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In den Vorlesungen lehren wir das Alphabet, in den Laboratorien den Gebrauch dieser Zeichen; der Schüler erwirbt sich darin Fertigkeit im Lesen der Sprache der Erscheinungen, er lernt die Regeln der Combinationen, so wie Gewandtheit und die Gelegenheit, sie in Anwendung zu bringen.

Sobald sich diese Buchstaben und Zeichen zu einer geistigen Sprache gestaltet haben, so verliert und verwischt sich ihre Bedeutung nicht mehr. Mit ihrer Kenntniss ist er ausgerüstet, um unbekannte Länder zu erforschen, sich überall zu belehren und Entdeckungen zu machen, wo ihre Zeichen gelten; sie ist das Mittel zum Verständniss der Sitten, der Gewohnheiten, der Bedürfnisse, die in diesen Gegenden herrschen. Er kann zwar auch ohne die Kenntniss dieser Sprache die Grenzen dieser Länder überschreiten, allein er setzt sich zahllosen Missverständnissen und Irrthümern aus. Er fordert Brod, und man giebt ihm einen Stein.

Die Medicin, die Physiologie, die Geologie, die Experimentalphysik, sie sind diese unbekannten Länder, deren Gesetze, deren Einrichtungen und Regierungsformen er kennen lernen will. Ohne die Sprache der Erscheinungen zu kennen, ohne die Kunst, sie zu interpretiren, bleibt ihm nichts darin zu entdecken übrig, als die Kenntniss der Formen und äusseren Beschaffenheiten.

Die bedeutungsvolle und mächtige Bewegung in der neueren Physiologie ist darauf gerichtet, die vorhandenen Mängel zu beseitigen und Brücken für den Uebergang der Chemie in dieses Gebiet zu erbauen; die Kenntniss der äusseren Formen und der mechanischen Vorgänge befriedigt die Physiologen in unserer Zeit nicht mehr, sie sind durchdrungen von der Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit einer tieferen, inneren, einer chemischen Einsicht; aber ist diese denkbar oder möglich ohne Kenntniss unserer Sprache?

Wenn manche minder begabte Physiologen der Chemie den Vorwurf machen, dass alle unsere Resultate ihnen nutzlos, unfähig einer nützlichen Anwendung für sie wären, so kann man sicher sein, dass sie ihren Sinn und ihre Bedeutung nicht verstehen; für sie wäre es eben so unmöglich, ein Buch in deutscher Sprache, aber in hebräischen Buchstaben geschrieben, zu lesen, wenn sie diese Buchstaben nicht kennen.

Bemerken Sie nicht, dass die Physiologie von vielen Medicinern in ganz gleicher Weise, wie die Chemie, gering geachtet wird? dass ihr die Medicin die gleichen Vorwürfe macht, und zwar mit demselben Unrechte?

Es giebt in der That Aerzte und medicinische Schriftsteller, welche behaupten, dass eine auf exacte Kenntniss zu begründende Wissenschaft der diätetischen und medicinischen Praxis unmöglich sei, und auf diese Voraussetzung begründen sie das Recht, das Wesen „des Lebens“ auf ihre eigene Art zu erklären; sie bemühen sich, die mangelhaften Vorstellungen, welche ihnen die Betrachtung gewisser physiologischer, pathologischer und therapeutischer Erscheinungen einflösst, deren innerer Zusammenhang ihnen unbekannt ist, uns als Naturgesetze, als Gesundheits- und Krankheitsgesetze aufzudrängen. Nicht das Studium der Natur, sondern das ihrer Bücher sei, so meinen sie, für die medicinische Praxis von Werth. In den Worten „Lebenskraft“ und „Lebensgewalten“ schaffen sie sich wunderbare Dinge, mit denen sie alle Erscheinungen erklären,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_009.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)