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Born frischen Lebens erkennt, d. h. ein Mysterium, ein Unerforschliches, Unbegreifliches. Finden sie nichts Neues mehr an einander, so löst sich die Liebe unaufhaltsam in die Langeweile und Gleichgültigkeit auf. So auch ist der Verstand nur, indem er thätig ist, und wo er seine Kräfte nicht mehr üben kann an einem Mysterium, weil das Dunkel desselben verschwunden ist, da entfernt er sich von dem ganz verstandenen und dadurch schaal gewordenen Gegenstande. Wer von ihm geliebt sein will, der muss sich, wie eine kluge Frau, wohl hüten, ihm alle seine Reize auf einmal zu bieten; jeden Morgen einen neuen, und die Liebe währt Jahrtausende! Ganz eigentlich das Mysterium ist es, was die Verstandessache zur Herzenssache ausbildet: der ganze Mensch ist mit seinem Verstande bei der Sache, das macht sie zur Herzenssache.

Hat nun die Kunst den Menschen das Ideal erschaffen und ihnen damit ein Object gegeben, mit welchem der Geist lange Zeiten hindurch ringt und in diesem Ringen mit Objecten die blosse Verstandesthätigkeit geltend macht, so ist die Kunst die Schöpferin der Religion und darf in einem philosophischen Systeme, wie das Hegels ist, ihren Platz nicht hinter der Religion einnehmen. Nicht bloss die Dichter Homer und Hesiod „haben den Griechen ihre Götter gemacht“, sondern auch Andere haben als Künstler Religionen gestiftet, wenngleich man ihnen den KünstlerNamen als zu geringfügig beizulegen verschmäht. Die Kunst ist der Anfang, das Α der Religion; sie ist aber auch ihr Ende, ihr Ω; ja noch mehr, sie ist auch ihre Begleiterin. Ohne die Kunst und den Idealschaffenden Künstler entsteht die Religion nicht; durch ihn vergeht sie wieder, indem er sein Werk zu sich zurücknimmt, und durch ihn erhält sie sich auch, indem er sie stets erfrischt. Wenn die Kunst in ihrer ganzen Energie auftritt, so erschafft sie eine Religion und steht am Anfange derselben: niemals

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Kunst und Religion aus Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. Berlin 1914, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_264.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)