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Das Ausland. 1,2.1828

Engpässe dieses Gebirgs, die Reihe von Stellungen, die Constantinopel unmittelbar beschützen, die Halbinsel von Gallipoli, fordern die Aufmerksamkeit der Kriegsverständigen; einige schlechte Festungen finden sich zerstreut an der Donau, im Innern der Provinzen und an der Küste; mehrere Schlösser sperren den Eingang der Dardanellen und des Bosporos. Man weiß aber, mit welcher Nachlässigkeit die Türken ihre Festungen bauen und unterhalten.

Untersuchen wir jetzt die Aufstellung großer Truppenmassen, was uns Licht für die Zukunft geben kann. Die große russische Armee, unter Sacken, hatte ihr Hauptquartier in Mohilow, und dehnt sich rechts gegen Wittepsk, links gegen Kiew. Die zweite Armee, unter Wittgenstein, stand am Pruth. Das lithauische Corps und die polnische Armee, unter dem Großfürsten Constantin, besetzten die Ufer der Weichsel und des Niemen. Die Armee von Georgien stand an der Grenze von Persien. Kleinere Corps hatten Finland, Orenburg und Sibirien besetzt. Diese Vertheilung der Truppen zeigte Rußlands Plane. Noch vor kurzer Zeit war Alles gegen den Südwesten von Europa gerichtet, fast nichts gegen den Orient. Es scheint aber jetzt gewiß, daß der größte Theil der russischen Truppen gegen die Moldau vorgerückt ist.

Der Militäretat der Türkei hat solche Revolutionen erfahren, daß es unmöglich ist, nur einigermaßen genaue Angaben über die Zusammensetzung und nur über die Größe derselben zu erhalten. Man weiß blos, daß die europäische Organisation mit Erfolg unter Selim III angefangen wurde, und man darf glauben, daß die gegenwärtigen Resultate nicht ohne Bedeutung sind. In diesem Augenblick beruft der Sultan die Gläubigen zu einem Religionskriege, und zeigt sich zu großen Anstrengungen entschlossen.

England, unter allen Mächten bei den Angelegenheiten des Orients am meisten betheiligt, ist zugleich die entfernteste und an Landtruppen schwächste Macht; für den Seekrieg aber besitzt es imposante Kräfte. Will es ernstlich den Krieg, so wird seine Thätigkeit und seine Voraussicht Ersatz für die Entfernung leisten. Durch Marinesoldaten, durch die Garnisonen in Malta und in den jonischen Inseln, und durch das kleine Corps von Portugal wird es der ersten Gefahr begegnen. Es hat zu seiner Disposition die Streitkräfte des Ibrahim Pascha, welche schnell nach Gallipoli und Constantinopel übergeführt werden können. Eine schnelle Landung, einige guten Offiziere werden hinreichen, den ersten Anstrengungen der Türken eine Richtung zu geben, und die Vertheidigung der Hauptstadt zu sichern. Eine kleine Anzahl Schiffe wird das schwarze Meer beherrschen, wo Rußland, wie man behauptet, wenig maritime Kräfte besitzt. Auf solche Art würde England Zeit gewinnen, Europa aufzuregen.

Die österreichischen Armeen haben noch keinen bekannten Sammelplatz; man hat nur von einem Lager in Gallizien gesprochen. Es gibt keinen Theil Oesterreichs, wo dessen Gruppen so nahe bei Constantinopel ständen, als dies bei den Russen an den Mündungen des Pruth der Fall ist. Sireth und Cronstadt geben zwei Vereinigungspunkte für die Offensive, Belgrad und Lemberg eignen sich zur Aufstellung von Beobachtungscorps. Belgrad ist zweimal so weit als Silistria von Constantinopel entfernt. Doch würde die geringste Bewegung einer österreichischen Armee bei dem Zusammenfluß der Sau wahrscheinlich die Russen aufhalten, es sey denn, daß sie mit großer Ueberlegenheit auftreten. Solche Aufstellung würde aber Grund zu einem Kriege zwischen Rußland und Oesterreich geben, dessen Schauplatz Ungarn und Gallizien und die ganze Strecke von Schlesien bis ans schwarze Meer seyn würde. Truppenversammlungen gegen Cattaro, Gradisca und Brod an der Sau würden die Absicht anzeigen, in Bosnien und Albanien einzudringen.

Die Zeitungen haben die Bildung eines preussischen Lagers bei Neisse, am südlichen Ende Schlesiens angekündigt. – Preussen, das über zweihundert Stunden von der Mündung des Pruth entfernt ist, wird keinen unmittelbaren Theil an den Angelegenheiten der Türkei nehmen. Wir haben jedoch gesehen, daß, weil es an alle großen europäischen Staaten grenzt, es einen höchst achtbaren Einfluß ausüben kann. Je nachdem es sich für das System des Sultans oder des Czars erklärt, wird es seine Macht gegen Rußland oder gegen diejenigen Regierungen richten, welche die Sache der Türken vertheidigen. Im erstern Fall würde der Krieg an den Küsten der Ostsee ausbrechen, und vielleicht nicht den Fuß des Balkan erreichen. Im zweiten Fall würde der Continent gelähmt seyn. Das preussische Cabinet würde den europäischen Frieden erhalten, in dem es dem Mittelpunkt Rußlands gegenüber 100,000 Mann bei der Beugung des Niemen, und eine gleich starke Macht an der südlichen Grenze von Schlesien gegen Tarnowitz aufstellte, von wo es schnell den obern Bug gewinnen könnte. Für die Continentalmächte ist es sehr wichtig zu sehen, ob die preussischen Truppen sich auf dem rechten oder linken Ufer der Elbe sammeln, indem daraus abzunehmen ist, auf wessen Seite sich Preussen wenden wird. Hat das Geschütz von Navarin noch nicht Europas Täuschungen zerstreut, so werden sie, denke ich, bei dem Donner der Batterien am Pruth bald völlig verschwinden müssen. Alle diplomatischen Actenstücke können diesen doppelten Angriff nicht verschleiern. Rußland findet einen günstigen Augenblick, den Krieg zu beginnen, den es bei allen Griechen zum Nationalkriege zu machen wußte. Wird es diesen Augenblick verlieren wollen? Wird es warten, bis die jungen Prinzen, welche auf den Stufen der benachbarten Throne stehen, gegen die russischen Eroberungsentwürfe die Kraft des Alters und der neuen Ideen kehren? Ist nicht überdem selbst die Autokratie den Gesetzen der Nothwendigkeit unterworfen? Der russische Adel bedarf der Eroberungen, um den Absatz seiner Produkte zu sichern; und dieser Adel besitzt noch eine große Macht, die sich zu verschiedenen Zeiten kund gegeben hat. Er herrscht in der Armee. Vielleicht ist es auch dringend nothwendig, so große, seit langer Zeit vereinte Massen von Soldaten nicht in Unthätigkeit zu lassen.

Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_501.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2023)