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Die Hebung der Krankheit oder der Wiederherstellung der Gesundheit beruht nach Galen auf dem Ersatz der fehlenden Qualität durch Uebertragung, oder in einer Aufhebung der vorherrschenden durch Beraubung.

In diesem folgerichtigen System waren die Krankheit und die Wirksamkeit der Heilmittel auf eine sehr kleine Anzahl von Ursachen zurückgeführt. Die Krankheiten liessen sich, wie die Arzneimittel, in eine gewisse Anzahl von Fächern ordnen; hatte man den Platz erkannt wohin die Krankheit gehörte, so fand der Arzt in dem Gefach gegenüber die geeigneten Mittel, um die Gesundheit wieder herzustellen. Man wusste woher die Krankheit kam, man wusste warum das Mittel heilte.

An die Stelle der Experimentirkunst oder des Erfahrungsweges, welcher Hippokrates von Kos zu einer Fülle von Beobachtungen und einer bewunderungswürdigen Diätetik geführt hatte, trat jetzt die Theorie, die sie in Verbindung brachte, ordnete und erklärte. Das Heilverfahren des koischen Arztes liess sich durch Nachahmung erlernen, das neue System war unendlich geeigneter zum Lehren, das Erlernen war erleichtert.

Die griechischen Philosophen, so wie Galen, hatten keine Vorstellung von den besonderen Eigenschaften, welche zum Vorschein kommen, wenn verschiedenartige Körper sich wechselseitig berühren.

Man bemerkt leicht, dass die Grundidee des Galen’schen Systems vollkommen identisch war mit der, welche den Alchemisten zum Führer diente, die Idee der Verwandelbarkeit der Elementarkörper durch Entziehung oder Uebertragung von Elementarqualitäten. Der Glanz, die Farbe, die Feuerbeständigkeit und Flüchtigkeit konnten hinweggenommen und ersetzt, sie konnten, so glaubte man, erhöht und vermindert werden. Das Gold war das vollkommenste Metall, ihm konnten keine Eigenschaften zugesetzt werden, weil es alle besass; es stellte unter den Metallen den gesunden Menschen dar. „Bringet mir die sechs Aussätzigen,“ ruft Geber (Silber, Quecksilber, Kupfer, Eisen, Blei, Zinn), „damit ich sie heile.“ Das Messing war krankes Gold, das Quecksilber krankes Silber; durch die Medicin der dritten Ordnung konnten sie in Gold verwandelt, d. h. geheilt werden.

Die Entstehung des Goldes wurde der thierischen Zeugung ähnlich betrachtet, oder der Entstehung und dem Wachsthum der Pflanzen. Raymund Lullus vergleicht die Darstellung des Steins der Weisen mit der Verdauung, der Entstehung des Blutes und der Ausscheidung der organischen Säfte.

In ihren Arbeiten hatten die Alchemisten gewisse Besonderheiten in den Eigenschaften der Körper wahrgenommen, welche den griechischen Philosophen unbekannt oder unbeachtet geblieben waren, und es waren allmählich den Elementen des Aristoteles drei neue Elemente hinzugefügt worden, deren Existenz Niemand mehr bezweifelte. Zu den vier Ursachen der physikalischen Beschaffenheit kamen drei Grundursachen der allgemeinsten chemischen Eigenschaften, Mercurius, Schwefel und Salz.

Dem Geiste der frühesten Zeit gemäss, welcher alle nicht sinnlich wahrnehmbaren Ursachen von Thätigkeiten unsichtbaren Geistern, und die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften tastbaren körperlichen Dingen zuschrieb, hielt man den gewöhnlichen Schwefel und das Quecksilber

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_047.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)