Seite:Das Ausland (1828) 715.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 173. 21 Juny 1828.

Der Valentins Tag.

Walter Scott’s neuester Roman.

[1]


Napoleon hat zwar die Schlachten bei Leipzig und bei Waterloo verloren, aber man hat deshalb nicht aufgehört, ihn als den grand Capitaine unserer Zeit zu betrachten: Walter Scott hat zwar einen sehr schlechten Roman – den St. Ronans-Brunnen – und eine noch schlechtere Geschichte – Das Leben Napoleons – geschrieben; aber sollte man deshalb aufhören, ihn als den größten Romanendichter unserer Tage gelten zu lassen? Und doch scheint es so. Die Neugierde machte es ihm unmöglich, länger the great unknown – der große Unbekannte – zu seyn; aber er ist darum nicht der große Bekannte geworden. Vielleicht ging es uns mit Walter Scott, wie dem Kammerdiener Voltaire’s oder irgend eines anderen großen Mannes: er konnte nicht begreifen, was die Menschen so Außerordentliches an seinem Herrn fänden, den er doch gleich tausend anderen ehrlichen Leuten des Nachts seine Schlafmütze aufsetzen und des Morgens seinen Schlafrock anziehen sähe. Vielleicht – doch wozu alle diese Vermuthungen, da das Factum selbst, das sie erklären sollen, noch ein sehr zweifelhaftes ist? Die Kritiker zwar und die Aesthetiker scheuen sich, seinen Namen in den Mund zu nehmen, ohne ihre Mißbilligung auszudrücken, oder ihren astriscus improbans hinzuzufügen; aber das Publikum liest ihn noch immer mit derselben Liebe, die große Masse verschlingt die Waaren, die unter seiner Firma ausgeboten werden, noch immer mit demselben Heißhunger, als da sie zuerst auf den Markt kamen.

Wenn wir auch keinesweges geneigt sind, in allen Fällen die Richtigkeit des alten Spruches vox populi, vox dei zuzugeben; da wir sonst uns genöthigt sähen, abwechselnd Abgötterei und Atheismus, Verehrung von Sonne, Mond und Sternen und Verehrung hölzerner Bilder, kurz religiösen und politischen Fanatismus und Aberglauben und Thorheiten aller Art zu billigen: so können wir doch der allgemeinen Stimme des Volkes oder, wenn man will, des Pöbels zu Gunsten Walter Scott’s unsere herzlichste Zustimmung nicht versagen. Wie es das größte Werk der Gottheit war, den Menschen zu schaffen, so ist es das größte Werk des Dichters, den Bildungen seiner Phantasie Leben, Seele, Charakter zu geben. Und Wer hat, nach Shakspeare, dieß verstanden, wie Walter Scott? Der alte Malice von Ravenswood erfüllt uns, in der Braut, obwohl wir ihn nicht sehen, mit demselben Gespenstergrauen, wie der Geist im Hamlet; der tapfere Dugald Dalgetty von Drumwaket tritt aus den Schaaren Montrose’s, im Allan Mac Aulay, uns mit derselben humoristischen Originalität entgegen, wie Fallstaf im Heinrich IV oder in den lustigen Weibern von Windsor.

Unter den Ausstellungen, die man an Walter Scott macht, ist keine gewöhnlicher, aber auch keine leichter zu widerlegen, als die, daß er sich längst erschöpft habe und in seinen späteren Romanen eigentlich nur seine früheren mit einfacher Veränderung der Scene, der Zeit und – der Umstände wiederhole. Fürwahr, wenn unsere Dichter sich keine andern Plagiate erlaubten, als solche; so könnten wir sie ihnen wohl verzeihen. Wir möchten überhaupt bezweifeln, ob es möglich sey, einen neuen Character zu schaffen, da derselbe doch immer sein Urbild in der Natur des menschlichen Geistes haben müßte: Alles, was wir daher von dem Dichter verlangen können, ist Wahrheit, Neuheit, Originalität in der Darstellung der Umstände, durch welche sich seine Charactere entwickeln. Wir getrauen uns nachzuweisen, daß Hamlet und Romeo und Antonio – im Kaufmann von Venedig – und – – Lear nur ein und derselbe Charakter unter verschiedenen äußeren Umständen seyen; aber Niemand wird uns dieß glauben ohne Beweis, und der Beweis würde uns zu weit von unserem Gegenstande abführen: daher nur noch ein Wort über den Vorwurf, daß Walter Scott sich erschöpft habe, oder vielmehr eine Bitte an die, welche diesen Vorwurf erheben.

Was wir bitten, ist gering: wir bitten nur den neuesten Roman Walter Scott’s zu lesen, der vor wenigen Wochen (in der Mitte Mai’s) in London erschienen ist. Wie Sophokles zur einzigen Antwort auf die Anklage, daß er kindisch geworden sey, mit seinem Oedipus von Kolonos auftrat; so widerlegt Walter Scott den Tadel, „er habe sich ausgeschrieben,“ mit einem neuen Romane und zwar mit einem der schönsten und bewunderungswürdigsten, die je in irgend einer Sprache geschrieben worden sind.

Wir kennen den Character eines Menschen, wenn wir sagen können, was er unter gegebenen Umständen thun würde. In allen Romanen Walter Scott’s werden wir mit den Charaktern, deren Bekanntschaft wir machen, so vertraut, als wenn sie uns im wirklichen Leben begegneten;

  1. Chronicles of the Canongate. Second Series. By the Author of Waverley. London, 1828. 3 vols. 8vo.
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard L. Schuhkrafft: Das Ausland. Cotta, Stuttgart, München, Augsburg, Tübingen 1828, Seite 689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_715.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)