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Aufnahme eines Gases (der Kohlensäure) aus der Luft herrührte, welches durch Hitze wieder ausgetrieben werden konnte; als er zeigte, dass die Gewichtsvermehrung dem Gewichte des aufgenommenen Gases entsprach, da begann die Epoche der quantitativen Untersuchung. Das Phlogiston verlor seine Bedeutung, an die Stelle der Idee trat ein festgegliedertes Band von Thatsachen.

Noch heute können viele Chemiker Collectivnamen, ähnlich dem Worte Phlogiston, für Vorgänge, von denen man vermuthet, dass sie in einerlei Classe gehören oder von derselben Ursache bedingt werden, nicht entbehren; aber anstatt hierzu Worte zu wählen, welche Dinge bezeichnen, wie dies bis Ende des 18. Jahrhunderts gewöhnlich war, bedienen wir uns seit Berthollet eigens für diesen Zweck erfundener „Kräfte.“ So giebt es kaum etwas, was gegen die Regeln echter Naturforschung mehr streitet, als die Erfindung und der Gebrauch des Wortes Katalyse oder katalytische Kraft; wir alle wissen, dass in diesem Worte keine Wahrheit liegt; aber die Mehrzahl der Menschen kann, aus Mangel an richtigen Begriffen, des Wortes nicht entbehren, und das Bedürfniss des Ordnens und Zusammenbindens wird demselben auch bei anderen so lange Bestand verleihen, bis die Thatsachen, auf die es sich bezieht, in die ihnen zukommenden richtigen Gefächer eingereiht sind.

Man hat gesagt, dass eine jede Wissenschaft sich in drei Perioden entwickele, die erste sei die der Ahnung oder des Glaubens, die zweite die der Sophistik, die dritte endlich die der nüchternen Forschung. Die Alchemie hält man für die religiöse Periode der Wissenschaft, welche später Chemie hiess. Diese Ansicht ist entschieden falsch für die Chemie, so wie für alle inductiven Wissenschaften. Um das Wesen einer Naturerscheinung zu erforschen, sind dreierlei Bedingungen zu erfüllen. Man muss zuerst die Erscheinungen an sich, nach allen Seiten hin kennen lernen, sodann ermitteln, in welchem Zusammenhang die Erscheinung mit anderen Naturerscheinungen steht; und wenn alle diese Beziehungen entdeckt sind, so besteht die letzte Aufgabe darin, diesen Zusammenhang oder das Abhängigkeitsverhältniss zu messen, d. h. durch Zahlen festzustellen.*)[1] Die Wissenschaft der Chemie umfasst alle Erscheinungen der Körperwelt, welche durch eine gewisse Anzahl derselben Ursachen bedingt werden, und ihre geschichtliche Entwickelung

  1. *) Die Erscheinung des Aufbrausens des Kalksteins und der Pottasche mit Säuren ist seit den ältesten Zeiten bekannt gewesen; erst im 17. Jahrhundert nahm man wahr, dass es von der Entwickelung einer Luftart herrühre, verschieden von der gemeinen Luft, dass diese Luft in Mineralwassern vorkomme, bei der Gährung sich erzeuge und bei der Verbrennung von Kohle entstehe, dass Thiere darin ersticken, Flammen erlöschen. Es vergingen Jahrhunderte, ehe man die Erscheinung des Aufbrausens nach allen Seiten hin erkannt hatte; dann wurde entdeckt, dass die kaustische oder milde Beschaffenheit des Kalks und der Alkalien abhängig sei von der Abwesenheit oder Anwesenheit der Kohlensäure, dass das Erhärten des Kalkmörtels in der Luft von einer Aufnahme von Kohlensäure herrühre; dass die Entwickelung derselben in der Wein- und Biergährung abhängig sei von der Zersetzung des Zuckers etc.; zuletzt wurde sie in ihre Bestandtheile zerlegt, und ihre Zusammensetzung und die Gewichtsverhältnisse ermittelt, in welchen sie sich mit Kalk und Metalloxyden verbindet, so wie das Verhältniss der Abhängigkeit ihres Gaszustandes von der Wärme und dem Druck, ihre specifische und latente Wärme.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_038.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)