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Das Ausland. 1,2.1828

Was liegt Frankreich daran, wenn die Karavanen, ihre bisherigen Wege verlassend, nicht mehr nach Constantinopel, Aleppo, Smyrna kommen? Soll es einen Krieg anfangen, weil die blauen, scharlachroth ausgeschlagenen Röcke der persischen Armee aufhören könnten, aus den englischen Fabriken hervorzugehen, und fix und fertig in einem Seehafen des persischen Golfs anzukommen?

Wenn ich mich über diesen Gegenstand verbreitet habe, so geschah es, weil der Handel gegenwärtig die Basis ist, auf welcher das Glück der Staaten ruht, und weil England durch ihn allein auf eine so hohe Stufe der Macht gelangt ist, und um ihn zu erhalten und zu vergrößern, stets bereit ist, die Welt in Blut zu tauchen. Kehren wir nun zu unserem Gegenstande zurück, betrachten wir die Angelegenheiten des Orients unter dem militärischen Gesichtspunkte, und verfolgen wir die verschiedenen Hypothesen, welche die Zukunft darbieten kann.

Um Ordnung in diese Untersuchung zu bringen, fühle ich, daß ich nach der Hinweisung auf die Macht Englands, nun auf die von Rußland den Blick richten sollte; ich gestehe aber, daß seine auf einer ungeheuern Flächenausdehnung sparsam ausgesäete Bevölkerung, die Zeit, die Ausgaben, die nöthig sind, um Menschen, die von den Ufern der Weichsel bis zu denen der Wolga wohnen, in Bewegung zu setzen, seine mäßigen Revenüen, die keine langen und entfernten Kriege erlauben, selbst die Leichtigkeit, mit der es die Staaten eroberte, die es sich einverleibte, Rußland in meinen Augen viel weniger furchtbar machen. Ueberdieß sind seine Interessen den unsrigen durchaus nicht entgegen. Es kann wollen, ja es will, daß Frankreich reich und glücklich sey. Rußland verdanken wir, daß Flandern, Lothringen, das Elsaß noch uns angehören, daß wir nicht auf das Frankreich Carl’s VII beschränkt sind. Irren wir aber in unserm Urtheil, ist Rußland wirklich so drohend als man es darstellt, war der Norden, was ich nicht glaube, wirklich jene „Werkstätte des menschlichen Geschlechts,“ aus der zweimal die Ströme der Barbaren hervorgingen, die Europa verwüsteten, so wäre es weise, so wäre es klug, jene Ströme in ihrem Laufe abzulenken.

Als die Russen den Niemen überschritten, als sie Polen an sich rissen, als sie zwölf Stunden von der Oder ihren Grenzgott aufstellten, der nie zurückweicht, da war es Zeit, daß Europa zu den Waffen griff. Es fühlte dieß nicht. Ja später verließ es den Eroberer, der in riesenhafter Unternehmung zu gleicher Zeit seine Liebe zum Ruhm, die Gefühle seiner Brust, wie das, was er für das dringendste Bedürfniß des Abendlandes hielt, zu befriedigen suchte. Welcher Arm ist nun stark genug, das zu vollbringen, was jenem nicht gelang, eine Schranke aufzurichten, die Frankreich stets zu vertheidigen haben würde?

Lassen wir also den Vulcan sich einen Krater gegen den Orient öffnen, lassen wir ihn auf Asien seine drohende Lava schleudern, und betrachten wir die Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen könnten.

Als 1123 Jahre, nachdem Constantin den Sitz des Reichs hieher verlegt hatte, Mahommed II Constantinopel mit Sturm nahm, mußte Europa befürchten, dem Halbmonde unterworfen zu werden. Die Zeiten haben sich geändert. Ein Volk, das damals auch nicht einmal dem Namen nach bekannt war, droht nun der ottomanischen Pforte, und die Türken, die fast noch so tapfer als ihre Väter sind, aber sich durch alle andere Völker in den Künsten des Friedens wie in der Wissenschaft des Krieges überflügeln ließen, sind nicht mehr im Stande, jenem Volk zu widerstehen. Die Stunde naht, wo Mahommeds II Werk zusammenstürzen wird. Diplomatische Feinheit kann diesen Sturz noch etwas verschieben, aber die Kraft der Dinge wird ihn vollenden.

Ehe Rußland an diese große Unternehmung denken konnte, war es nöthig, seine Basis von allen Seiten zu erweitern. Die Erwerbung Finlands mußte die einst so furchtbaren Schweden entfernen; Polen mußte seine rechte Flanke decken; die Besitzergreifung der Krym, der Ufer des schwarzen Meers und der kaspischen See erlaubte ihm unter seinen Fahnen jene Wolken von Tataren, Scythen, Kosaken zu sammeln, die zur Zeit Montecuculis und Eugens die Hauptmacht der türkischen Armeen bildeten, und an den Ufern des Pruth die Soldaten Peter des Großen einschloßen und aushungerten.

Jene Präliminär-Unternehmungen Rußlands sind erfüllt; Europa hat sie theils geduldet, theils mit vollendet. Da so die Russen nichts mehr auf ihren Flanken zu fürchten haben, setzen sie sich, aufgefordert von einem blinden Feinde, in Marsch nach der Moldau und Wallachei, die sie, ohne eine Lunte anzuzünden, durchziehen werden. Sie werden dort nicht mehr Widerstand finden, als Romanzow 1771 und Michelson 1806. Die Donau wird sie nicht lange aufhalten, denn Ismaël verleiht ihnen gegenwärtig außerordentliche Vortheile zur Vereinigung von Kriegs- und Transportschiffen. Im Jahre 1773 ging Romanzow bei Silistria über jenen Strom; 1809 Bragation bei Galacz; 1810 gelang es gleich gut bei Vetrova, wie bei Hirsova (Kersova) und Tertukai; so haben trotz des am rechten Ufer fast überall herrschenden raschen Falls des Wassers die Russen den breitesten Strom Europas, wo und wann sie wollten, überschritten. In den neuern Kriegen, mit unsern leichttransportablen Pontons, mit der Superiorität der Artillerie, die man sich an dem Punkte, den man gewählt hat, geben kann, bieten Flüsse und Ströme nur ein leicht zu übersteigendes Hinderniß dar.

Den öffentlichen, ohne Zweifel etwas übertriebenen Gerüchten zufolge, rücken die Russen mit einer Armee von 180,000 Mann vor. Sonst haben sie nie mehr als 40,000 Mann über die Donau gesetzt. Es wird ihnen daher leicht seyn, die zwölf oder dreizehn schlechten Festungen, die den Fluß bekränzen, zu nehmen oder zu blokiren. Ohne sich aufzuhalten, werden sie in die Defileen des Balkans rücken, die nicht in Vergleich zu stellen sind mit den von unsern Hochgebirgen der Alpen und Pyrenäen gebildeten, sondern die man, Valentini zufolge, nur mit denen der Vogesen oder der niedrigen Höhen des Schwarzwaldes vergleichen kann.

(Forts. folgt.)
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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_570.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)