Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 025.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


zu haben, alle Glieder waren bereits vorhanden und in die richtige Verbindung gebracht.

Die Chemie umfasst die Wirkungen von Naturkräften der verborgensten Art, die sich nicht wie viele physikalische Kräfte, wie das Licht, die Schwere, durch Thätigkeiten kund geben, welche täglich die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen; es sind Kräfte, welche nicht in Entfernungen wirken, deren Aeusserungen nur bei der unmittelbaren Berührung verschiedenartiger Materien wahrnehmbar sind. Es gehörten Jahrtausende dazu, um die Welt von Erscheinungen zu schaffen, woraus die Chemie zu Lavoisier’s Zeiten bestand. Unzählige Beobachtungen mussten gemacht sein, ehe man im Stande war, die auffallendste chemische Erscheinung, das Brennen eines Lichtes, zu erklären, ehe man die verborgenen Fäden auffand, welche zum Bewusstsein führten, dass das Rosten des Eisens in der Luft, das Bleichen der Farben, der Athmungsprocess der Thiere abhängig von derselben Ursache ist.

Um zu den chemischen Kenntnissen zu gelangen, über die wir heute verfügen, war es nöthig, dass Tausende von Männern, mit allem Wissen ihrer Zeit ausgerüstet, von einer unbezwinglichen, in ihrer Heftigkeit an Raserei grenzenden Leidenschaft erfüllt, ihr Leben und Vermögen und alle ihr Kräfte daransetzten, um die Erde nach allen Richtungen zu durchwühlen, dass sie, ohne müde zu werden und zu erlahmen, alle bekannten Körper und Materien, organische und unorganische, auf die verschiedenartigste und mannichfaltigste Weise mit einander in Berührung brachten; es war erforderlich, dass dies fünfzehn Jahrhunderte hindurch geschah.

Es war ein mächtiger unwiderstehlicher Reiz, der die Menschen antrieb, sich mit einer Geduld und Ausdauer, die ohne Beispiel in der Geschichte ist, mit Arbeiten zu beschäftigen, welche kein Bedürfniss der Zeit befriedigten. Es war das Streben nach irdischer Glückseligkeit.

Eine wunderbare Fügung pflanzte in die Gemüther der weisesten und erfahrensten Männer die Idee der Existenz eines in der Erde verborgenen Dinges, durch dessen Auffindung der Mensch in den Besitz dessen gelangen kann, was die höchsten Wünsche der höheren Sinnlichkeit umschliesst: Gold, Gesundheit und langes Leben. Das Gold giebt die Macht, ohne Gesundheit giebt es kein Geniessen, und das lange Leben tritt an die Stelle der Unsterblichkeit. (Goethe.)

Diese drei obersten Erfordernisse der irdischen Glückseligkeit glaubte man vereinigt in dem Stein der Weisen; die Aufsuchung der jungfräulichen Erde, des Mittels zur Darstellung der geheimnissvollen Substanz, welche in der Hand der Weisen oder Wissenden jedes unedle Metall in Gold verwandelt, das, wie man später glaubte, in seiner höchsten Vollkommenheit als Arzneimittel gebraucht, alle Krankheiten heilt, den Körper verjüngt und das Leben verlängert, war aber tausend Jahre lang der alleinige und Hauptzweck aller chemischen Arbeiten.

Um das Wesen der Alchemie richtig aufzufassen und zu beurtheilen, muss man sich daran erinnern, dass man bis zum sechszehnten Jahrhundert die Erde für den Mittelpunkt des Weltalls hielt, das Leben und die Schicksale der Menschen wurden als in engster Verbindung stehend betrachtet mit der Bewegung der Gestirne. Die Welt war ein grosses

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_025.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)