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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 144. 23 May 1828.

Die neugriechische Poesie.


(Fortsetzung.)

Nach Aufhebung der Sylbenmessung sind zwar die mehr denn zweisylbigen Füße vom regelmäßigen Gebrauche ausgeschlossen, weil es die Natur der Verse, welchen die Sylben nicht zugemessen, sondern zugezählt werden, mit sich bringt, daß über jede einzelne Stelle hinweg der Rhythmus wieder anhebt; doch macht die Freiheit, mit welcher der Rhythmus über den jedem Vers zukommenden Sylben schwebt, so wie die Menge offener Sylben, welche sich ohne Härte durch Synizese zu Einer verschlingen, während sie im Rhythmus die Bewegung und den Klang von zweien wenigstens nicht ganz verlieren, daß aus dem jambischen und trochäischen Maße Daktylen und Anapästen nicht selten hervorzubrechen scheinen, und das Ganze sich überhaupt mit größerer Mannigfaltigkeit des Rhythmus entfaltet, als bei jenen einfachen Maßen man erwarten sollte: das ursprüngliche Gefühl rhythmischer Mannigfaltigkeit und Zweckmäßigkeit, die Grundlage der großen rhythmischen Kunst alt-griechischer Dichter, ist offenbar auch ihren Nachkommen eigen, und in ihren einfachen Gesängen deutlich ausgedrückt. Da unserer Sprache diese Fälle offner Laute fremd ist, kann sie nur durch freien Gebrauch der Kürzen nachhelfen, z. B. in dem zweiten Theile des oben angeführten Ständchens:

Παραθυρώκιά μου χρυσᾶ
Καὶ κιφοσάκιά μου χρυσᾶ
Εἰπέτε τὴν Κυρίτσαν σας,
Νὰ ἐβγῆ ’σ τ’ ἀγνάντιον νὰ τὴν ’δῶ.
Δὲν ἐῖμαι ὄφιος νὰ τὴν πιῶ,
Λεοντάρι νὰ τὴν καταπιῶ.


O du mein gold’nes Fensterlein,
Und ihr Vorhänge mit goldnem Schein,
Saget doch meiner Trauten d’rin,
daß sie komm’ und sich lass’ erblicken.
Keine Schlange bin ich, sie zu ersticken,
Kein Löwe, sie zu reißen in Stücken.

und im Hochzeitliede S. 236:


Ἀπὸ τὰ τρίκορφα βουνά
Ἱερακι ἔσυρε λαλιά
Πάψετ’, ἀέρες, πάψετε
Ἀπόψε κ’ ἄλλην μιὰν βραδιάν,
Ἀγώρου γάμος γίνεται,
Κόρη ξαντθὴ ’πανδρεύεται


Von den dreihauptigen Bergeshöh’n
beginnt ein Sperber zu rufen schön:
Senket euch, Lüftchen, senket euch,
Nicht heut, nicht morgen Abend zu weh’n,
Bis die Jungfrau zu dem Bräutigam
Und zu seiner Braut der Jüngling kam.

Sogar den dogmischen Rhythmus scheint diese Poesie mit einer festen Erinnerung an das Wesentlich desselben in seinen einfachen Formen nachzubilden, wie besonders ein Lied aus Kreta bei Voutier [1] zeigt, wenn es in der That aus dem Volke kommt:


Ψυχὴ ἀθλία,
Τί δυστυχία
Ἀκαταπαύστως σε τυραννεῖ
Δὲν ἔχεις φίλον
Πιστὸν μὲ ζῆλον,
Νά σε λύπῆται νά σε πονɛ̃.


Du mein leidend Herz,
Welch ein bittrer Schmerz
Dich ohn’ Unterlaß drängend erfüllt,
Du hast keinen Freund,
Der mit dir vereint,
Dir mitleidend die Thränen stillt.

Alle diese Formen, deren Urbild sich fast ohne Ausnahme in der alten Lyrik findet, zeigen, ungeachtet ihrer Mannigfaltigkeit, ein bestimmtes Gepräg, das den verschiedenen Stoffen eben so angemessen, wie überall durch einen gewissen Grundton mit sich selbst übereinstimmend ist, zum Beweise, daß sie sämmtlich in Bezug auf Eine musikalische Tonart stehen. Gemeiniglich achtet man die Musik der Alten für verloren; indeß tönt noch ihre Hirtenflöte, wie in Sicilien, so auf den Inseln des Archipelagus, in Arkadien, wie in den Thälern des Olympus, und die von unserm musikalischen System ganz abweichende Temperatur und Art ihrer Töne, so wie die Eigenthümlichkeit der Melodien, zeigen offenbar, daß auch hier, wie in den Rhythmen, der Grieche noch jetzt alter Ueberlieferung folgt, ohne sie zu kennen. Einfach und doch abwechselnd, wie diese Rythmen, haben die Melodien mit ihnen auch dieses gemein, daß sie nicht über zwei Reihen von Tönen hinausgehen, und so das Lied des zweizeiligen Epodos wiedergeben. Welchem rhythmisch-musikalischen System des Alterthums aber sollen wir den oben bezeichneten Inbegriff der Rhythmischen Bildungen im neu-griechischen Gesang und seine musikalische Begleitung gleich oder ähnlich stellen?

Wir sind durch genauere Erforschung der alten Rhythmik und Tonkunst dahin gekommen (und das Resultat ist

  1. Lettres sur la Grèce, p. 216. und Eunomia III. S. 46.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_599.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)