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ist unendlich schwer, eine falsche Lehre zu widerlegen, eben weil sie auf der Ueberzeugung beruht, dass das Falsche wahr sei.

Es war gewiss der vernünftigen Naturforschung nicht angemessen, Bildungs-, Ernährungs- und Secretionsprocesse im Organismus zu erklären, ehe man die Nahrungsmittel und die Quellen kannte, aus denen sie stammen, ehe man Eiweiss, Kässtoff, Blut, Galle, Gehirnsubstanz etc. zuverlässigen Untersuchungen unterworfen hatte. Alles dies sind ja sonst nur Namen, deren Buchstaben man höchstens kennt; ehe man ihre Eigenschaften und ihr Verhalten, ehe man die Metamorphosen kannte, die sie in Berührung mit andern Körpern erleiden, ehe man mit einem Worte sie zum Sprechen gebracht hatte, durfte man erwarten, dass sie uns etwas sagen würden?

Die Ursache der Lebenserscheinungen ist eine Kraft, die nicht in messbaren Entfernungen wirkt, deren Thätigkeit erst bei unmittelbarer Berührung der Nahrung oder des Blutes mit dem zur Aufnahme oder ihrer Veränderung geeigneten Organ wahrnehmbar wird. In ganz gleicher Weise äussert sich die chemische Kraft, ja es giebt in der Natur keine Ursachen, welche Bewegung oder Veränderungen bewirken, keine Kräfte, die einander näher stehen, wie die chemische Kraft und die Lebenskraft. Wir wissen, dass chemische Actionen überall eintreten, wo sich überhaupt verschiedenartige Körper berühren; vorauszusetzen, dass eine der mächtigsten Naturkräfte an den Processen in dem lebendigen Organismus keinen Antheil nehme, obwohl sich gerade hier alle Bedingungen, unter denen sie sich thätig zeigt, vereinigen, würde gegen alle Regeln der Naturforschung sein. Weit entfernt aber, Gründe für die Ansicht zu haben, dass die chemische Kraft in dem Grade sich der Lebenskraft unterordne, dass ihre Wirkungen für unsere Beobachtungen verschwinden, sehen wir in dem Athmungsprocess die chemische Kraft des Sauerstoffs z. B. in jeder Zeitsecunde in ihrer vollen Wirksamkeit; so sind der Harnstoff, das Allantoin, die Säure in den Ameisen und Wasserkäfern, die Oxalsäure, das flüchtige Oel der Baldrianwurzel, das Oel der Blüthe der Spiraea ulmaria, das flüchtige Oel der Gaultheria procumbens, Producte des Lebensprocesses; aber sind es, so muss man fragen, Producte der Lebenskraft?

Wir sind im Stande, durch die chemische Kraft alle diese Verbindungen hervorzubringen; aus dem Koth der Schlangen und Vögel erzeugt die Chemie die krystallinische Substanz der allantoischen Flüssigkeit der Kuh, aus verkohltem Blut machen wir Harnstoff, aus Sägespänen Zucker, Ameisensäure, Oxalsäure, aus Weidenrinde das flüchtige Oel der Spiraea ulmaria, das Oel der Gaultheria, aus Kartoffeln die flüchtige ölartige Säure der Baldrianwurzel.

Dies sind Erfahrungen genug, um die Hoffnung zu begründen, dass es uns gelingen wird, Chinin und Morphin, die Verbindungen, woraus Eiweiss oder die Muskelfaser besteht, mit allen ihren Eigenschaften hervorzubringen.

Unterscheiden wir die Wirkungen, welche der chemischen Kraft, von denen, welche der Lebenskraft angehören, und wir befinden uns auf dem Wege, um Einsicht in die Natur der letzteren zu gewinnen. Nie wird der Chemismus im Stande sein, ein Auge, ein Haar, ein Blatt zu erzeugen. Wir wissen aber mit Bestimmtheit, dass die Entstehung von

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_013.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)