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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 45. 14. Februar 1828.

Neueste englische Literatur.


Es bedarf nur eines oberflächlichen Blickes in die englische Literatur, um sich zu überzeugen, daß die Bildung, deren Produkt sie ist, das ausschließliche Eigenthum der höhern Stände sey. Wenn Voltaire’s Werke in den Händen des Tagelöhners, des Bettlers sind, der sich in der abschreckendsten Gestalt auf den Straßen von Paris umhertreibt; wenn Tasso’s unsterbliche Gesänge noch jetzt in dem Munde der Barcarolen von Venedig leben[1]: so würde der englische Landmann dagegen die Sprache seiner Dichter, seiner Redner, seiner Gelehrten nicht verstehen. Dem guten Yorkshireman, der das Wort englisch noch in dem alten Sinne unseres Deutsch, nehmlich für deutlich braucht, begegnet es wohl, daß er von dem jungen Cockney, der ihn in Ausdrücken aus der Büchersprache seiner Gnade versichert, erwiedert: Speak Englisch, Sir, I do n’t understand your Latin!

Zwar hat in neuerer Zeit sich eine eigene Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Kenntnisse unter dem Volke (the Society of useful knowledge) gebildet und – so viel wir vernehmen – bereits den Anfang damit gemacht, eine ganze Bibliothek zum Gebrauche des Volkes herauszugeben. Doch dürfte die Hauptschwierigkeit, welche die Gesellschaft zur Lösung ihrer philanthropischen Aufgabe zu überwinden hätte, weniger die seyn, Bücher für das Volk zu schreiben, als dieses dahinzubringen, sie zu lesen, und besonders ihm die Mittel zu geben, welche bei jeder Lectüre vorausgesetzt werden: Zeit, Geld und Wohlseyn. So lange dafür nicht gesorgt ist, – wozu aber weder die Pauper-rates der Kirchspiele, noch die großmüthigen Subscriptionen in London hinreichen dürften – so lange wird auch die englische Literatur nie aufhören, gleich unserer deutschen, die Literatur einer Kaste zu seyn, und sich in Form, Gehalt und Richtung als solche kund zu geben.

Eine charakteristische Erscheinung in dieser Beziehung ist das, was die Engländer ihre literary season, oder überhaupt the season (die Jahreszeit) nennen. Wie in Deutschland die beiden großen Büchermärkte auf Ostern und Michaelis, in die Ferienzeiten unserer Conrectoren und Schulmeister fallen, so beginnt nehmlich in England der literarische Markt mit Anfang des Winters, – wo der hohe Adel und mit ihm die „gute Gesellschaft“ von seinen Landsitzen in das Westende von London zurückkehrt, – und dauert bis in den Sommer, wo derselbe die Stadt wieder verläßt. Um unseren Lesern eine vollständige und zugleich schnelle Uebersicht der neusten englischen Literatur zu geben, glauben wir daher nicht zweckmäßiger zu Werke gehen zu können, als indem wir ihnen eine fortlaufende Reihe von Berichten über den jedesmaligen Marktzustand des Tages mittheilen, denen dann – nach englischer Art – Auszüge oder Proben beigefügt werden sollen, weniger um zum Belege unseres Urtheiles zu dienen, als um selbst ein Urtheil hervor zu rufen.

Das Wichtigste, was seit Anfang dieses Jahres auf dem englischen Literaturmarkte erschienen ist, waren zwei biographische Werke: das Leben des größten Feldherrn und Staatsmanns, und das Leben des größten Dichters unserer Zeit: The life of Napoleon Buonaparte by W. Hazlitt (Lond. 1828. 4. vols. 8.) und Lord Byron and some of his Contemporaries by Leigh Hunt. (Lond. 1828. 4.)

Ueber Napoleon ist bereits so viel und von so vielen gewichtigen Autoritäten, und doch oft so albern und daher so widersprechend gesprochen und geschrieben worden, daß jeder, der mit der Versicherung auftritt: es sey nicht mehr möglich, etwas Neues über ihn zu sagen, und überhaupt in unserer noch durch ihn bewegten Zeit nicht möglich, sicher über ihn zu urtheilen, des allgemeinen Beifalls aller derer gewiß seyn kann, welche die Ueberzeugung haben, daß ihnen dieß in der That nicht möglich fallen würde. Allerdings ist es schwer, einen Thurm zu messen, wenn man unmittelbar am Fuße desselben steht; und am schwierigsten möchte ein solches Unternehmen während eines Erdbebens seyn; aber wir müssen zuvörderst gestehen, daß wir Napoleon weder für einen Thurm noch für einen Oger oder Polyphem halten, sondern für einen Mann, nahe der größten Höhe, die Sterblichen verliehen ist, aber keinesweges erhaben über jeden Maaßstab derselben. Außerdem scheinen uns zwölf Jahre eine hinreichende Entfernung zu seyn, um auch dem kleinsten Zwerge freies Urtheil über einen Riesen zu verstatten, und was die Bewegung betrifft,

  1. Im Allgemeinen gilt freilich Byron’s:

    In Venice Tasso’s echoes are no more,
    And silent rows the songless gondolier -

    doch kann ich, als einzelnes Beispiel, dagegen anführen, daß der Gondolier, dessen ich mich in Venedig bediente, die ganze Gerusalemme auswendig wußte, und unaufgefordert lange Bruchstücke daraus in der bekannten eintönigen Melodie sang, freilich ohne ein Echo zu finden.
    K. H. H.
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_187.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)