Seite:Das Ausland (1828) 628.jpg

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Art der Vererbung werden sie immer mehr zerstückelt, so daß in einigen Generationen die meisten aristokratischen Güteranhäufungen allmälig verschwinden dürften.

Hier scheint das jetzige Vaterland jener nomadischen Stämme zu seyn, die ganz Europa durchschweifen, und deren Ursprung sich in die Nacht der Jahrhunderte verliert – der Zigeuner. So wie die Juden zu ihrem Lieblingswohnplatze eines der ärmsten Länder des Nordens, das alte Königreich Polen, gewählt haben, so scheinen die Zigeuner, die Juden des Heidenthums – ohne Vaterland, ohne Asyl, ohne bekannten Ursprung, ohne irgend eine Achtung bei den Menschen, aber mit den unauslöschlichen Zügen ihres Charakters, ihrer Sitten und Gewohnheiten – das elendeste Land im Süden Europas zu ihrem Hauptquartier gewählt zu haben. Auf 1,500,000 Seelen, welche die Bevölkerung der Modau und Wallachei bilden, [1] zählt man 150,000 Zigeuner. Im 16ten Jahrhunderte sollen sie in Masse aus Deutschland in diese Länder eingedrungen seyn. Sie genießen einer festen Gesundheit, scheuen die Arbeit, die Unterwerfung unter das Gesetz und ein sitzendes Leben. Selbst hier, wo es Nichts zu stehlen giebt, können sie ihren unwiderstehlichen Hang dazu nicht verleugnen, und prophezeien Leuten Glück, die so jämmerlich daran sind als sie selbst. Sie bekennen sich zu keinem Religionscultus, wenn sie nicht durch ihre Herren gezwungen werden. Ehen und bürgerliche Rechte und Pflichten kennen sie nicht. Der Zigeuner der Moldau und Wallachei ist ein Sklave, den man kauft und über den man wie über eine Sache verfügen kann. Gegen 80,000 von ihnen sind Leibeigene der Regierung, und genießen in so ferne eine Art von Freiheit, als ihnen die Regierung keine Arbeit geben kann. Jedes Individuum männlichen Geschlechts, das über fünfzehn Jahre alt ist, zahlt eine Kopfsteuer. Sie lassen sich zu den niedrigsten Handthierungen gebrauchen. Schinder und Henker werden vorzugsweise aus ihnen gewählt. Ein großer Theil bringt sein Leben vor den Thüren der Wirthshäuser und der Bojaren zu, wo sie mit den Instrumenten des Landes ihre Katzenmusik aufführen. Die Leibeigenen der Privatleute müssen häusliche Arbeiten verrichten, oder die Weinberge bauen. Ihre Herren haben nicht das Recht, sie mit dem Tode zu bestrafen, können sie aber prügeln lassen so oft sie wollen.

Das Klima der Fürstenthümer, denen das schwarze Meer und der Hämus gegen Osten liegt, während die Kette der Karpathen sie gegen Westen begrenzt, ist äußerst veränderlich. Oft nöthigt der Nordostwind, selbst in den Hundstagen, die Einwohner, zu ihren Pelzkleidern zu greifen. In der Atmosphäre, wie auf dem Boden, bekämpfen sich Nord und Süd. Im Sommer brechen furchtbare Stürme und Ungewitter aus. Der Winter ist streng und lang: vom Anfang Decembers bis Ende Februars ist, wie in Rußland, alles mit Schnee und Eis bedeckt; alle Flüsse gefrieren; selbst die Donau, so breit ihr Bett und so schnell ihr Lauf ist, findet man in der Regel sechs Wochen lang mit so starker Eisdecke überzogen, daß die schwerste Artillerie darüber fahren kann.

Man sollte glauben, daß in diesen durch Sklaverei niedergedrückten Gegenden die Städte denselben traurigen Anblick, wie das Volk, darbieten, was jedoch nicht in allen Beziehungen der Fall ist. Bucharest, die Hauptstadt der Wallachei, zählt 80,000 (?) Einwohner und besitzt 366 (?) Kirchen und 20 Klöster. Vor vier Jahrhunderten war es ein, einem Privatmanne, Name Bukor, gehöriges Dorf. Im J. 1688 wurde es der Sitz der Regierung, welche Wahl sich durch die Leichtigkeit der Communicationen mit der Türkei rechtfertigte.

Die Straßen von Bucharest sind, gleich denen der übrigen großen Städte der Wallachei, nicht gepflastert, sondern nur mit eichenen Bohlen bedeckt, und für Fußgänger wie für Wagen gleich beschwerlich. Im Sommer dünsten diese engen, schmutzigen, jedes Luftzugs beraubten Straßen tödtliche Miasmen aus, und erzeugen Epidemien. Die Eingebornen behaupten, daß der Boden zu weich sey, als daß ein Steinpflaster anwendbar wäre – und doch haben sie unter ihren Augen die prächtigen Chausseen der Römer. Der Adel ist zu indolent, und die Hospodare sind zu ängstlich, um dergleichen Arbeiten vornehmen zu lassen.

Jassy, die Hauptstadt der Moldau, ist kleiner aber schöner als Bucharest: eine große Zahl seiner Häuser wurden von fremden Kaufleuten gebaut. Seine Bevölkerung beträgt 40,000 Einwohner. Der fürstliche Palast umschließt, gleich dem Serail, mit seinen weiten Mauern eine Reihe von Höfen und Gärten, die durch eine Menge von Domestiken bevölkert sind.

In beiden Fürstenthümern haben Unwissenheit und Faulheit ihren Thron aufgeschlagen. Daß der Bauer lesen könne, kann man nicht verlangen, wenn selbst der Bojar und der Priester es nicht kann. Die Administration des Landes geht von Constantinopel aus. Die Kirche hat, außer dem Carneval, 210 (?) Festtage im Jahr. Dieß sind für das Volk Tage der Ruhe. Aber die öffentlichen Beamten haben bei dieser öffentlichen Apanage der National-Faulheit sich noch immer den Theil des Löwen vorbehalten. Außer jenen einem heiligen Müßiggang geweihten Tagen machen sie an Ostern ein paar Wochen Ferien, und eine noch längere Zeit während der Hundstage. Mit einem Wort, alles in diesem Lande pflegt der Ruhe, mit Ausnahme der Steuereinnehmer und der Insecten.

Die Sprache ist ein Gemisch von Latein und Slavonisch. Jahrhunderte lang kannte man hier kein Buch, sogar nicht einmal die Bibel, ja selbst ein Alphabet für die Sprache fehlte. Es ist zu verwundern, daß eine so tiefe Unwissenheit auch nur in dem entferntesten nördlichsten Canton ein Asyl finden konnte; noch unbegreiflicher aber ist es, daß jene Ignoranz selbst auf der directen Route von Wien nach Constantinopel herrscht, auf einem Gebiete, das der stete Gegenstand diplomatischer Discussionen zwischen Rußland und der Pforte ist, bei einem Volke bei dem das Lateinische beinahe die Muttersprache bildet, und das stets seine Abstammung von den alten Römern

  1. Nach neueren Angaben betrug diese Bevölkerung zwischen 1820 bis 1825 nur 8 bis 900,000.
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_628.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2023)