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Anwendung chemischer Präparate in der Medicin, mit welcher eine neue Periode dieser Wissenschaft beginnt.

Besass in der That der Stein die metallveredelnde und gesundmachende Eigenschaft in gleichem Grade, so war der kranke Körper ein weit bequemeres Mittel, die Materia prima zu erkennen, und im Verlauf ihrer Bearbeitung ihre Veredelung zu prüfen. Denn die Anzahl von Krankheiten, welche das Präparat zu heilen vermochte, gab ein untrügliches Kennzeichen dafür ab. Je mehr Krankheiten ein Präparat heilte, desto näher stand es in seinen Eigenschaften dem Stein der Weisen. Der wahre Stein musste alle Krankheiten heilen.

Der Arzneischatz der Galen’schen Medicin enthielt keine chemischen Arzneien, und bestand ausschliesslich in organischen Substanzen: Moschus, Rhabarber, Bibergeil, Kampher, Tamarinden, Ingwer, Zittwerwurzel und ähnliche waren die Hauptmedicamente. Die Arzneibereitung bestand in der Kunst, diese Stoffe in die Form von Syrupen oder Latwergen zu bringen; Kräuter, Rinden und Wurzeln wurden in Abkochungen oder Pulvern den Kranken gegeben.

Auf Galen’s Autorität hin waren bis dahin alle metallischen Präparate aus dem Arzneischatz verbannt. Quecksilberpräparate galten ihm unbedingt als Gifte. Avicenna hatte zwar dem Gold und Silber blutreinigende Eigenschaften beigelegt, aber diese Metalle wurden in der Regel nur zu Pillenüberzügen verwendet, und noch zu Ende des 15. Jahrhunderts erfuhr die äusserliche Anwendung der mit Fett bereiteten Quecksilbersalbe den lebhaftesten Widerspruch.

Wenn man in Betracht zieht, dass die Ansichten Galen’s in Beziehung auf die Ursache der Krankheit und die Wirksamkeit der Arzneien dreizehn Jahrhunderte lang als unumstössliche Wahrheiten galten und die ganze Untrüglichkeit von Glaubenssätzen erlangt hatten, so begreift man, welchen Eindruck im 16. Jahrhundert die Entdeckung der wahrhaft wunderbaren Wirkungen der Quecksilber-, Antimon- und der anderen metallischen Präparate auf den Geist der damaligen Aerzte machen musste. Ein ganzes Gebiet neuer Entdeckungen erschien durch die Ideen der Alchemisten und durch die Anwendung chemischer Arzneien aufgeschlossen.

In dem Blute entdeckte man eine Eigenschaft, welche die Alkalien, in dem Magensaft eine Eigenschaft, welche die Säuren besassen. Man nahm in beiden einen Gegensatz wahr, genau entsprechend den Gegensätzen der Galen’schen Qualitäten.

Beim Zusammenbringen der Säuren mit Alkalien entstanden neue Körper von ganz veränderten Eigenschaften, die weder sauer noch alkalisch waren.

An den sogenannten milden Alkalien erkannte man die Eigenschaft des Aufbrausens mit Säuren, und das Wesen aller Gährungen, welches man für abhängig von dem Aufbrausen hielt, schien damit erklärt zu sein.

Man beobachtete Wärmeentwickelung in Flüssigkeiten durch Mischung von Säuren mit Alkalien, ohne dass man eine eigentliche Verbrennung vor sich gehen sah. Die Wärmeentwickelung in dem Respirationsprocess schien damit erklärt zu sein.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_051.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)