Seite:DE Stirner Schriften 284.jpg

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sehr wohl, und trägt desshalb auch nicht das leiseste Bedenken, seine gesammte Umgebung über Mariens Jugendjahre zu belügen. Welcher vernünftige Mensch wird auch anders handeln? Nur kein Ultra, selbst nicht in der Sittlichkeit! So spricht der sittliche Liberale.

Allein Marie, die reine Priesterin des sittlichen Prinzips, kann die, statt alle Folgen ihrer Missethat jetzt, da sie in die sittliche Welt eingetreten ist, bussfertig zu tragen, die Busse durch eine Lüge von sich weisen? Darf sie durch Täuschung sich einschleichen und reiner erscheinen wollen, als sie ist? „Täuschen, immer täuschen, ruft sie verzweifelnd aus, immer fürchten, immer lügen, immer beben vor dem Blicke desjenigen, den man liebt und achtet, wie der Verbrecher zittert vor dem unerbittlichen Blick seines Richters!“ Darf Marie, die Dienerin am Altare der Sittlichkeit, darf sie — lügen? —

Die Lüge ist eine Sünde, die kein sittlicher Mensch sich vergeben kann. Er mag sich mit der Noth entschuldigen, so viel er will, auch die Nothlüge bleibt eine Lüge. Wie kann der der Wahrheit dienen unter allen Versuchungen, der sich in mancher Versuchung zur Unwahrheit verleiten lässt? Kein Sittenlehrer kann die Lüge rechtfertigen, und wird dennoch von sittlichen Menschen so viel gelogen, so beweist diess eben nur, dass das Prinzip der Sittlichkeit oder des Guten zu kraftlos ist, um das wirkliche Leben zu leiten. Denn in diesem wird der Mensch unbewusst zu Thaten geführt, die seinem schwächlichen Prinzipe Hohn sprechen, und ihn ermuntern könnten, sich von dem Gängelbande desselben loszureissen; aber man reisst sich von einem Wahne nicht anders los, als wenn man ihn theoretisch überwindet.

Marie, einmal gewonnen für den Cultus des Guten, ist zu feinfühlend, um sich zu einer Ausnahme von seiner Regel zu bereden. Sie kann nicht lügen. Aber wie, könnte sie der Welt, dieser „unerbittlichen Richterin“ nicht gestehen,