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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 136. 15 May 1828.

Ueber die Angelegenheiten des Orients.

(Von Generallieutenant Max. Lamarque.)

[1]


Eine Grundidee beherrscht das von General Pelet kürzlich ausgesprochene Urtheil über die Angelegenheiten des Orients [2] – die Furcht vor Rußland, der Schrecken, den seine, beinahe auf fünfzig Millionen steigende Bevölkerung einflößt, seine ungeheure, der Hälfte Europas gleichkommende Ausdehnung, sein schnelles Umsichgreifen gegen Abend und Morgen, der kriegerische Geist seiner Völker, der schrankenlose Ehrgeiz seiner stolzen Czare, die, das Schwert vereinend mit der Tiare, im Namen dieser und jener Welt gebieten. Pelets farbenreiches Gemälde hat lange unsern Blick gefesselt, ohne unsere Ansichten zu ändern. Wir legen diese Ansichten dem Publikum vor, das gleich gerecht seyn wird gegen zwei Schriftsteller, die von denselben Gefühlen belebt sind, und gleich entflammt für den Ruhm und das Glück ihres Vaterlandes.

Es liegt nicht in unserer Absicht, den Artikel, dem wir antworten, Schritt für Schritt zu bekämpfen. Doch müssen wir gleich von vorn herein gestehen, daß uns die Lection, die der alte Aranda einem jungen Diplomaten gab, nicht als etwas Bedeutendes erschien. Die Geographie ist in unsern Augen nicht alles; wir glauben nicht, daß die Kraft der Staaten auf absolute Weise durch ihre Grenzen bestimmt werde. Unserer Ansicht nach liegt wenig daran, ob ein Punkt des Cirkels den Mittelpunkt Europas berühre, wenn der andere über Eismeere läuft, über öde Küsten, unfruchtbare Steppen, über die mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel des Elburz, Kedela, Kasbeck etc. Auch können wir einem vorgeschobenen Punkte irgend einem vorspringenden Winkel des Gebiets unmöglich eine bedeutende thätige Kraft beilegen, wenn er nicht dadurch, daß er einen Kriegsplatz einschließt, wie Straßburg, Mailand, Luxemburg, ein großes Depot wird, ein zu fürchtendes Arsenal, der Ausgangspunkt einer Operationslinie.

Die geographische Lection, die in Paris der zweite Consul, Cambaceres, erhielt, scheint uns viel geistreicher als die des spanischen Gesandten: eine Charte von Europa lag auf seinem Tische: er deutete mit dem Finger auf England und zeigte es dem berühmten Fox, der gekommen war, um einige Zeit in Paris zuzubringen, und sein Blick schien ihm zu sagen: „Sehen Sie den kleinen Raum den Britannien in der Welt einnimmt.“ Der Britte verstand ihn, und sagte ihm, sich stolz aufrichtend, mit Würde: „Ja, mein Herr, auf diesem kleinen Punkt der Erde ist es, wo wir unsere Häuser bauen, unsere Frauen lassen, und wo unsre Kinder geboren werden; England aber, England ist die ganze Welt!“

Untersuchen wir diese stolze Behauptung! Eine Hauptstadt von dreizehnmalhunderttausend Seelen ist das Herz dieses ungeheuren Körpers. Hier ist der Sitz einer Regierung, die, stets jung, stets kräftig, stets vorschreitend mit der Meinung, die sie leitet, weder den Schwächen der Kindheit, noch der Mattigkeit des Alters unterworfen ist; hier ist die Quelle eines Credits, der, in dem letzten Kampfe mit Frankreich, es möglich machte, eilf Milliarden auszugeben, unmittelbar nach einem Kriege, der neun Milliarden gekostet hatte; hier endigen alle Intriguen, die das übrige Europa bewegen; hier discutirt man mit kaltem Blute, ob es im Interesse Englands liegt, daß die Völker frei seyn sollen wie die von Südamerika, oder Sklaven wie die an den Ufern des Indus und des Ganges; hier lebt stets ein Haß gegen Frankreich, den man vergebens zu verbergen sich bemüht, eine Eifersucht, die jeder Vergrößerung unseres Gebiets entgegentritt, und mit Schmerz auf unsere Fortschritte in Kunst, Industrie und Handel blickt. Versucht es einmal, die Umstände des Augenblicks zu benützen, um das alte Gallien wieder herzustellen, und unsere natürlichen Grenzen wieder zu gewinnen. Wer wird sich widersetzen? Rußland? Nein! England, England das gegen uns das Königreich der Niederlande aufgestellt hat, und das stets bereit ist, Cannings Wort zu wiederholen: „Eher ewigen Krieg, als die Schelde Frankreich zu lassen!“ So begreift man, warum es sich so angelegen seyn läßt, daß Mons, Tournay, die Plätze Hollands und Flanderns, die seine Brückenköpfe bilden, zu befestigen; warum seine Heerführer sich das Recht vorbehalten haben, diese Werke zu leiten und zu beaufsichtigen.

Wenn wir von jener ungeheuern Hauptstadt aus die drei Königreiche durchlaufen, so erblicken wir hier dreiundzwanzig Millionen Einwohner, so vereinigt, so dicht gedrängt, daß vier bis fünftausend auf eine Quadratmeile kommen, und diese materielle Kraft ist noch verzehnfacht durch ihren Muth, ihren Unternehmungsgeist, ihre nationale Selbstliebe, ihre vorgeschrittene Bildung, ihre Anhänglichkeit an das Mutterland und ihre Erfindungen in allen Künsten. Die Aristokratie, die herrscht, die Industrie, welche die Reichthümer aufhäuft, das Volk, das

  1. Le spectateur militaire. Avril 1828.
  2. In dem gleichfalls aus dem Spectateur militaire entlehnten Artikel in Num. 115 und den folgenden Blättern des Auslandes
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_565.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)