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und geheimnissvoller. Die Gewohnheit, Zeitlängen mittelst Gebeten zu bestimmen, ging im 10. und 12. Jahrhundert in die Laboratorien der Alchemisten über, und es ist leicht erklärlich, wie allmählich das Gelingen der Operationen wesentlich bedingt von der Wirksamkeit des Gebetes angesehen wurde, was ursprünglich nur die Dauer derselben bezeichnen sollte. Im 17. Jahrhundert war die Umkehrung alchemistischer Ideen in religiöse Begriffe so vollkommen, dass man für letztere häufig die alchemistischen Ausdrücke gebrauchte. In den Schriften der mystischen Secten (z. B. des Schwärmers Jacob Böhme, † 1624) bedeutet Stein der Weisen nicht mehr die golderzeugende Substanz, sondern „Bekehrung“, der irdene Ofen ist der irdische Leib, der grüne Löwe der Löwe David’s etc.

Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst war es leicht, das, was ein Alchemist erforscht hatte, geheim zu halten; er tauschte es nur gegen die Erfahrungen anderer Eingeweihten aus. Die chemischen Processe, welche sie bekannt machten, sind klar und verständlich, insoweit dieselben zu keinem Resultate in Hinsicht auf den Hauptzweck ihres Strebens führten; ihre Ansichten und Arbeiten über das grosse Magisterium drückten sie in Bildern und Symbolen aus: in einer unverständlichen Sprache sagten sie, was ihnen selbst nur dämmernde Vermuthung war.

Worüber man am meisten sich wundern muss, ist offenbar der Umstand, dass die Existenz des Steins der Weisen so viele Jahrhunderte hindurch als eine über jeden Zweifel erhabene Wahrheit gelten konnte, obwohl ihn Keiner besass, und Jeder behauptete, dass ihn ein Anderer besitze.

Wer konnte in der That einen Zweifel hegen, nachdem van Helmont erzählt hatte (1618), dass ihm mehrmals von unbekannter Hand ¼ Gran des kostbaren Körpers zugestellt worden sei, womit er 8 Unzen Quecksilber in reines Gold verwandelt habe! Hatte nicht Helvetius, der ausgezeichnete Leibarzt des Prinzen von Oranien, der bittere Widersacher der Alchemie, selbst in seinem Vitulus aureus quem mundus adorat et orat (1667) erzählt, die bündigsten Beweise der Existenz des Steins der Weisen erhalten zu haben? Denn er, der Zweifler, hatte von einem Fremden ein Stückchen von der Grösse eines halben Rübsamenkorns erhalten, und damit in Gegenwart seiner Frau und seines Sohnes 6 Drachmen Blei in Gold verwandelt, was die Prüfung der Münzwardeine im Haag bestand! Wurden nicht in Gegenwart des Kaisers Ferdinand III. zu Prag (1637 bis 1657) mit Hülfe von einem Gran eines rothen Pulvers, welches er von einem gewissen Richthausen, und dieser von einem Unbekannten erhalten hatte, durch den Oberbergmeister Graf von Russ drittehalb Pfund Quecksilber in feines Gold verwandelt, woraus eine grosse Medaille geprägt wurde (Kopp. II. 171), worauf der Sonnengott (Gold) dargestellt war, Mercurs Schlangenstab haltend (um die Entstehung aus dem Quecksilber anzudeuten) mit der Umschrift Divina Metamorphosis exhibita Pragae XV. Jan., An MDCXLVIII in Praesentia Sac. Caes. Maj. Ferdinandi Tertii etc. (sie soll noch 1797, wie J. F. Gmelin berichtet, sich in der Schatzkammer zu Wien befunden haben). Auch der Landgraf von Hessen-Darmstadt, Ernst Ludwig, hatte, so erzählen die Alchemisten, von unbekannter Hand ein Päckchen mit rother

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_030.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)