetzungen Schlüsse zieht, sondern daß die irrige Vorstellung sich des Verstandes ausschließend bemeistert, in alle Operationen desselben eingreift, den freien Gesichtspunkt für alle übrigen Verhältnisse verrückt und die richtige Beurtheilung derselben trübt. Daß dieses bei dem Inquisiten nie Statt gefunden habe, geht unbezweifelt daraus hervor, daß er seinen eignen Aussagen, und dem Zeugnisse Andrer zu Folge durch seine Einbildungen und Sinnestäuschungen niemals gehindert worden ist, seine Geschäfte fortzusetzen und sich in allen Verhältnissen des Lebens, als ein gesetzter, verständiger und besonnener Mensch zu zeigen; – daß er sie als eine, seine äußere Existenz nichts angehende Reihe von Vorstellungen, als eine geheime Angelegenheit seines Innern, betrachtet, und sie deßhalb bei seiner ersten Unterredung, wo ausdrücklich von diesem Zustande die Rede gewesen ist, absichtlich theils weil er sich ihrer geschämt hat, theils aus Verdruß und Mangel an Zutrauen, verschwiegen und eben so absichtlich schon früher, um seinen innern Zustand nicht zu verrathen, wenig gesprochen hat; daß er dagegen jetzt, da es ihm nicht hat entgehen können, daß die Entdeckung dieser Dinge einen Aufschub seines Urtheils bewirkt habe, und in welcher Beziehung er so genau über selbige befragt werde, unerschöpflich in seinen Aeußerungen und Erzählungen darüber ist, und daß er endlich, wie bereits oben angeführt worden, in dem Zustande von Benommenheit des Kopfes und angeblicher Gedankenlosigkeit noch immer Kraft genug übrig behält, um seine Gedanken auf etwas Anderes zu richten. – So wie ich nun glaube, mit psychologischen Gründen dargethan zu haben, daß Woyzecks Einbildungen blos als Sinnestäuschungen, Irrthümer und Vorurtheile, keineswegs aber Symptome eines kranken, den freien Vernunftgebrauch störenden Seelenzustandes betrachtet werden müssen, so läßt sich dieses auch mit Beispielen aus der ärztlichen, ja sogar aus der gemeinen und täglichen Beobachtung belegen. Die Meinung, daß die Sonne um die Erde laufe, beruht auf einer Sinnestäuschung, die Jahrtausende lang die besten Köpfe zu falschen Urtheilen und Schlüssen

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_525.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)