Seite:Das Ausland (1828) 355.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 86. 26. März 1828.

Illyrische Poesie.

von C. F. N.

Lieder, welche die Thaten der Vorfahren preisen und verherrlichen, sie den nachkommenden Geschlechtern zum Vorbild und zur Nacheiferung hinstellen, sind die ersten Anfänge aller Kultur, und halten in ihrem Innern, wie in einem Embryo, alle Keime der Kunst und Wissenschaft verschlossen. Ohne es selbst zu wissen, haben deshalb mit Recht die faselnden Grammatiker und Rhetoren der spätern Jahrhunderte Griechenlands, den Altvater Homer zum Ahnherrn aller der vielzweigigen Künste und Wissenschaften gemacht, die das großgewordene Hellas erzeugt hat. Keine Nation, außer dem glücklichen Griechenland, hat einen Meister aufzuweisen, der, an den Pforten stehend, wo die mythische Geschichte von der Historie sich trennt, mit Einsicht den vorhandenen Stoff gesammelt, mit gigantischer Kraft ihn beherrscht und bearbeitet hätte, – bei allen Nationen aber finden sich ähnliche historisch-mythische Heldenlieder, bei allen Nationen findet sich der Stoff zu einer Ilias und Odyssee. bei den Deutschen wie bei den Slaven vertraten Heldenlieder die Stelle der Annalen; die einzelnen Gesänge, die sich von diesen poetischen Jahrbüchern der Nation in Illyrien erhalten haben, denen vielleicht eben soviel Wahrhaftigkeit zuzutrauen ist, als z. B. den Annalen des alten Ennius, sind als Episoden oder Fragmente einer großen Heldengeschicht der Slaven zu betrachten. „Eine solche Sammlung, wenn sie vollständig wäre,“ bemerkt mit recht Faurieil in der Einleitung zu seinen Chants populaires de la Grèce moderne, „würde zugleich die wahrhafte Geschichte der Nation und das treueste Gemälde der Einwohner eines Landes liefern.“ Die Popievke, – so werden diese Lieder slavisch genannt, – besingen bald die ruchlose That Eialo’s, der den Thron seines Vaters Radoslav an sich reißt, bald das liebende Weib, das als Janitschar verkleidet ihren Mann aus türkischer Gefangenschaft befreit; sie beklagen den Tod eines Kriegers, der unwissend seinen Bruder erschlägt und ein Opfer der Verzweiflung wird; allen kommenden Geschlechtern zur Schmach stellen sie den König Bodino hin, der seine Vettern mordet, seinem Weibe zu Gefallen.

Ragusa, gegen das Jahr 656 aus den Trümmern der Stadt Epidaurus entstiegen, wird slavisch Dubrownik genannt, von Dubrowa oder Dubrawa, welches einen Wald bedeutet. In dieser wundervollen, von hohen Gebirgen, von Wald und Meer umschlossenen Stadt ward höchst wahrscheinlich die Poesie der slavischen Illyrier geboren, und hier ward sie, was wir mit historischen Zeugnissen belegen können, von Georgio Darscich, von Orazio Mascibradich und Francesco Gondola in der Folgezeit groß gezogen. Schon gegen das Jahr 1000 unserer Zeitrechnung war ein slavischer Fürst den Ragusanern vorzüglich deßwegen gewogen, weil sie durch ihre Gesänge die Thaten und Denkwürdigkeiten des slavischen Volkes und seiner Fürsten unsterblich machen; selbst die Namen zweier Barden, slavisch gusbari genannt, haben sich aus dieser dunkeln Periode des Mittelalters erhalten: Sciscko und Giore heißen sie in den Sagen der Nation.

Die Illyrier konnten es so wenig wie die übrigen slavischen Stämme zu einer selbstständigen, aus dem eigenen Boden hervorgegangenen Cultur bringen; die Nation ward nicht, wie dieß bei den Griechen der Fall war, an den historischen Liedern aufgezogen; diese entfalteten sich nicht in mannigfache, selbst wiederum Blüthen und Früchte tragende Aeste und Zweige der Kunst und Wissenschaft, – sie blieben starr und unfruchtbar: es bedurfte hier, wie in dem ganzen übrigen Europa, des belebenden Othems von Griechenland und Rom, um die Nation einer höhern Bildung entgegen zu führen. Wie aus dem ferneren Deutschland so strömten im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert auch aus dem nahen Illyrien die Jünglinge auf die Hochschulen Italiens, wurden hier mit den Schätzen des Alterthums und mit den großen Schriftstellern, deren sich damals schon Italien erfreute, bekannt, und kehrten voll von neuem Wissen und neuen Ansichten in ihr Vaterland zurück. Die großen Geister Italiens nahmen sie in ihren poetischen und prosaischen Arbeiten sich zum Muster, und freigebig nannte man auch alsbald diesen einen illyrischen Petrarca, jenen einen Bocaccio. Die heutigen Illyrier aber kümmern sich wenig um diese Lobeserhebungen ihrer in Uebertreibungen sich gefallenden Vorfahren, und betrachten das fünfzehnte Jahrhundert, worin diese Petrarca und Bocaccio geblüht haben, nur als die Kindheit ihrer Literatur und Poesie. Georgio Darscich, der sogenannte Petrarca Illyriens, gehört dem vierzehnten Jahrhundert an, und wird von den Neuern als der Vater der illyrischen Dichtkunst verehrt; er schrieb ein Nationalschauspiel, ein Gedicht über die Keuschheit, und unzählige Sonette. Er ward das Musterbild vieler nachfolgenden Dichter im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, eines Maurus Vetrami, Nicolaus

Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_355.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)