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Der Stein der Weisen, den die Alten im dunkeln unbestimmten Drange suchten, ist in seiner Vollkommenheit nichts anderes gewesen, als die Wissenschaft der Chemie.

Ist sie nicht der Stein der Weisen, der uns verspricht, die Fruchtbarkeit unserer Felder zu erhöhen und das Gedeihen vieler Millionen Menschen zu sichern; verspricht sie uns nicht, statt sieben Körner deren acht und mehr auf demselben Felde zu erzielen?

Ist nicht die Chemie der Stein der Weisen, welcher die Bestandtheile des Erdkörpers in nützliche Producte umformt, welche der Handel in Gold verwandelt; ist sie nicht der Stein der Weisen, der uns die Gesetze des Lebens zu erschliessen verspricht, der uns die Mittel liefern muss, die Krankheiten zu heilen und das Leben zu verlängern?

Eine jede Entdeckung schliesst der Forschung immer ausgedehntere und reichere Gebiete auf, und in den Naturgesetzen suchen wir immer noch nach der jungfräulichen Erde; dieses Suchen wird kein Ende haben.

Der Mangel an Kenntniss der Geschichte ist der Grund, warum man häufig auch auf die zweite Periode der Chemie, auf die phlogistische, mit Geringschätzung, ja mit einer Art von Verachtung zurückblickt. Unser Dünkel findet es unbegreiflich, dass die Versuche von Jean Rey über die Gewichtszunahme der Metalle beim sogenannten Verkalken unbeachtet bleiben, dass neben diesen die Idee des Phlogistons sich entwickeln und Bestand gewinnen konnte. Aber alle Bemühungen in diesem Zeitalter waren auf das Ordnen des Erworbenen gerichtet, nachdem das zu Ordnende vorhanden war. Die Beobachtungen Jean Rey’s sind für diese Periode ohne allen Einfluss geblieben, weil sie nicht in Verbindung gebracht waren mit dem Verbrennungsprocess überhaupt; denn wie viele Körper gab es nicht, welche beim Verbrennen leichter wurden, oder welche ganz für die Wahrnehmung verschwanden! Das Ziel aller Arbeiten Becher’s und Stahl’s und ihrer Nachfolger war eben die Aufsuchung der Erscheinungen, welche in einerlei Classe gehörten und einerlei Ursache ihre Entstehung verdankten.

Dass die Verkalkung der Metalle und die Erzeugung der Schwefelsäure aus Schwefel, so wie die Wiederherstellung der Metalle aus den Metallkalken und die des Schwefels aus der Schwefelsäure analoge Vorgänge seien und mit einander im Zusammenhange stehen, diese grosse unvergleichliche Entdeckung bedingte den Fortschritt bis zu uns; in ihr liegt eine Wahrheit, welche heute noch als solche gilt und unabhängig ist von der Kenntniss des Gewichtes; ehe man anfangen konnte zu wägen, musste man wissen was gewogen werden solle; ehe man misst, muss man eine Beziehung zwischen zwei Dingen kennen, welche festgestellt werden soll. Diese Beziehungen für den wichtigsten aller Processe, den Verbrennungsprocess, entdeckt und dargethan zu haben, ist Stahl’s unsterbliches Verdienst.

Wir schätzen die Thatsachen ihrer Unvergänglichkeit wegen, und weil sie den Boden für die Ideen abgeben; den eigentlichen Werth empfängt aber die Thatsache erst durch die Idee, die daraus entwickelt wird. Es fehlten Stahl die Thatsachen, aber die Idee ist sein Eigenthum.

Cavendish und Watt waren beide die Entdecker der Zusammensetzung des Wassers; Cavendish stellte die Thatsachen fest, Watt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_036.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)