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Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 163 und 164, 11 und 12 Juny 1828.

Ueber die Angelegenheiten des Orients,

von General Pelet.

(Fortsetzung)

Um eine vollständige Ansicht von der brittischen und russischen Macht zu erhalten, stellen wir beide Staaten neben einander. England, dessen Hauptstärke im Handel und Gewerbfleiß besteht, beherrscht die Welt durch seine Reichthümer, seine Marine und seine Politik; aber überall, wo es Mann gegen Mann gilt, ist es schwach, und um so schwächer, je mehr es sich ausgedehnt hat. Rußland ist eine große Landmacht, der Geist seiner Völker kriegerisch, seine Verfassung militärisch; seine weiten Landschaften bedecken sich nach und nach mit unermeßlichen Kasernen, Militärkolonien [1] genannt, wo das heilige Recht des Menschen, die Freiheit des häuslichen Heerds, durch die gewaltsame Einführung des Kriegers verletzt wird; denn der russische Bauer ist sein ganzes Leben Soldat oder muß für den Soldaten arbeiten. England gab dem Continent das erste Beispiel einer Beschränkung der Militärmacht, indem es sein Heer auf den Friedensfuß setzte. England, das lange Zeit Europa in seinem Sold hatte, wäre gegenwärtig nicht im Stande[2] gegen Preußen allein Hannover zu vertheidigen. Und Rußland? Es hat seit dem Jahr 1815 nicht aufgehört, seine Heere zu vermehren, es kann gegen alle Mächte kämpfen, und, wenn sie nicht gemeinschaftliche Sache machen, alle besiegen. Wir sahen in dem letzten Kriege Großbritannien nahe daran, zu unterliegen; eine starke Erschütterung, schon allein die Fortschritte des Gewerbfleißes in beiden Welten, ein Fehljahr oder eine Bankverlegenheit können es über den Haufen werfen; weit entfernt, in seiner Bevölkerung von Proletariern eine unerschöpfliche Quelle der Kraft zu besitzen, seufzt es unter der erdrückenden Last der Armentaxe [3]), die noch zu so vielen andern Lasten hinzu kommt, und den Staat immerwährend mit völligem Untergang bedroht. Das alte Reich der Scythen ist durch sein Eroberungssystem und durch die Entwicklung seiner groben Civilisation, die keinen andern Zweck hat, als das Werkszeug der Herrschaft zu vervollkommnen fort und fort im Zunehmen begriffen. Gegen die Invasion der Czare hat endlich der Continent keine Waffen, während eine einzige durchgeführte Polizeimaßregel, die Schließung

  1. Ueber die Militärkolonisation und die Macht Rußlands findet man schätzbare Nachrichten in dem historischen Versuch des Dr. Lyall, erschienen mit den Bemerkungen des gelehrten M. v. M. Nach dem englischen Doctor wird die ganze leibeigene Bevölkerung, die Kroneigenthum ist, nach und nach in die Regimenter eingereiht, wo sie nicht nur einer eisernen Kriegszucht und dem Militärgericht, das, in letzter Instanz erkennend, den Kolonisten zur Verbannung nach Sibirien, dem Straf-Maximum russischer Justiz, verurtheilen kann, sondern wo sie einer täglichen inquisitorischen Polizei unter den Korporalstöcken der Kolonialoffiziere unterliegt, wo nicht nur die Weiber und die Kinder unter denselben harten Gesetzen gehalten werden, sondern selbst die ältesten Männer den Soldatenrock anziehen müssen. Wenn Rußland seinen Plan verfolgt, so hat es mit der Zeit eine Million Soldaten, die beinahe so gut sind als die Linientruppen, und später eine militärische Bevölkerung von fünf Millionen. Ein Kolonialoffizier behauptete, in dreißig Jahren könne Rußland sechs Millionen geübter Soldaten in’s Feld rücken lassen.
    Dr. Lyall prophezeit als Folge des fortgesetzten Militär-Kolonisationsystems „den Umsturz aller Dynastien Europas durch einen kriegerischen Autokraten, oder die Zersplitterung Rußlands unter einem schwachen.“ Er bemerkt, „daß die Bauern über eine Maßregel, die aus der friedlichen Hütte eine Wachtstube macht, als über einen Angriff auf die Freiheit selbst der Sklaverei murren; wohl könnten sie mit dem römischen Landmanne sagen: Impius haec tam culta novalia miles habebit. ...“ Die Russen suchten das Gehässige der Maßregel dadurch zu bemänteln, daß sie dieselbe als ein Mittel der Civilisation darstellten. Aber welche Civilisation! Und welche Perspective für die von Rußland bedrohten Länder!
  2. Nach Dupin (Force militaire de la Grande-Bretagne) hätte der definitive Friedensfuß dieser Macht, im J. 1820, 88,423 Mann betragen. Zur Zeit, da England 200,000 Mann regulärer Truppen und, seine Miethtruppen eingerechnet, 260,000 Mann unter den Waffen hielt, verwandte es in seinen Continentalkriegen nie mehr als 40,000 Nationalsoldaten auf einem Punkt. Dieser gelehrte Schriftsteller schätzt die Militärkräfte Rußlands auf 800,000 Mann. „Rußland, sagt er (Th. 1, S. 254), wird auf seiner westlichen Grenze ein Lager aufschlagen, welches die Pflanzschule künftiger Invasionen werden wird.“
  3. Die Plage der Bettler nimmt in dem Lande, dem das Gold der Welt zufließt, von Tag zu Tag mehr überhand. Im Jahr 1816 lebte in England 1/3 der Bevölkerung (= 4,000,000 Menschen) von den Almosen der Kirchspiele, d. h. von der jährlich auf 300,000,000 Fr. sich belaufenden Armentaxe. Dieses Uebel hat seinen Grund in der ungleichen Vertheilung des Eigenthums und in dem Pachtwesen. Die vormaligen Erbpächter einiger Grundstücke sanken nach und nach zu Taglöhnern und zuletzt zu Bettlern herab. Histoire de la situation de l’Angleterre, par M. de Montveran.
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_675.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)