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Das Ausland. 1,2.1828


der Auffassung, so viel Wahrheit und Originalität einem Künstler eine eigene Stelle in den Reihen des ersten Ranges gewähren, zu welchem System er sich auch bekennen, und welches Panier er auch wählen mag.

Diese einfache Auseinandersetzung des Ganges, den die Malerei in Frankreich in den letzten fünfzig Jahren, von 1778 bis 1828, verfolgte, dient vielleicht dazu, die Anklage des Verfalls, die man gegen die jetzige Schule erhoben hat, zurückzuweisen. Diese Periode von fünfzig Jahren umfaßt in gewisser Art das ganze Leben der klassischen Schule, von ihrer Entstehung im Schoose einer Reaction gegen Geschmacklosigkeit, Leerheit, Incorrectheit und Indecenz, bis zu ihrem allmäligen Absterben. Diese Schule wich während der Zeit ihrer Männlichkeit (man erlaube uns diesen Ausdruck) vor keiner andern zurück; mit bewunderungswürdiger Festigkeit schritt sie dem ausschließlichen Ziele entgegen, das durch ihre Tendenz ihr vorgezeichnet war, sie erreichte dieses Ziel so vollkommen, daß sie auf einen Augenblick alles, was hinter ihr lag, in falsches Licht stellte, und durch die Macht des Talents und den Reiz der Neuheit eine ganze Generation dahin brachte, in der Malerei nichts mehr zu lieben, als die Richtigkeit der Contouren, und rücksichtlich der Schönheit für nichts mehr Sinn zu haben, als für den Typus der antiken Statuen und Basreliefs. Alles dieses konnte nur eine Zeitlang dauern, um so mehr als die Malerei, statt durch einen gewissen Typus der Zeichnung begrenzt zu seyn, überhaupt nicht blos auf Zeichnung allein beschränkt ist, sondern auch Colorit, Effekt und Ausdruck durch die treue Darstellung der Leidenschaften, der Zeit und des Orts unter sich begreift, und nicht blos einzelne Jahrhunderte, sondern das ganze Gebiet der Geschichte als der Herrschaft ihres Geistes unterworfen betrachtet. Nachdem man bis zum Ueberdrusse nichts als griechische und römische Figuren gesehen hatte, mußte man zuletzt nothwendig auch nach andern Gestalten sich sehnen. Ob diese Aenderung für die Kunst selbst ein Vortheil oder ein Nachtheil war, wollen wir hier nicht untersuchen; genug daß sie unvermeidlich war.

Uebrigens haben die, welche sich über die Ausartung des Geschmacks beklagen, unrecht, wenn sie diese Ausartung dem Publikum oder den Künstlern der neuen Generation vorwerfen. Ist es die Schuld der Letztern, wenn der Schöpfer des Schwurs der Horatier und des Tods Sokrates seine lange Laufbahn mit dem Bilde des Mars, der Venus und der Grazien beschloß? wenn die Meister der Atala und des Marcus Sextus, ohne zu fühlen, daß sie in das Jahrhundert leerer Ziererei zurückschritten, Pygmalion, und Aurora und Cephalus hervorbrachten? Konnte man, aufrichtig gesprochen, wirklich einer Schule sich anschließen, um sie fortzusetzen, die durch die Werke ihrer Gründer selbst solche Beweise ihrer Hinfälligkeit lieferte? Wenn es David und Girodet unmöglich war, sich auf die Zeit von 1790 oder 1800 zurückzustellen, so mußte dieß den Schülern ihrer Schüler noch weit unmöglicher seyn. In der Kunst kann man leichter auf mehrere Jahrhunderte zurückgehen, als auf dreißig oder vierzig Jahre. Sobald eine Schule einmal in sich selbst zerfallen ist, so ist derjenigen, welche auf sie folgt, nicht gegeben, die schönen Tage der ersten wieder ins Leben zurückzurufen. Eine neue Zeit beginnt, ein neues Geschlecht erhebt sich, um dieselbe Bahn wie die frühere zu durchlaufen, denselben Wechselmomenten ihres innern Lebens, der Jugend, der männlichen Kraft und des langsamen Alters unterworfen.

Keine menschliche Macht konnte verhindern was geschah, folglich auch nicht die Macht der Journale und Flugschriften. Auch die Schule David’s fand einst ihre Verketzerer, die über Neuerung schrieen. Die Kritiken verstummten, und die Schule verfolgte ihre Bahn; auch die Feinde der gegenwärtigen Reaction werden verstummen, und die Reaction wird vollständig werden. Dazu aber ist nöthig, daß die jungen Maler, welche diese Richtung mit so ehrenwerthem Eifer und so mannigfaltigem Talent verfolgen, sich von den Schwierigkeiten nicht abschrecken lassen, die man ihnen in Weg stellt, noch sich um die Diatriben und Gemeinplätze der Salons bekümmern. Unmöglich konnte man erwarten, daß die Verehrer der alten Schule ihre Hände ruhig in den Schoos legen würden, beim ersten Hervortreten einer Reform, die allen ihren Glaubensartikeln rücksichtlich der schönen Künste widersprach, und die überdieß, wie alle Neuerungsversuche, mit Vertrauen beurtheilt seyn will, da ihre wahren Meisterwerke erst mit der Zeit sich entwickeln können. Die jungen Republikaner von 1793, die ein freudiger Schauer durchdrang, als sie den todt dahingesunkenen Barras erblickten, ohne andere Bekleidung als die dreifarbige Cocarde auf seinem Herzen; die jungen Reactionärs von 1796, deren ideale Gestalten des Marcus Sextus und seiner Tochter den Haß gegen die Urheber der Proscriptionen in helle Flammen setzten, können sie, in ihren alten Tagen noch durch Bilder bewegt werden, in denen die Geschichte einfach und treu, ohne Uebertreibung und Parteisucht, mit dem ganzen Gerüste der eigenthümlichen Costume jeder Zeit dargestellt ist? Jene Masse von Liebhabern aber, in deren Enthusiasmus ihrer Jugend sich keine politische Leidenschaft mischte, bedauern den Untergang der Schule David’s blos deswegen, weil sie während der schönen Zeit jener Schule selbst noch jung waren. Die Bilder von Gericault, Horace Vernet, Delacroix, Scheffer, Deveria etc. sind für sie das, was Rossini für denjenigen ist, der, seit zwanzig Jahren für Mehul’s und Berton’s Töne eingenommen, diese etwas trockene Musik mit allen Ideen und Gefühlen seiner Zeit umkleidete. Diejenigen Männer reiferen Alters, deren Geist biegsam und frei genug ist von allen Banden der Gewohnheit, um mit freudigem Blick den sich verjüngenden Wechsel der Zeit zu betrachten und dem Gange des Jahrhunderts zu folgen, bilden immer die Minderzahl. Gestützt aber auf diese kleine Zahl wird die romantische Schule gegen die todte Erinnerung kämpfen, bis das mit dem Jahrhundert geborne Geschlecht seinen überwiegenden Einfluß auf die Nationalmeinung erlangt hat. In dieser Jugend der Gegenwart wird sie ihre unparteiischen Richter wie ihre leidenschaftlichen Bewunderer finden, und, wenn auch für sie die Zeit des Verfalls gekommen ist - ihre übertriebenen Lobpreiser und ihre fanatischen Vertheidiger.


Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_276.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2023)