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Theorie heisst die Darlegung des Zusammenhanges aller derjenigen Naturgesetze, durch deren Zusammenwirken eine Erscheinung, ein Vorgang bedingt wird.

Durch die genaue Bekanntschaft mit einer Thatsache, einem Vorgang, sind Sie im Stande andere Thatsachen, andere Vorgänge sich klar zu machen; jede Eigenschaft eines Körpers giebt unter Umständen einen Schlüssel ab, um eine verschlossene Thür zu öffnen, aber die Theorie ist der Hauptschlüssel womit sich alle Thüren öffnen. Sie verstehen, wie sehr sich der Begriff von Theorie im Sinne der Naturforschung von dem Worte Theorie im gewöhnlichen Sprachgebrauch unterscheidet. In diesem bedeutet es häufig das gerade Gegentheil von Erfahrung oder Praxis, es bezeichnet oft den Mangel an Bekanntschaft mit Thatsachen und Naturgesetzen; in unserem Sinne ist die Theorie die Summe aller Praxis, sie beruht auf der genauesten Kenntniss der Thatsachen und der Naturgesetze und ist aus dieser Kenntniss hervorgegangen.

Wenn ich hier das Wort Praxis im Gegensatz zu dem Worte Theorie, welches Einsicht heisst, gebrauche, so meine ich nicht damit die praktische Fertigkeit eines Individuums in einer Kunst oder einem Gewerbe. Ein praktischer Physiker giebt dem Mechanikus genau und in allen Einzelheiten die Wege an, um einen genauen Thermometer oder Barometer zu machen, wie er die Röhre calibriren, welche Beschaffenheit das Quecksilber haben muss, ohne dass er im Stande ist einen Thermometer zu machen, weil er das Glasblasen nicht gelernt hat. Der praktische Chemiker sagt dem Schwefelsäurefabrikanten mit der grössten Bestimmtheit und Sicherheit, wie viel Schwefel in einem gegebenen Luftstrome, der durch den Schwefelofen geht, verbrennen darf, um das Maximum an Schwefelsäure zu bekommen, ohne deshalb Schwefelsäure mercantilisch mit Vortheil fabriciren zu können; er sagt dem Landwirth, welche Bestandtheile sein Boden enthalten muss, um den höchsten Ertrag an Kartoffeln darauf zu ziehen, ohne zu wissen, wann die Kartoffeln im Frühjahr gelegt werden müssen; er stellt aus der Chinarinde das Chinin dar, ohne nur entfernt die für die verschiedenen Krankheitszustände nöthigen Gaben zu kennen; er macht den Physiologen mit der Natur und Beschaffenheit der Blutbestandtheile oder der Secrete in gesunden und kranken Körperzuständen bekannt, ohne etwas von den Krankheitserscheinungen und ihren Beziehungen zu dem Lebensprocesse zu kennen. Diese Art von Praxis, welche auf der technischen Anwendung von Naturgesetzen beruht, giebt einen Massstab ab für die Geschicklichkeit des Glasbläsers, des Schwefelsäurefabrikanten, für die Erfahrungen des Landwirthes und Arztes und die Kenntnisse des Physiologen, aber die praktische Befähigung des Chemikers kann damit nicht gemessen werden; er soll praktisch die Naturgesetze, er soll praktisch die Wege sie zu erforschen und die Grundsätze ihrer Anwendungen kennen, und es ist ihm deshalb das Studium der andern Zweige der Naturwissenschaften und die Bekanntschaft mit Mathematik und den chemischen Gewerben unentbehrlich.

Seine nächste Aufgabe ist die Erforschung der Eigenschaften der Körper und ihrer mannichfaltigen Verbindungen; alle Anwendungen der Chemie beruhen auf der Bekanntschaft mit diesen Eigenschaften und entspringen daraus. Auf der Kenntniss der Eigenschaften von vier

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_020.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)