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abhängt, dass er wechselt mit den Ursachen der Temperatur und dem Druck, die ihn grösser oder kleiner zu machen streben. Wenn man sich nun denkt, dass an dem Orte, wo sich ein kleines Theilchen Materie, das eigentlich raumerfüllende in einem Körper, befindet, nicht gleichzeitig ein zweites und drittes Theilchen Platz hat, so führt dies von selbst auf die Vorstellung, dass die Vergrösserung oder Verkleinerung des Volumens eines Körpers eine Folge ist von der grösseren oder kleineren Entfernung seiner raumerfüllenden Theilchen. In einem Pfund flüssigen Wassers sind offenbar die Wassertheile näher bei einander als in einem Pfunde Wasser-Dampf, der bei gewöhnlichem Druck einen 1700 mal grösseren Raum einnimmt.

Diese Vorstellung gewährt Einsicht in eine Menge Erscheinungen, welche, gleich einfach, bis jetzt durch keine andere Ansicht erklärbar sind.

Die atomistische Theorie setzt ferner voraus, dass die kleinen Theilchen, woraus die Masse eines Körpers besteht, nicht weiter in kleinere theilbar seien, daher denn der Name Atome für diese kleinsten Theilchen.

Es ist für den Verstand durchaus unmöglich, sich kleine Theilchen Materie zu denken, welche absolut untheilbar sind; im mathematischen Sinne unendlich klein, ohne alle Ausdehnung können sie nicht sein, eben weil sie Gewicht besitzen; allein so klein auch ihr Gewicht angenommen werden mag, wir können die Spaltung des einen Theilchens in 2 Hälften, in 3, in 100 Theile nicht für unmöglich ansehen. Aber wir können uns auch denken, dass diese Atome nur physikalisch untheilbar sind, so dass sie sich nur unserer Wahrnehmung nach so verhalten, wie wenn sie keiner weiteren Theilung mehr fähig wären; ein physikalisches Atom würde in diesem Sinne eine Gruppe von viel kleineren Theilchen sein, die durch eine Kraft oder durch Kräfte zu einem Ganzen zusammengehalten werden, stärker als alle auf den Erdkörper in ihrer weiteren Spaltung uns zu Gebote stehenden Kräfte.

Mit diesen Atomen, und was der Chemiker darunter meint, verhält es sich wie mit seinen Elementen. Die 64 bekannten einfachen Körper sind nur Elemente beziehungsweise zu den Kräften und Mitteln, die uns zu Gebote stehen, um sie in noch einfachere zerfallen zu machen. Wir können es nicht oder jetzt noch nicht, und die Grundsätze der Naturforschung festhaltend, nennen wir sie so lange einfache Körper, bis uns die Erfahrung eines Besseren überführt. Die Geschichte der Wissenschaft ist in Hinsicht auf diese Methode reich an nützlichen Lehren; Rückschritte, Irrthümer und falsche Ansichten ohne Zahl waren stets die unmittelbaren Folgen der Ueberschreitung des Gebietes der Erfahrung. Ohne die Theilbarkeit der Materie in’s Unendliche zu bestreiten, behauptet der Chemiker nur den festen Grund und Boden seiner Wissenschaft, wenn er die Existenz physikalischer Atome als eine ganz unbestreitbare Wahrheit annimmt.

Ein Tübinger Professor (Gmelin) hat diese Ansicht durch ein geistreiches Bild versinnlicht; er vergleicht die Atome mit den Himmelskörpern, die in Beziehung zu dem Raum, in welchem sie schweben, unendlich klein, d. h. Atome sind. Alle diese unzähligen Sonnen mit ihren Planeten und Trabanten bewegen sich in abgemessenen Entfernungen von einander;

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_066.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)